Dominique Schirmer, Nadine Sander et al. (Hrsg.): Die qualitative Analyse internetbasierter Daten
Rezensiert von Dominic Kudlacek, 18.02.2015
Dominique Schirmer, Nadine Sander, Andreas Wenninger (Hrsg.): Die qualitative Analyse internetbasierter Daten. Methodische Herausforderungen und Potenziale von Online-Medien. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (Wiesbaden) 2014. 250 Seiten. ISBN 978-3-658-06295-8. D: 34,99 EUR, A: 35,97 EUR, CH: 44,00 sFr.
Thema und Entstehungshintergrund
Die Spuren, die Menschen im Internet hinterlassen, sind nicht nur für Geheimdienste von Interesse (und zuweilen auch von Relevanz). Auch die Sozialwissenschaften haben das Internet in den letzten Jahren zunehmend als Datenquelle entdeckt. Der Fokus methodologischer Arbeiten lag – zumindest in Deutschland – jedoch sehr lange fast ausschließlich auf technischen Aspekten. Die Online-Forschung hat das Internet also lange Zeit nur als Instrument der Datengewinnung, nicht jedoch als Datenquelle behandelt. Mittlerweile liegen daher zahlreiche Lehr- und Handbücher vor, in denen internetgestützte Befragungstechniken (bspw. Fragebogenversand per Mail oder Computer Assisted Web Interviewing [CAWI]) methodisch reflektiert werden. [1] Beiträge, in denen das Internet als Quelle von Daten behandelt wird, liegen jedoch erst seit kurzem vor. [2] Der von Dominique Schirmer, Nadine Sander & Andreas Wenninger herausgegeben Sammelband „Die qualitative Analyse internetbasierter Daten“ widmet sich diesem weniger gut erschlossenen Bereich der Online-Forschung und thematisiert – zumindest überwiegend – die Herausforderungen und Potenziale der Beschaffung und Auswertung von qualitativen Daten, die im Internet verfügbar sind. Das Buch erscheint in Folge des gleichnamigen Symposiums, das 2012 vom Institut für qualitative Sozialforschung Freiburg (iqs) veranstaltet wurde.
Aufbau und Inhalt
Der Band umfasst insgesamt neun Beiträge.
(1) Der erste Aufsatz wurde von Dominique Schirmer, Nadine Sander und Andreas Wenninger verfasst und trägt den Titel „Herausforderungen und Potenziale von Online-Medien für die qualitative Forschung – Eine Einführung“. Diesem Titel entsprechend folgt dann auch eine echte und vor allem gelungene Einführung in die Thematik und nicht nur eine Inhaltsangabe der folgenden Beiträge – was für einen Sammelband an dieser Stelle nicht unüblich gewesen wäre.
Die Herausgeberinnen und der Herausgeber verweisen hier auf zahlreiche Vorteile der Nutzung internetbasierter Daten für die Sozialforschung. So ist beispielsweise ein „wichtiger Teil der Datenerhebung – die Aufzeichnung – […] schon inklusive“ (S. 7). Zugleich werden hier aber auch methodische Probleme angesprochen, die bei der Nutzung von internetbasierten Daten entstehen. „Wie ist bei der Auswahl internetbasierter Medien vorzugehen? Wie sind deren Inhalte zu analysieren? Wie sieht eine Kontextanalyse im Internet aus? Wie weit kommt man mit gängigen Methoden? Welche neuen Möglichkeiten bieten sich?“ (S. 8). Neben diesen eher „technischen“ Problemen werden zudem inhaltliche Komplikationen behandelt, die sich im Zusammenhang mit der Nutzung internetbasierter Daten ergeben können: „In welchem Verhältnis stehen Fiktionalität und Konstruktion zu den Entstehungskontexten von Daten? Welche Formen der Selbstpräsentation legen unterschiedliche Medien nahe? Welche Bedeutung haben klassische Begrifflichkeiten qualitativer Methodologien, wie z. B. Rekonstruktion von (subjektivem) Sinn, Fallstruktur oder konjunktiver Erfahrungsraum bezogen auf soziale Medien?“ Da es sich hierbei um die Fragen handelt, die der Band als Ganzes behandelt, kommt es an einigen Stellen zu inhaltlichen Dopplungen mit den anderen Kapiteln des Buches.
(2)Im zweiten Beitrag des Bandes fordert Stefan Meißner mehr Offenheit für neue, onlinegestützte Methoden in der qualitativen Sozialforschung.
(3)Andreas Wenninger erläutert in seinem Beitrag das sequenzanalytische Vorgehen im Zusammenhang mit der objektiven Hermeneutik anhand einer Analyse von Beiträgen, die im wissenschaftlichen Portal ScienceBlogs gepostet wurden.
(4) Dominique Schirmer diskutiert im vierten Beitrag des Bandes zunächst mögliche Auswahlstrategien für die internetbasierte qualitative Sozialforschung. „Das vielfach geäußerte Argument der nicht zu überblickenden und kaum handhabbaren Masse von Material im Internet weist die Autorin zurück, da es bei jeder empirischen Untersuchung notwendig sei, den Fokus radikal auf einen kleinen und bewältigbaren Ausschnitt sozialer Wirklichkeit einzustellen.“ (S. 20ff.). Der Titel diese Aufsatzes „Ehe für Alle – Gleichstellung oder Geschlechterkampf“ ist den Inhalten der Studie geschuldet anhand derer sie die Methodik beschreibt.
(5) Carsten G. Ullrich und Daniela Schiek, die vor kurzem selbst eine Tagung mit dem Titel Qualitative Online Erhebungen an der Universität Duisburg Essen organisiert haben, behandeln in ihrem Beitrag die Auswertung von Forumsdiskussionen (als reaktives Instrument der Sozialforschung).
(6) Nadine Sander und Miklas Schulz beschreiben in ihrem Aufsatz eine rekonstruktive Auswertung von Diskussionsbeiträgen, die auf Twitter und Facebook veröffentlicht wurden. Dabei verdeutlichen Sie „wie sensibel und störungsanfällig die Stimmungen in solchen Diskussionsrunden sind (ähnlich wie in Face-to-Face-Diskussionen) und was passieren kann, wenn unterschiedliche Aneignungsweisen – und damit Regelverständnisse – aufeinandertreffen.“ (S. 195). Zudem weisen sie darauf hin, dass die technischen Gegebenheiten unter denen im Internet diskutiert wird, bei der Auswertung der Daten nicht unterschätzt werden sollte.
(7) Michael Corsten und Holger Herma kommen im Beitrag „Internetbasierte Daten als sprachsoziologisches Rätsel“ zu dem Ergebnis, dass „Internetdiskurse […] immer eine Gradwanderung am Rande des Selbstmissverständnisses“ darstellen. „Sie suggerieren öffentliche Präsenz, verweisen aber stets auch auf Anschlüsse, die innerhalb der von ihr hergestellten Öffentlichkeit nicht mehr transparent gemacht werden können.“ (S. 225).
(8) Bettina Frei stellt in ihrem Aufsatz das Methodenrepertoire der Ethnografie vor und beschreibt mögliche Kombinationen von online und offline erhobenen Daten anhand einer Untersuchung der Kommunikation zwischen Migranten und Migrantinnen aus Kamerun. Dabei kommt sie unter anderem zu dem Ergebnis, „dass die Annahme, Medien würden à priori soziale und emotionale Nähe über Distanz trotz physischer Abwesenheit schaffen, kritisch reflektiert werden muss. Kommunikationstechnologien werden nicht nur dazu verwendet, emotionale oder soziale Nähe zu schaffen, sondern ebenso zur Kontrolle und Distanzierung“ (S. 254).
(9) Jann-Hendrik Passoth fordert im abschließenden Beitrag „Mit Stift und Papier in digitalen Welten? Digitale Daten und die epistemischen Regime“ eine „Wissenschafts- und Technikforschung der Medienforschung“ (S. 276).
Fazit
Der Sammelband widmet sich einem höchst aktuellen Thema der empirischen Sozialforschung, das zukünftig sicher noch an Bedeutung gewinnen wird. Wer sich für qualitative Forschungsmethoden interessiert, wird die Lektüre des Bandes lohnenswert und sehr spannend finden. Besonders lesenswert ist der Beitrag von Dominique Schirmer, Nadine Sander und Andreas Wenninger, da er das Thema als Ganzes behandelt. Die übrigen Beiträge sind besonders für solche Leser und Leserinnen empfehlenswert, die daran interessiert sind, die jeweils beschriebene Methode selbst anzuwenden.
[1] Zu erwähnen ist hier bspw. der Methodenklassiker von Don A. Dillman, Jolene Smyth & Leah Christian (Hrsg.). „Internet, Mail, and Mixed-Mode Surveys: The Tailored Design Method.“ (John Wiley & Sons [Hoboken] 2008. 512 Seiten. ISBN 978-0471698685) oder das erst vor kurzem erschienene „Handbuch Online-Forschung“ von Martin Welker, Monika Taddicken, Jan-Hinrik Schmidt & Nikolaus Jackob (Hrsg.) (Halem [Köln] 2014. 592 Seiten. ISBN 978-3-86962-090-9).
[2] Zu erwähnen ist zum Bespiel das von Jackob Nikolaus, Harald Schoen & Thomas Zerback herausgegebene Buch „Sozialforschung im Internet.“ (VS Verlag für Sozialwissenschaften [Wiesbaden] 2009. 370 Seiten. ISBN 978-3-531-16071-9) sowie einige Bände der Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Online-Forschung (DGOF) e. V..
Rezension von
Dominic Kudlacek
Sozialwissenschaftler (Dipl.) an der Bergischen Universität Wuppertal, Fachgebiet Bevölkerungsschutz, Katastrophenhilfe und Objektsicherheit
Es gibt 5 Rezensionen von Dominic Kudlacek.
Zitiervorschlag
Dominic Kudlacek. Rezension vom 18.02.2015 zu:
Dominique Schirmer, Nadine Sander, Andreas Wenninger (Hrsg.): Die qualitative Analyse internetbasierter Daten. Methodische Herausforderungen und Potenziale von Online-Medien. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
(Wiesbaden) 2014.
ISBN 978-3-658-06295-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17823.php, Datum des Zugriffs 12.10.2024.
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