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Siegfried Tasseit: Alkoholismus und Sozialstruktur

Rezensiert von Arnold Schmieder, 19.12.2014

Cover Siegfried Tasseit: Alkoholismus und Sozialstruktur ISBN 978-3-89783-798-0

Siegfried Tasseit: Alkoholismus und Sozialstruktur. Roderer Verlag (Regensburg) 2014. 276 Seiten. ISBN 978-3-89783-798-0. D: 24,95 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 35,50 sFr.

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Thema und Aufbau

Um die veränderte Rate an Alkoholkranken in Ostdeutschland nach 1989 deuten zu können, was auch verlangt, nicht nur die manifesten Formen des Missbrauchs in den Blick zu nehmen, zieht der Verfasser im ersten Teil seines Buches Durkheims Studie zu den unterschiedlichen Selbstmordraten bei Katholiken und Protestanten als Interpretationsfolie heran. Hier untersucht er nach eigener Aussage die ‚Makro-Ebene‘ gesellschaftlicher Entwicklung. Suizidalität in Deutschland wird dabei thematisiert und im Anhang für die Jahre 1988 bis 1997 detailliert dokumentiert.

Im zweiten Teil des Buch wendet er sich der so genannten ‚Meso-Ebene‘ zu, wobei er die ambulanten Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe als Anlaufstellen für Betroffene dahin gehend untersucht, ob sie mehr den Charakter von Institutionen haben oder sozialen Gruppen, ob und wie sie unter organisationssoziologischen Blickwinkel zu fassen sind oder aber das Konzept der ‚sozialen Hybriden‘ ihre Funktionsweise nicht nur erklärt, sondern auch für erfolgreiche Beratung angezeigt ist.

Inhalt

Unter dem Titel, „Statt eines Vorworts: Der Forschungsbericht“, was wohl als einleitende Informationen des Verfassers zu verstehen ist, beginnt Tasseit mit dem „Entdeckungszusammenhang“, womit er kurzen Einblick in die Entstehungsgeschichte seines Werkes gibt, um mit einem Methodenkapitel fortzufahren, worauf ein kurzer Einblick in seine Forschungsziel folgt und in die Abschnitte seiner beiden Kapitel, um im Anschluss daran die Begriffe Sozialstruktur, Sucht und Abhängigkeit sowie Missbrauch zu klären, was durch die Definition von Alkoholismus als Krankheit abgerundet wird.

Im ersten Kapitel geht der Autor auf den Zusammenhang von Alkoholismus und Suizidalität ein, um im Anschluss die Frage zu stellen, ob eine McDonaldisierung im Sinne von Ritzer auch als Form der Rationalisierung (im Sinne von Max Weber) auch die Alkoholismus-Behandlung erreicht habe, um diese Frage auf inzwischen nachgefragte Internettherapien zu wenden, wovor er nicht nur wegen einer Deprofessionalisierung warnt, sondern auch wegen der ungesicherten Zugänglichkeit zu Internet-Informationen (das Postkarten-Problem).

Im zweiten Kapitel stehen Suchtberatungsstellen und ihr – soziologischer – Status im Mittelpunkt, um diese Problematisierung dann auf das Konzept der sozialen Hybriden zu fokussieren, was im letzten Abschnitt zusammengefasst wird, wobei abschließend noch die Geschichte der Suchtkrankenhilfe in der DDR erwähnt wird. Nach Einschätzung von Tasseit war „mit dem Ende der DDR der Abbruch des ersten Versuches eines integrativen Versorgungssystems mit ambulanten, tagesklinischen, teilstationären, kurz-, mittel- und langfristigen Behandlungsangeboten verbunden.“ Auch hält er u.a. fest, dass „eine durchgängige Abneigung der Therapeuten gegenüber dissozialen Abhängigen festzustellen war“. (S. 236)

Diskussion

Der Titel des Buches lässt erwarten, dass der Autor eine schichtenspezifische und ggf. berufsspezifische Verteilung von Alkoholismus-Raten vorstellt und Veränderungen (resp. Unterschiede zur ehemaligen DDR) darstellt und auf dem Hintergrund eines sozialen Wandels abbildet oder gar erklärt, dies mit Blick auf sozioökonomische Prozesse, was sich entlang Webers Begriff der Rationalisierung differenzierungstheoretisch hätte bewerkstelligen lassen oder aber jenen von Ritzer übernommenen griffigen Begriff einer McDonaldisierung inhaltlich weiter ausgefüllt hätte, was sich im Verweis auf „wenig gehaltvolle und auf längere Sicht ungesunde Ernährungsweise, die Umweltverschmutzung durch Wegwerf-Verpackungen oder die Veränderungen im Verhalten von Familien und in der Esskultur mit einem geringer gewordenen Anteil gemeinsam eingenommener Mahlzeiten“ etwa nicht erschöpft. (S. 93 f.) – Durkheims Hinweis auf stärkere soziale Kontrolle und größere soziale Integration bei Katholiken als Ursache einer geringeren Selbstmordquote hätte (auch) ein Fingerzeig sein können.

Ebenso wie der Begriff Sozialstruktur wohl anders unterlegt und aufgefasst wird als bei u.a. König, Galtung und auch Schäfers, auf die sich der Autor beruft (vgl. S. 11 f.), wird auch nicht durchgehend deutlich, warum er sich mit solchen Nachdruck methodisch auf Atteslander, für die ältere Soziologengeneration mit seinem Bändchen „Methoden empirischer Sozialforschung“ Nestor dafür, auch die (längst praktizierte) teilnehmende Beobachtung als Erkenntnisinstrument anzuwenden, und auf Girtler als bekanntem Aushängeschild qualitativer Sozialforschung bezieht (vgl. S. 2 ff.), wiewohl er nach eigenem Bekunden tatsächlich therapeutisch und beratend tätig war, seine Arbeit aber vor allem auch sekundäranalytisch aufnimmt bzw. Studien vorstellt, wie sein opulentes Literaturverzeichnis belegt.

Sein soziologisches Interesse gilt vor allem Suchtberatungsstellen. Bei kleineren Einrichtungen sei nicht zu übersehen, „dass in den sozialen Strukturen wie auch in den Prozessen zugleich viel Gruppenhaftes aufscheint“ (S. 179), was ihn vermuten lässt, dass Einrichtungen zur Behandlung des Alkoholismus einen „Typus sozialer Systeme als ein Zwitter aus Gruppe und Organisation darstellen.“ (S. 183) Auf den Punkt bringt er seine Überlegungen da, wo es um die Handlungsfähigkeit von Teams in solchen Einrichtungen geht und dabei nicht um die Unterdrückung von Gefühlen und Affekten, sondern darum, „forcierte Emotionalisierung der Mitgliederbeziehungen zu steuern und zu kanalisieren, demnach: wiederum organisationstypisch zu reagieren. Und beides zusammen: das Organisationsförmige und das Primärgruppehafte machen den Typus der sozialen Hybriden aus.“ (S. 201) Cui bono? Sicher eine (nicht neue und nicht überraschende) wissenschaftliche Erkenntnis, zugleich die Beschreibung einer strukturellen Grundlage für Turbulenzen, die jedem in der Sozialarbeit Tätigen sattsam bekannt sind. Der Schutzschild aus Professionalisierung und gegen alle äußeren wie inneren Widerstände aufrecht erhaltenen Engagements mögen da die Antipoden sein, zwischen denen man sich zu bewegen gezwungen ist und was man – z.T. leidvoll – zu lernen hat. Doch diesem Problem widmet sich der Autor nicht weiter, ist es doch auch nicht im missverständlichen Titel des Buches annonciert, ist es auch nicht expliziter Gegenstand seiner Sicht auf ambulante Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe, gleichwohl aber deren neuralgischer Punkt.

Fazit

Wer ganz allgemein was über Alkoholismus und die mit ihm verbundenen Fragen der organisatorischen Ausrichtung einer Behandlung sowie die – i.d.H. soziologische – Problematik von Suchtberatungsstellen erfahren möchte, wird diesem Buch seine Aufmerksamkeit schenken.

Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 19.12.2014 zu: Siegfried Tasseit: Alkoholismus und Sozialstruktur. Roderer Verlag (Regensburg) 2014. ISBN 978-3-89783-798-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17845.php, Datum des Zugriffs 10.12.2023.


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