Carmen Schier, Elke Schwinger (Hrsg.): Interdisziplinarität und Transdisziplinarität [...]
Rezensiert von Prof. Dr. Ute Straub, 18.08.2015
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Carmen Schier, Elke Schwinger (Hrsg.): Interdisziplinarität und Transdisziplinarität als Herausforderung akademischer Bildung. Innovative Konzepte für die Lehre an Hochschulen und Universitäten. transcript (Bielefeld) 2014. 250 Seiten. ISBN 978-3-8376-2784-8. D: 32,99 EUR, A: 34,00 EUR, CH: 43,70 sFr.
Thema
Welche Anforderungen werden aktuell an akademische Bildung gestellt? Die ökonomische Verwertbarkeit von Bildung hat sich in den Vordergrund gedrängt, sowie „…ein pragmatisches Bildungsverständnis, das sich vor allem in der Standardisierung von Bildungsinhalten und deren Reduzierung auf abprüfbare Kompetenzen zeigt“ (Schier, S. 30 – alle Zitate entstammen dem besprochenen Band). Sind Interdisziplinarität und Transdisziplinarität ein Weg, dem etwas entgegenzusetzen? Die zentrale Frage des Sammelbandes ist, wie interdisziplinäre Lehre aussehen muss, damit sie ein soziales und nachhaltiges Orientierungswissen an zukünftige Führungskräfte vermitteln kann.
Entstehungshintergrund
Der Sammelband enthält die verschriftlichten Vorträge der Tagung „Wege zu interdisziplinärer Lehre und transdisziplinärer Bildung. Wunsch und Wirklichkeit“, die im Oktober 2013 an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Coburg stattfand. Dort wurde im Wintersemester 2012/ 13 ein Projekt zu fächerübergreifendem Studieren für Anfangssemester ins Leben gerufen, der sogenannte „Coburger Weg“. In sieben Bachelorstudiengängen werden vier interdisziplinäre Pflichtmodule angeboten, wobei die Vermittlung von kultureller Bildung und Wissenschaftsmethodik im Mittelpunkt steht.
Autoren und Autorinnen
Die 30 Autoren und Autorinnen vertreten – wie bei dem Thema nicht anders zu erwarten – die unterschiedlichsten Disziplinen und Fächer von der Anthropologie über die Ingenieurwissenschaften bis zu Pädagogik. Entsprechend vielfältig sind die vorgestellten Perspektiven und Ansätze, deren Spektrum die Themenfelder Müllverwertung in Kooperation von Design- und Technikfachbereichen, Peer Tutoring als Lernmethode, die Kooperation zwischen Hochschule und Jugendverband und Versicherungswirtschaft als „Interdisziplin“ umfassen. Auch die Form der einzelnen Beiträge fällt sehr unterschiedlich aus, teilweise sehr ins Detail gehend, teilweise auch sehr persönlich. Ein wesentliches Prinzip der Aufsatzsammlung ist, dass das jeweilige Verständnis von Interdisziplinarität „… in den einzelnen Aufsätzen aufgrund der Vielfalt von begrifflichen Auslegungen im allgemeinen Wissenschaftsdiskurs immer spezifisch definiert [wird]“ (Schier/ Schwinger, S.18).
Aufbau
In vier Kapiteln werden folgende Themen abgehandelt
- Interdisziplinarität und transdisziplinäre Bildung: eine begriffliche Annäherung: Hier geht es unter anderem um das gegenwärtige Bildungsverständnis, eine wissenschaftshistorische Begründung interdisziplinärer Lehre und die Frage nach den Freiräumen für Kreativität und Persönlichkeitsentwicklung, die interdiszipliäre Projekte bieten.
- Nachhaltigkeit als fachübergreifendes Bildungsziel: Nachhaltigkeit als Querschnittsthema wird ausgehend von einer philosophischen Betrachtung in verschiedenen konkreten Projekten im Hinblick auf pädagogische und didaktische Fragen beleuchtet.
- Organisation, Struktur und institutionelle Verankerung interdisziplinärer Lehre: Wie können interdisziplinäre Lehrprogramme organisatorisch verankert werden? Eines der Beispiele, die in diesem Kapitel vorgestellt werden, ist der o.g. „Coburger Weg“.
- Formate interdisziplinärer Lehre und transdisziplinärer Bildung: Die konkrete Darstellung verschiedener Lehrkonzepte gibt einen Einblock in die themen- und fachspezifischen Rahmenbedingungen und Anforderungen.
Ausgewählte Inhalte
Im Hinblick auf die LeserInnenschaft dieser Rezension wird auf drei Aufsätze, die näher eingegangen:
1. Normative Voraussetzungen transdisziplinärer Hochschullehre - Ethische Grundhaltung und kritische Urteilskraft (Elke Schwinger, S. 107-122) Hier stehen nach Aussagen der Verfasserin Begriffsklärungen und Grundsatzüberlegungen im Vordergrund, weswegen offen bleibt, wie die konkreten Umsetzung der angesprochenen Ansätze aussieht. Wesentlich für die Ausführungen sind der Aspekt „Persönlichkeitsbildung“ sowie ein Bildungsbegriff, der sich am Humbold´schen Ideal orientiert (und es „republikanisch erweitert“, d.h. das Ziel ist die Vermittlung eines demokratischen Ethos). Hervorgehoben wird, dass Zielsetzung der Bologna-Reform nicht nur die viel zitierte employability beinhaltet, sondern auch die meist unterschlagene citizenship, also die Befähigung, sich aktiv an der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens zu beteiligen. Dieses Ziel wird auf Transdisziplinarität bezogen: „Transdisziplinär orientierte Hochschullehre wird... im Rahmen eines didaktischen Konzepts definiert, das gesamtgesellschaftliche Bezüge der Fachstudiengänge bewusst in den Blick nimmt und explizit ethisch-politische Implikationen beinhaltet“ (S. 109). Anhand der Thematik „Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)“ wird aufgezeigt, wie sich die Bereiche Klimawandel, Umweltschutz und internationale Gerechtigkeit im Kontext von Nachhaltigkeit in transdisziplinärer Lehre verknüpfen können.
2. Von Stolper- und Meilensteinen im Feld der interdisziplinären Lehre. Kulturanalytische Perspektiven auf organisationale Herausforderungen am Beispiel des Projektes „Coburger Weg“ (Claudia Schlager, S. 197-210) Mit den konkreten Fragen der Umsetzung befasst sich Claudia Schlager. Von der Stellung des Förderantrags für den „Coburger Weg“ und seine transdisziplinären Lehrprojekte über die einjährige Implementierungsphase und ihre Herausforderungen bis zum Stand der laufenden Projekte werden die organisationalen Herausforderungen vorstellt. Dabei wird der forschende Blick einer kulturanthropologischen Unternehmensethnografie eingenommen: aus einer subjektzentrierten Perspektive auf die Hochschule als Arbeitswelt und Betrieb werden die entsprechenden Transformationsdynamiken analysiert. Dies erfolgt aus der Position einer starken Eingebundenheit in das Projekt (als wissenschaftliche Koordinatorin des Konzeptes) und wenn dies auch – nach Aussage der Verfasserin – den Standards qualitativer empirischer Sozialforschung nicht standhalten würde, so eröffnet sich doch ein authentischer und spannender Einblick in die Dynamik, vor allem im Hinblick auf die widerstreitenden Anforderungen an Autonomie und Freiheit der Lehre einerseits und fakultäts- und statusgruppenübergreifenden Rahmensetzungen auf der anderen Seite.
3. Peer Tutoring als effektive Lernmethode (Verena Henkel/ Susanne Schwarz/ Simone Tschirpke, S. 237-246) „Peer-Tutoring“ ist ein seit 2012 implementiertes Projekt des Zentrums für Schlüsselkompetenzen und Forschendes Lernen an der Europa Universität Vidriana (EUV). Peer-Tutoring wird als Lernmethode verstanden, die sowohl die TutorInnen wie die Tutees zu selbstorganisiertem Lernen befähigt. Studierende unterschiedlicher Fakultäten werden in vier Modulen dazu angeleitet, ihre eigenen Schlüsselkompetenzen reflektieren und ausbauen. Auf dieser Grundlage und einer anschließenden Qualifizierung in verschiedenen Bereichen (u.a. Schreiblern-Peer TutorInnen, Sprachlern-Peer TutorInnen, interkulturelle Peer TutorInnen) sind sie in der Lage, KommilitonInnen Unterstützung anzubieten. Die „Formate“ sind: 1:1-Beratung (Eingehen auf individuelle Fragen und Probleme), Workshops (in denen in Gruppen das Handwerkszeug zum Lernen ausprobiert und reflektiert wird) und Studiergruppen (gemeinsames Lernen von deutschen und internationalen Erstsemestern, vor allem Hilfe bei Orientierungsprobleme beim Übergang in die Universität) – die Konzipierung neuer Formate ist anvisiert. Ein grundlegender Aspekt des Projektes ist, dass die TutorInnen nicht als „Ersatzlehrende“ angesehen werden, sondern „anhand verschiedener Methoden und Techniken die Lern-, Denk- und Reflektionsprozesse (der Tutees) anregen... Beide Seiten profitieren vom bewussten Austausch von Lernerfahrungen“ (S. 239). Wesentlich ist weiterhin, dass die Ausbildung zum Peer Tutor mit ECTS vergütet und einem Zertifikat abgeschlossen wird.
Diskussion
Der in dieser Publikation vorgestellten Ansätze aus der Praxis einer inter- und transdisziplinären Lehre beeindrucken durch ihre Vielfalt. Die AutorInnen verstehen sie einerseits als Gegenentwurf zum reinen Employability-Konzept. Andererseits wird auch immer wieder betont, dass interdisziplinäres Denken eine Anforderung am heutige HochschulabsolventInnen sei: „Eine immer dynamischere, komplexere Gesellschaft erfasst mit ihren vielschichtigen Problemstellungen und Transformationen zwangsläufig auch unsere heutige Arbeitswelt – gesucht sind daher Hochschulabsolventen mit Aufgeschlossenheit für neue fachliche Perspektiven und Arbeitstechniken für fachübergreifende Kooperationen“ (Buchholz-Schuster, S. 23). Die Ambivalenz, Inter- und Transdisziplinarität als Widerstand gegen eine stromlinienförmige akademische Ausbildung zu interpretieren, andererseits damit aber auch wieder den Anforderungen des Arbeitsmarktes entgegenzukommen, hätte intensiver diskutiert werden können.
Kritisch anzumerken ist, dass die Aufsätze für Fachfremde zum Teil schwer nachvollziehbar sind und die Frage „Sprechen Sie interdisziplinär“ (Lerch, S. 79) nicht durchgängig mit ja beantwortet werden kann.
Fazit
Deutlich wird: Interdisziplinäre Ansätze haben an den Hochschulen und Universitäten Eingang gefunden, allerdings eher in Nischen als im Mainstream der Lehre. In der Mehrzahl befinden sie sich noch in der Erprobungsphase und haben nicht nur mit organisatorischen Schwierigkeiten zu kämpfen, sondern auch mit der Widerständigkeit von Kolleginnen, die es zum Beispiel – das ist durchaus zu diskutieren – als Eingriff in die Freiheit der Lehre empfinden, wenn fachübergreifend ein verbindliches Lehr- oder Prüfungsformat vorgegeben wird.
Insgesamt bietet der Sammelband einen eindrucksvollen Einblick in den aktuellen Diskurs um Interdisziplinarität und Transdisziplinarität sowohl auf der wissenschaftstheoretischen wie auf der organisatorisch-didaktischen Ebene. Deshalb sei dieser Band alle jenen Le4hrenden empfohlen, die sich mit dem Gedanken tragen, ihre fachspezifische Lehre interdisziplinär zu erweitern.
Rezension von
Prof. Dr. Ute Straub
Frankfurt University of Applied Sciences
Fachbereich 4: Soziale Arbeit und Gesundheit
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Es gibt 9 Rezensionen von Ute Straub.
Zitiervorschlag
Ute Straub. Rezension vom 18.08.2015 zu:
Carmen Schier, Elke Schwinger (Hrsg.): Interdisziplinarität und Transdisziplinarität als Herausforderung akademischer Bildung. Innovative Konzepte für die Lehre an Hochschulen und Universitäten. transcript
(Bielefeld) 2014.
ISBN 978-3-8376-2784-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17822.php, Datum des Zugriffs 10.12.2023.
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