Matthias Becker: Mythos Vorbeugung (Gesundheit)
Rezensiert von Arnold Schmieder, 12.12.2014

Matthias Becker: Mythos Vorbeugung. Warum Gesundheit sich nicht verordnen lässt und Ungleichheit krank macht. Promedia Verlagsgesellschaft (Wien) 2014. 222 Seiten. ISBN 978-3-85371-374-7. D: 17,90 EUR, A: 17,90 EUR, CH: 25,90 sFr.
Thema
Titel und mehr noch der Untertitel geben präzise das Thema an, versteht man Mythos im wortursprünglichen Sinne als Erzählung, in der Menschen das Verständnis ‚ihrer‘ Welt und daraus vermittelt ihr Selbstverständnis zum Ausdruck bringen. Heute spricht man da eher von Narrativen, von Sinngebungen oder -stiftungen für den Zweck individueller Orientierungen in Bezug auf Verhältnisse und Verhalten. Dass solche Orientierungen im Hinblick auf Vorbeugung gegen Krankheit und Erhaltung von dem, was als Gesundheit gilt, durch Interessen unterlegt sind, ebenso ökonomischen wie solchen, die der Herstellung gut funktionierender Sozialcharaktere dienen, macht Becker deutlich und belegt dies umfänglich. Sein Hauptargument dabei ist, dass nicht nur und unübersehbar Armut krank macht, sondern Krankheitsgeschehen ganz allgemein zuvörderst aus sozialen Verhältnisse erwächst, an denen Prävention eben nicht ansetzt.
Aufbau und Inhalt
Der Autor beginnt mit Sonja, einer fiktiven Alleinerziehenden, Verkäuferin in einer großen Tankstelle, angestellt über eine Leiharbeitsfirma. Die junge Frau ist sozial nicht sonderlich gut vernetzt und legt eben jenes typisch gesundheitsriskante Verhalten an den Tag, das im Fadenkreuz von Gesundheits- und Vorbeugekampagnen steht. Immer wieder kommt er auf Sonja und ihre Lebensverhältnisse zurück und macht daran deutlich, wie kurzsichtig und hilflos alle präventiven Bemühungen sind und bleiben werden, ob es um Tabakkonsum geht oder den von Alkohol, um Bewegungsmangel, Ernährungsgewohnheiten und dabei zusätzlich um Früherkennung von Krankheiten und Diagnostik allgemein. Er meint und prognostiziert, dass die „präventive Wende“ politisch erfolgreich ist, weil sie die „Krankheitslast“ und Kosten für das Gesundheitswesen zu senken verspricht; aber „dieser Versuch wird scheitern. Für kaum eine vorbeugende Maßnahme gibt es gute medizinische (oder auch nur wirtschaftliche) Argumente. Viele sind im besten Fall sinnlos, manche sogar schädlich.“ (S. 13)
Becker geht davon aus und holt in der Folge dieses Argument ein, dass für Gesundheit ein Kraut gewachsen ist, „das Gleichheit heißt“, und darum dringt er auf eine „medizinisch fundierte Erklärung des sozialen Gradienten, ohne die gesundheitspolitische Entscheidungen nicht möglich sind.“ (S. 16 f.) Wissen um die hohe Relevanz dieses sozialen Gradienten ist durchaus vorhanden und man kann oder könnte darauf zurückzugreifen. Um dies zu verdeutlichen, beginnt der Verfasser mit dem Beispiel der (Fleckfieber-)Forschungen von Virchow und skizziert medizinhistorische Zwillingsbahnen, nämlich der Sozialmedizin einerseits und der eher mit naturwissenschaftlichem Blick (nicht nur durchs Mikroskop) Ursachen lokalisierenden Forschung andererseits. Seuchenepidemiologisch erkannte Virchow durchaus die desolaten ökonomischen und sozialen Zustände als Ursachen, blieb aber als Miasmatiker alten Vorstellungen von ‚schlechter Luft‘ u.ä. verhaftet, während Kontagionisten wie Pasteur oder Koch von einer Ansteckung von Mensch zu Mensch ausgingen und daher mit seinerzeit modernen Methoden auf Spurensuche nach Krankheitserregern gingen. Dass sich diese Zwillingsbahnen trafen und bis auf den heutigen Tag treffen, wird in der zugespitzten Bemerkung von Pasteur deutlich: „‚Die Mikrobe ist nichts, das Milieu ist alles.‘“ (S. 38) Warum und wie die Möglichkeiten und Grenzen von sozialmedizinischen und sozialhygienischen wie kurativen Interventionen und Maßnahmen erschöpft oder erreicht sind, wann und warum geringere Mortalitätsraten gegen höhere Morbiditätsraten eingetauscht werden, ist die Grundlage für die folgenden Kapitel über Vorbeugung, Früherkennung, Stress, das Gesundheitsdiktat allgemein und soziale Ungleichheit.
Seuchen sind – vorläufig – überwunden und wir leben, so der Demograph Omran, im „Zeitalter der degenerativen und gesellschaftlich bedingten Krankheiten“ (S. 67), was besonders da zum Problem der kurativen Medizin wird, wo ‚negativer Stress‘ ursächlich ist, was nicht so recht fassbar ist und unter Multikausalität rubriziert wird, was letzten Endes, so Becker, Ratlosigkeit signalisiere und bedeute, dass die Medizin „im Kampf gegen die chronischen Krankheiten gegen einen Gegner“ antrete, „den sie nicht einmal in Umrissen erkennt.“ Das Zauberwort für die Genese chronischer Erkrankungen sei ‚Risikofaktoren‘, und davon gäbe es „beliebig viele und beliebig kombinierbar“, die alle durch Prävention abgewehrt werden sollen, was aber Risiken und Nebenwirkungen berge und unter dem Strich bedeute: „Vorbeugen kann Schaden anrichten.“ (S. 69 f.) Zu denken gibt auch, dass Mortalität durch medizinische Untersuchung befördert werden kann, was Früherkennung in einen anderen Blickwinkel rückt.
Dass Labor- und Messwerte ebenso wichtig wie bedeutungslos sein können, der diagnostische Blick der erfahrenen praktischen Ärztin oder des Arztes hier von Pseudoobjektivität abgeschattet wird, dass überflüssigerweise Steuergelder in die Pharmaindustrie und allenthalben im Gesundheitssektor abgegriffen werden, ist so neu nicht, verweist aber bei genauem Hinsehen und bei exakter Vorstellung und kritischem Vergleich von Forschungsergebnissen darauf, dass Früherkennung mit „stumpfen Werkzeugen“ arbeitet. Daher sei die „Erfolgsbilanz der sekundären Prävention schlecht“, primäre Prävention erscheine als Königsweg, mit der jedoch „bestimmte Risikofaktoren maßlos“ dramatisiert würden, „während sie andere ganz unbeeindruckt lassen.“ (S. 92 f.) Und unbeeindruckt bleiben, so Becker, die auf – nicht unumstrittenen – medizinischen Erkenntnissen aufsattelnden und in der Regel vom individuellen (Fehl-)Verhalten ausgehenden Präventionsstrategien von dem, was ist, aber nicht sein darf, was normativ verankert ist, wohinter sich die Entstehungsgeschichte des Normativen verbirgt und was nicht zur Disposition steht: „Die Moral folgt der Nützlichkeit.“ (S. 113) Zumal am Beispiel unseres Schlafbedürfnisses macht der Verfasser fest, dass, sofern der Mensch sich nicht durch intrinsische Motivation, also Selbstmodulation, dem nicht auszuweichenden Druck durch insbesondere Arbeitsverhältnisse beugt und sich so im ‚wirklichen Leben‘ erdet (wo ‚Noxen‘ ohne größeren Aufwand zu entdecken wären, etwa in der Schicht- oder Nachtarbeit), die autoritative Knute als extrinsische Motivation hervorgeholt wird. Die „fat letters“, Mitteilungen amerikanischer Schulen über den körperlichen Zustand von Schülern an die Eltern und Hinweise auf falsche Ernährung und zu wenig sportliche Betätigung, sind da nur ein pikantes Beispiel. (S. 99)
Becker nennt es einen „fast schizophrenen Zustand“ der Sozialmedizin, „mit ermüdender Gleichförmigkeit“ darauf hinzuweisen, dass es die Arbeits- und Lebensverhältnisse sind, „die Menschen krank machen“, zugleich aber Tipps zu geben, die den Rahmen der individuellen „Möglichkeiten übersteigen“ und an den „wirklichen (gesundheitlichen) Problemen völlig vorbeigehen.“ (S. 115) Und die erzeugen Stress bis in den Bereich von „distress“ (Selye) – ein zwar bekannter, aber im Hinblick auf seine Verursachung kaum auszuhebelnden Risikofaktor, dem sich der Autor über Antonowskys Salutogenese und dem zentralen Kohärenzgefühl als Ressource für alle Teile der Bevölkerung annähert, eine achtbare Absicht, die jedoch dazu führe, „den Gestressten noch die Aufgabe“ zuzumuten, „ihre Belastung selbst zu senken“ (S. 126), was keineswegs das Desiderat einlöse: „die krankmachenden Einflüsse bekämpfen, wo sie entstehen.“ So bleibt gegenüber Stress und seiner Vermeidung zu vermelden, was allenthalben für Prävention angemerkt werden darf, dass nämlich die „staatlich moderierte gesundheitliche Vorbeugung“ zwar nicht diejenigen erreicht, „die Hilfe nötig haben, aber sie belohnt diejenigen, die ohnehin ‚gesundheitsbewusst‘ sind“, und das Gesundheitssystem „bevorteilt systematisch reiche und gebildete und übervorteilt systematisch arme und ungebildete Versicherte.“ (S. 136 f.)
Präventive Steuerung operiert in der Hauptsache mit Anreizen, die auf eine Rationalität verpflichten wollen, welche aus einer „Biosozialbildungspolitik“ als „Bevölkerungspolitik auf der Höhe der Zeit“ hervorgeht (S. 154), worin die Verdichtung elaboriert ist, dass „Gesundheit (…) als Ware gilt, die verdient, verkauft und einverleibt wird. Sie gehört einem ganz allein.“ (S. 164) Das funktioniert laut Becker jedoch nicht und darum kommt er in den folgenden Kapitel noch näher als bisher auf den ‚sozialen Gradienten‘ zu sprechen und damit auf das im Untertitel angekündigte Thema, warum Ungleichheit krank macht. Hier rekurriert er zunächst auf die Primatenforschung und zeigt auf: „Psychosozialer Stress durch Rangunterschiede ist eine wesentliche Ursache des sozialen Gradienten“ (S. 171), um dies auf die menschliche Spezies mit der Erkenntnis zu beziehen: „Psychosozialer Stress löst hormonelle und immunologische Prozesse aus, die über kurz oder lang krank machen werden. Er erhöht der Zahl der Erkrankungen und beschleunigt das Altern. So dringt der soziale Gradient ‚unter die Haut‘.“ (S. 178) Das sei der Wissenschaft inzwischen geläufig und auch, dass nicht allein Armut, ob absolute oder relative, hier ein relevanter Stressfaktor ist, nicht der Mangel an materieller Teilhabe und Qualität des sozialen Lebens an sich. Zugespitzt formuliert sei in Industrienationen „das Schlimme an der Armut nicht der Mangel, sondern die Kränkung, die mit ihr einhergeht“ (S. 187), womit dem „soziökonomischen Status eine überragende Rolle“ zukomme (S. 194), neuralgischer Punkt einer „relativen Deprivation“ (S. 188) und Merkmal einer „psychosozialen Belastung“, deren Ausmaß in einer „gleichere(n) Gesellschaft“ eingedämmt werden könnte, „die eher von horizontalen Beziehungen als von Dominanzbeziehungen geprägt“ ist. (S. 195 f.) Es sei also ein gesellschaftliches Problem, resümiert der Verfasser, für welches das „medizinische und sozialarbeiterische System (…) schlicht der falsche Therapeut“ ist. Auch eine „Responsibilierung“ derart sei untauglich, „durch die der Bevölkerung ohnehin immer mehr Verantwortung ohne wirkliche Entscheidungsmacht aufgebürdet wird.“ (S. 200 ff.) Was bleibt, ist ein ausstehendes „Kohärenzgefühl“, zu entwickeln aus Strukturen, in denen Menschen erfahren, dass „ihre Belastungen nicht in sich widersprüchlich sind, sondern im Rahmen ihrer Möglichkeiten und der Mühe wert“. Mit einer solchen – präventiven – Berücksichtigung und Hereinnahme des ‚sozialen Gradienten‘ wären die „gesundheitlichen Folgen einer gleicheren (…) Gesellschaft überwältigend.“ (S. 196)
Diskussion
Jene Foucaultsche „souci de soi“, zentrales Motiv antiker Freiheitspraktiken, ist im Begriff der Prävention und in seinen praktischen Umsetzungen zu einer kruden weil illusionären Selbstsorge verkümmert, weil in ihr das Äußere in Form von Umweltbedingungen in seiner Wirkung auf das Innere, die Verzahnung physischer und psychischer Befindlichkeit, verwischt ist oder gar ausgeklammert, worum man weiß, was man aber da negieren muss, wo der gesellschaftliche Zweck den Geist gegenüber dem Körper favorisiert, den Verstand gegenüber emotionalen Störfaktoren, das gleichförmige Funktionieren gegenüber Schwankungen, das nüchterne Kalkül gegenüber scheint´s irrationalen Irritationen, die gebändigt gehören. Worin das gründet, wird von Becker nicht bis in die basalen Strukturen von Gesellschaft und deren Anforderungen an Verhalten, Denken und Fühlen eines angemessenen Sozialcharakters ausgelotet (was auch nicht sein eigentliches Interesse ist). Allerdings kommt er verschiedentlich darauf zu sprechen. So merkt er mit einer Zitation an (Bettina Schmidt), dass die „‚Neo-Gesundheitsförderung‘“ sich besonders auf Themen konzentriert, „‚die gegen die zentralen Werte der Leistungsgesellschaft verstoßen‘“ (S. 107), dass wesentliche Quellen von Stress „für die Menschen moderner Gesellschaften (…) eher psychisch als körperlich“ sind (S. 171), dass die „sozialen Strukturen, in denen Gesundheit entsteht, (…) kein Nullsummenspiel“ sind (S. 193), dass wir krank werden, wenn wir „uns machtlos fühlen, als Spielball unvorhersehbarer Kräfte“. (S. 184)
Dass all diese psychosozialen Belastungen keine Ausrutscher im Prozess der Modernisierung sind, sondern der bürgerlichen Gesellschaft in ihrem Prozess ökonomischer und soziökonomischer Konsolidierung eingeschrieben sind und Bewusstseinsinhalten beeinflussen bis prägen und dies auch in widersprüchlicher Form, darauf verweist sein knapper Rekurs auf Hufeland als Vordenker der Gesundheitsprävention (der seinen Begriff der „menschlichen Maschine“ und damit die Vorstellung vom Körper von Descartes und Rousseau übernommen hat) und dessen ‚Brieffreund‘ Kant, die beide am Thema Schlaf paraphrasieren, was der Logik der (früh-)bürgerlichen Gesellschaft frommt. Da dies auch Thema bei Becker ist, soll entlang dieses Bezugs in der Argumentation des Verfassers eine nicht an der ‚Oberfläche‘ verbleibende Kritik in Vorschlag gebracht werden, die über theoretische angeleitete Analyse zum Kern des Problems vordringt:
War Schlaf für Kant eine „‚unentbehrliche Naturrestauration‘“, zugleich aber das „‚genuß- und tatenleere Drittel des Lebens‘“, und plädierte er für strenge Selbstdisziplin, was (nicht nur) die Länge der Nachtruhe betraf, so war er durchweg skeptisch im Hinblick auf solche Selbstzucht und meinte, im Genießen müssten „‚auch Männer von Ärzten oft als Kinder behandelt werden.‘“ (S. 111) In der Logik resp. nach Maßgabe von Vernunft, wie dem – unnötigen – Schlaf „mit einer genauen Abgemessenheit der Zeit, von wo an und wie lange sie dauern soll“, gegen allen Müßiggang und für den Zweck einer nutzenbringen Ausweitung der wachen Zeit gewehrt werden soll, behandelt Kant im „Streit der philosophischen Fakultät mit der medizinischen“ auch Essen und Trinken, die Regel, „die mechanische Beschäftigung des Magens, oder der Füße, mit der geistigen des Denkens wechseln zu lassen“ (was an der Spruch erinnert: plenus venter non studet libenter), und schließlich gar das „Atemziehen“. Damit konkretisiert er ‚Grundsätze der Diätetik‘, wobei der „Stoizism, als Prinzip der Diätetik“, nämlich zu ertragen und enthaltsam zu sein, „nicht bloß zur praktischen Philosophie, als Tugendlehre, sondern auch zur Heilkunde“ gehört, die alsdann philosophisch sei, „wenn bloß die Macht der Vernunft im Menschen, über seine sinnlichen Gefühle durch einen sich selbst gegebenen Grundsatz Meister zu sein, die Lebensweise bestimmt.“ Das geläufige Zitat aus der „Kritik der Ästhetischen Urteilskraft“ steht dazu nicht im Widerspruch: „Voltaire sagte, der Himmel habe uns zum Gegengewicht gegen die vielen Mühseligkeiten des Lebens zwei Dinge gegeben: die Hoffnung, und den Schlaf. Er hätte noch das Lachen dazu rechnen können“ – um dann, was zumeist unterschlagen wird, fortzufahren: „wenn die Mittel, es bei Vernünftigen zu erregen, nur so leicht bei der Hand wären“. Und es käme darauf an, so Kant, „dem geistigen Gefühl der Achtung für moralische Ideen“ keinen Abbruch zu tun, „welches kein Vergnügen ist, sondern eine Selbsteinschätzung (der Menschheit in uns), die uns über das Bedürfnis desselben erhebt“. Die Wirklichkeit und Macht des Emotionalen gegenüber der Vernunft war ihm durchaus bewusst, sagt er doch in seinen ‚Vorkritischen Schriften‘ und in seiner Erörterung „Über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ über die „Liebe gegen den Notleidenden“, sie sei „einem höhern Standpunkt in das wahre Verhältnis gegen eure gesamte Pflicht“ zu versetzen – jedoch: „So bald nun dieses Gefühl zu seiner gehörigen Allgemeinheit gestiegen ist, so ist es erhaben aber auch kälter. Denn es ist nicht möglich, daß unser Busen vor jedes Menschen Anteil von Zärtlichkeit aufschwelle und bei jeder fremden Not in Wehmut schwimme, sonsten würde der Tugendhafte (…) bei aller dieser Gutherzigkeit gleichwohl nichts weiter als ein weichmütiger Müßiggänger werden.“ – Diese vielleicht genauere Wiedergabe der Kantschen Einschätzungen des Emotionalen und ‚vitaler Bedürfnisse‘ mag Beckers Seitenblick nicht grundsätzlich korrigieren, aber relativieren, was für den Fortgang der Diskussion fruchtbar werden könnte: Natürlich gehört es zu den ideologischen Versatzstücken der bürgerlichen Gesellschaft, dass lange zu schlafen dumm macht, träge und ungesund ist, somit nicht nur dem ‚Berufsmenschen‘ im Weberschen Sinne abträglich, sondern Merkmal unterer sozialer Schichten und Warnung wie Aufforderung zugleich, was laut Marx als „herrschende Gedanken“ der die materielle Macht besitzenden „herrschenden Klasse“ sich durchhält und sich „neben der bewußten Selbstkontrolle“ in einer „automatisch und blind arbeitende(n) Selbstkontrollapparatur verfestigt, die durch einen Zaun von schweren Ängsten Verstöße gegen das gesellschaftsübliche Verhalten zu verhindern sucht, die aber, gerade weil sie gewohnheitsmäßig und blind funktioniert, auf Umwegen oft genug solche Verstöße gegen die gesellschaftliche Realität herbeiführt.“ (Elias)
Dieser Lesart ist die Logik von Prävention und Vorsorge und die Tatsache, dass Ungleichheit krank macht, auch und ggf. für den Zweck der Kritik genauer zuzuführen: Aus „der Welt der Gedanken“ steigt Kant „in die wirkliche Welt“ (Marx) herab, womit Beckers Zungenschlag, ihn zum Mundwalt bürgerlich-kapitalistischer Tugenden zu machen, relativiert wird, insofern bei Kant zu entnehmen ist, dass der heutige Typus des Gutmenschen keine sichere Bank verbürgt und es daher notwendig ist, sich ‚vernünftig‘ auf Moral und Pflicht zu besinnen und sich deren mit eben guten Gründen zu vergewissern, was ernüchternd auf angenehm aufwallende Hochgefühle eigener Menschlichkeit („Gutherzigkeit“) wirken kann, eben „kälter“ und damit für den „ewigen Lustsucher“ (Nietzsche, Freud) nicht so attraktiv ist. Und Voltaires „Mühseligkeiten“ sind auch nicht durch (depressiven) Schlaf, (falsche) Hoffnung oder (entlastendes) Lachen von den Schultern der unter Ungleichheit leidenden „Notleidenden“ zu nehmen. So könnte und sollte aus praktisch philosophischer Sicht nach Kant zur „Heilkunde“ gehören, den „wirklichen Druck noch drückender“ zu machen, „indem man ihm das Bewußtsein des Drucks hinzufügt“, wie es bei Marx heißt, womit er auf Erkenntnis des ‚Wesens‘ zielt, um nicht auf der Ebene der ‚Erscheinungen‘ befangen zu bleiben. Darin gewinnt ein „Wollen“ Kontur, das Bloch vom „bloßen Wünschen“ abgrenzt; denn das Wünschen „hilft nicht, ja es schwächt, wenn kein scharfes Wollen hinzukommt. Und mit dem ein scharfer, umsichtiger Blick, der dem Wollen zeigt, was getan werden kann.“ Daraus könnten oder können sich jene „moralische Ideen“ entwickeln und ergeben, die hin zu jenem Kantschen „aufgeklärten Zeitalter“ leiten. Das ist, sich Moralität als Pflicht zuwachsen zu lassen, laut Kant „kein Vergnügen“ und gewiss nicht lustig, weil es nicht auf der Theorieebene verbleiben kann und darf, sondern auf Praxis dringt, auch weil, so Bloch, vom „bloßen Wünschen (…) noch keiner satt geworden“ ist. So gesehen ist z.B. die Kantsche Philosophie nicht schlicht als Beleg eines sich durchsetzenden Desiderats an Selbstdisziplin für den Berufsmenschen zu sehen, sondern eher als Kritik zu lesen und Hinweis darauf, was jenseits seinem „Zeitalter der Aufklärung“ in einem „aufgeklärten Zeitalter“ sein soll.
Prävention als Form der Disziplinierung provoziert Widerspruch, der sich aus alltäglichem Faktenwissen nährt. Zumeist sind es Ausweichstrategien, listige Umgehungen, Spielarten jener „Verstöße gegen die gesellschaftliche Realität“, von denen Elias spricht, hier die Realität der „Gesundheitsreligion“ (Lütz) in ihrer Vorbeugungsversion, die auch bei Becker thematisiert werden, und zwar als Risikoverhalten, das oppositionell ist – und nicht mehr. Schon frühere Arbeiten (z.B. Wambach 1983; Wenzel 1986) weisen auf dem Hintergrund einer Prävention durch Selbstkontrolle ein hochgradig bedenkliches Risikoverhalten bei inzwischen weiter ausgeforschten ‚paradoxen Fällen‘ und ‚escapers‘ nach, wie Menschen sich durch eklatante Verstöße gegen medizinische Heilsbotschaften schützen oder gar gesund erhalten, indem sie genau das tun, was ihnen nach dem medizinischen Risikofaktorenmodell und der ihm folgenden Präventionslogik schaden müsste (was nicht unbedingt empfehlenswert ist). Diesen Typus findet man in statistischer Häufung unter den ‚Ungleichen‘, also in so genannten Unterschichten.
Man muss zur Kenntnis nehmen, auch die ‚Gesundheitsfabrik‘ funktioniert nicht so, „wie die Geschäftsführung es sich dachte“, um Beckers Kritik mechanistischer Vorstellungen aufzugreifen (S. 55), wozu er in der Anm. 50 auf Roethlisberger verweist, einem Mitarbeiter Mayos bei den bekannten Hawthorne-Studien aus den 30er Jahren, der in heute verdutzender Freimütigkeit die Forschungserbnisse mit den Bemerkungen kommentierte, wer „eine Arbeit ohne gesellschaftlichen Wert verrichtet“ (gemeint sind recht stumpfsinnige Tätigkeiten), der gleiche „einem Mann ohne Vaterland“, wobei die „Arbeiter“ – bei den Ausgeforschten handelte es sich allerdings um Arbeiterinnen – „keine isolierten, beziehungslosen Einzelmenschen, sondern soziale Wesen“ sind, „die auch als solche behandelt werden sollten.“ Auch hinter eine solche ‚Erkenntnis‘ fällt die Präventionslogik da zurück, wo sie den ‚sozialen Gradienten‘ eher als Lippenbekenntnis und stiefmütterlich behandelt. Wo sie ihn handlungsanleitend aufnimmt, steht sie in Erbschaft von Mayo und Mitarbeitern, die mit ihren Forschungen ein gar nicht so neues Menschenbild generierten, das nötig war, um über sozialtechnologische Innovationen die Produktivität der Arbeit zu steigern. Auch da ist ‚Prävention‘ zu verorten. Dagegen reklamiert Becker „Strukturen, in denen Menschen das Gefühl von Kohärenz erfahren können“. (S. 196) So richtig diese Forderung ist, so wird dieses Menscheln doch ins sozialtechnologische Kalkül genommen, damit es letzten Endes im Sinne der Erhaltung von Ökonomie und Stabilität gesellschaftlicher Ordnung so bleibt, wie es ist, dann eben auch in einer wie von Becker geforderten „gleicheren Gesellschaft“ – in der weiterhin gilt, um es mit Orwells kritischer Sentenz zu formulieren: „Aber manche sind gleicher als die anderen.“
Mit Prävention wird nicht nur dagegen skotomisiert, dass die Medizin jenem Mehr an Morbidität nicht nur nicht Herr wird, sondern ihr die Instrumente dazu fehlen, wie Becker aufzeigt. Ob und wie die in einer von „Dominanzbeziehungen“ geprägten Gesellschaft ziemlich weit unten in der Nahrungskette Angesiedelten in einer „gleicheren Gesellschaft“ gleicher werden und so den von ihnen – kompensatorisch – eingegangenen Gesundheitsrisiken gar nicht erst ausgesetzt sind oder ausweichen können, bleibt fraglich – und dies besonders darum, weil wir nicht im Kantschen „aufgeklärten Zeitalter“ leben und dies so lange nicht, wie wir nicht über Analyse unseres „gesellschaftlichen Seins“ die Fallstricke auch unseres scheint´s kritischen „gesellschaftlichen Bewußtseins“ (Marx) zu übersteigen vermögen.
Fazit
Der Autor ist Wissenschaftsjournalist und sein Buch gehört auf der Ebene der Verbindung von wissenschaftlichen Theorien und Forschungsergebnissen und einer keineswegs neben wissenschaftlichen Ansprüchen liegenden kritischen Erörterung sowie einer Präsentation, die auch Uneingeweihten nicht mundgerechte, aber gute Nachvollziehbarkeit bietet, zu den Paradebeispielen dieser Zunft. Der Autor gibt mit seiner Behandlung des Gegenstandes auf, über theoretische Fundierung und tiefere Analyse die Kritik von Prävention als Gesellschaftskritik zu fassen. Becker kritisiert scharf, aber er wettert nicht, er nimmt die Leistungen von Medizin und Gesundheitssystem unter die Lupe und erkundet genau Schwächen und Reichweiten zumal von präventiven Strategien, aber er bedient nicht die geläufigen und wenig von profunder Kenntnis gesättigten Räsonnements aus der Klamottenkiste selbstgefälliger Kritikaster. Er spielt die Karte des sozialen Gradienten nicht als Joker aus, sondern plädiert und dies ebenso kenntnisreich wie überzeugend. Ein Weiterdenken auf Gesellschaftskritik, die sich nicht in Reformschlingen verheddert, regt er an. Nicht nur damit legt er ein Buch vor, das in universitären Seminaren, die mit dieser Thematik befasst sind, einen prominenten Stellenwert für die Diskussion einnehmen dürfte und sollte, sondern die Lektüre wird für all diejenigen gewinnbringend sein, die in Bezug auf die sie entfallenden Präventionsgebote ein „feines Gespür“ dafür haben, „ob ihre Meinung lediglich gefragt ist oder entscheidet“ (S. 202) – und die sich eine ausgewogene und abwägende Meinung bilden wollen, die zu wissensgesättigten Entscheidungen befähigt und berechtigt.
Rezension von
Arnold Schmieder
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Es gibt 121 Rezensionen von Arnold Schmieder.
Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 12.12.2014 zu:
Matthias Becker: Mythos Vorbeugung. Warum Gesundheit sich nicht verordnen lässt und Ungleichheit krank macht. Promedia Verlagsgesellschaft
(Wien) 2014.
ISBN 978-3-85371-374-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17852.php, Datum des Zugriffs 08.06.2023.
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