Nina Baur, Jörg Blasius (Hrsg.): Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 23.02.2015
Nina Baur, Jörg Blasius (Hrsg.): Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (Wiesbaden) 2014. 1126 Seiten. ISBN 978-3-531-17809-7. D: 69,99 EUR, A: 82,19 EUR, CH: 99,50 sFr.
Thema
Das Handbuch ist das erste im deutschsprachigen Raum, in dem qualitative und quantitative Methoden gleichberechtigt dargestellt werden und in dem systematisch nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden hinsichtlich Problemen, Prinzipien, Vorgehensweisen, Standards und Gütekriterien für beide Forschungstraditionen gefragt wird. Dazu diskutieren 120 ausgewiesene Experten in über 80 Beiträgen den aktuellen Stand der Forschung und bieten Forschenden, Lehrenden und Studierenden einen detaillierten Überblick über die verschiedenen Methoden der empirischen Sozialforschung. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Datenerhebung, auf standardisierten und offenen Befragungen und es werden darüber hinaus auch viele weitere aktuell verwendete Datentypen vorgestellt.
Herausgeberin und Herausgeber
Nina Baur ist Professorin für Methoden soziologischer Forschung an der Technischen Universität Berlin. Jörg Blasius lehrt und forscht im Bereich der Soziologie am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn.
Aufbau und Inhalt
Das gewichtige Handbuch ist neben einem einführenden Überblick zu Methoden der empirischen Sozialforschung in sieben Abschnitte gegliedert:
- Grundlagen der empirischen Sozialforschung
- Stichproben, Datenaufbereitung und Güte
- Forschungsparadigmen in der qualitativen Sozialforschung
- Offene Befragung
- Standardisierte Befragung
- Weitere Datentypen
- Datenauswertung in der quantitativen Sozialforschung
Zu 1. Grundlagen der empirischen Sozialforschung. Der erste Abschnitt des Handbuchs geht auf die Frage des Verhältnisses sozialtheoretischer Hintergrundannahmen, des Gegenstandsbereichs der Forschung und der Forschungsfrage nach. Die einzelnen Beiträge in diesem Abschnitt gehen auf das Theorie-Empirie-Verständnis sozialwissenschaftlicher Forschung, auf forschungsethische Fragestellungen, Fragen des Datenschutzes, die Auswahl der Informations- und wissenschaftlichen Referenzquellen ein. Daneben wird in diesem Abschnitt ausführlich darauf eingegangen, wie sich auf Basis der Kenntnis der aktuellen Literaturlage das Forschungsdesign entwickeln lässt und die Festlegung auf qualitative, quantitative oder mixed-methods Designs erfolgen kann, welche Ansätze in der Evaluations- und Marktforschung angewandt werden und welche Chancen im sozialwissenschaftlichen Experiment und in der modellhaften Imitation sozialer Systeme (Simulation) liegen. Jeweils zwei Beiträge gehen auf die Möglichkeiten der Sekundäranalyse von Daten und auf Fragen der Ergebnispräsentation ein.
Zu 2. Stichproben, Datenaufbereitung und Güte. Der Abschnitt fokussiert zunächst auf den Problembereich der Bestimmung des Untersuchungsgegenstands, der Datenauswahl und Erhebungseinheiten und der Stichprobenziehung, die Zusammenfassung der Daten in einem Datenkorpus und Festlegung von Analyseeinheiten in qualitativen und quantitativen Settings. Weitere Schwerpunkte sind mögliche Verfälschungseffekte in der Sozialforschung, denen durch die Testung der Erhebungsinstrumente in Pretests, die Berücksichtigung der Einstellung von Befragten zu Umfragen (und deren Auswirkung auf die Ergebnisse von Untersuchungen), sowie die Auswirkung von Interviewereffekten, als auch einen kritischen Umgang mit dem Phänomen gefälschter Daten begegnet werden kann. Als weitere -unerwünschte- Effekte im Rahmen der Datenerhebung werden ein unzureichender Datenrücklauf, die angemessene Gewichtung von Daten und die Verknüpfung von Primärdaten mit weiteren Datenbeständen (Paradaten, Data Fusion, Record Linkage und Data Mining) erörtert. Der Abschnitt endet mit Hinweisen zu Gütekriterien qualitativer und quantitativer Sozialfroschung und zur Umfragequalität und deren Sicherung.
Zu 3. Forschungsparadigmen in der qualitativen Sozialforschung. Die Herausgeber vereinen in diesem Abschnitt eine Auswahl möglicher Forschungsparadigmen in der qualitativen Sozialforschung, deren theoretische Grundannahmen, die Gestaltung des Forschungsprozesses und die der Auswertung ausführlich dargestellt werden. Die Einzelbeiträge gehen auf die Grounded Theory und das Theoretical Sampling, sozialwissenschaftliche Hermeneutik und hermeneutische Wissenssoziologie, die Diskursanalyse, Biografieforschung, Ethnografie, Einzelfallanalyse und die Qualitative Inhaltsanalyse ein.
Zu 4. Offene Befragung. Da die offene Befragung in der Forschungspraxis als Methode der Wahl dominiert, wird diesen qualitativen Verfahren ein eigener Abschnitt eingeräumt. Vorgestellt werden die Varianten des Leitfaden- und Experteninterviews, das narrative Interview, die Gruppendiskussion, DELPHI-Befragung und das Journalistische Interview, deren Möglichkeiten und Grenzen aufgezeigt und diskutiert werden.
Zu 5. Standardisierte Befragung. Umfangreicher fällt der Abschnitt zu quantitatvien Erhebungsmethoden aus. In 18 Beiträgen werden u. a. die Grundlagen der standardisierten Befragung, Aspekte der Fragebogengestaltung und der Frageformulierung, Möglichkeiten der telefonischen und Onlinebefragung, die Konstruktion von Antwortskalen, der mögliche Einsatz offener Fragen in standardisierten Befragungen und die Befragung spezieller Populationen (u. a. Mitarbeitergruppen, Kinder und Jugendliche, ältere und alte Menschen, Migranten etc.) erörtert und anhand von ausgewählten Beispielstudien dargestellt.
Zu 6. Weitere Datentypen. In diesem Abschnitt werden die Besonderheiten weiterer Datentypen und deren Bedeutung für die Auswertung in der empirischen Sozialforschung erfasst. Dabei handelt es sich um natürliche Datenbestände die z. B. in Dokumenten, literarischen Quellen, journalistischen Produkten, Webserver Logs, oder in Form von Fotografien und Videoaufnahmen, bzw. im Rahmen geografischer oder medizinischer Datenerhebung entstehen. Die 17 Beiträge zu diesem Themenbereich gehen auf die Selektivität dieser Daten, mögliche Strategien zur Datenauswertung, Besonderheiten der Datenstruktur, deren Stärken und Schwächen und weiterer Eigenschaften ein.
Zu 7. Datenauswertung in der quantitativen Sozialforschung. Der letzte Abschnitt geht auf die Datenauswertung in der quantitativen Sozialforschung ein. Aus der Vielzahl der möglichen Auswertungsstrategien werden in zehn Beiträgen die multivariaten Verfahren, kausale Interpretationen z. B. mittels Regressionsanalyse, die Festlegung von Indikatoren für die Messung von Merkmalen, Skalierungsverfahren, Zeitreihen- und Längsschnittanalysen, sowie Verlaufsdaten-, Mehrebenen- und Metaanalysen vorgestellt und anhand exemplarischer Beispiele erörtert.
Zielgruppe
Lehrende und Studierende der Sozialwissenschaften, in der Sozialforschung tätige WissenschaftlerInnen.
Diskussion
Das Handbuch „Methoden der empirischen Sozialforschung“ bietet eine Systematisierung der sozialwissenschaftlichen Erhebungsmethoden und deckt sowohl die qualitativen und quantitativen Ansätze ab, welche nicht als Entweder-Oder-Lösung, sondern als sich ergänzende Strategien gleichberechtigt nebeneinander gestellt werden.
Sehr umfassend mit über 1100 Seiten und dennoch notgedrungen lückenhaft (wie die Herausgeber im Vorwort schreiben) bietet das Werk einen hervorragenden Überblick zu unterschiedlichen Problemen und Strategien empirischer Sozialforschung. Die AutorInnen der Einzelbeiträge haben großen Wert darauf gelegt, die vermittelten Inhalte in einen deutlichen Anwendungsbezug zu stellen, so dass die einzelnen Kapitel problemlos in Lehre und Forschung als Grundlage für eigene Forschungsprozesse, die Planung von Forschungsvorhaben, Datenerhebung und -auswertung herangezogen werden können.
Positiv fallen auch die Literaturhinweise in den einzelnen Kapiteln auf, die nicht zu umfangreich und klug ausgewählt wesentliche weiterführende Literaturstellen erschließen. Das Handbuch besticht dadurch, dass sowohl eine Einführung und Überblick zu grundlegenden Begriffen und Techniken empirischer Sozialforschung gegeben, als auch der aktuelle Stand der Forschung der qualitativen und quantitativen sozialwissenschaftlichen Methoden vermittelt wird.
Der Schwerpunkt des Handbuchs liegt eindeutig auf dem Prozess der Datenerhebung, weniger bei der Datenauswertung, wobei die Fülle der vorgestellten Strategien und Möglichkeiten immer noch umfangreich ist und wesentliche Fragestellungen des Auswertungsprozesses erfasst werden. Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der Methodik der Befragung, weswegen auch zwei umfangreiche Abschnitte zur offenen und standardisierten Befragung breiten Raum in diesem Handbuch einnehmen. Innovative Ansätze wie z. B. die Metaphernanalyse, oder eine differenziertere Darstellung ethnografischer Verfahren (z. B. teilnehmende Beobachtung) kommen angesichts dieser Schwerpunktsetzung zu kurz, bzw. entfallen gänzlich.
Insgesamt zeichnet sich das Handbuch durch eine sehr gute Strukturierung aus, wobei eine Gliederung anhand der methodologischen Probleme der empirischen Sozialforschung und, wo machbar, nicht aufgeteilt nach qualitativen und quantitativen Forschungsstrategien erfolgte, was klare Vorteile für die Übersichtlichkeit des umfangreichen Bandes mit sich bringt. Der dadurch erreichte hohe praktische Nutzen des Handbuches hätte noch durch die Einbindung eines Stichwortverzeichnisses optimiert werden können.
Fazit
Ein Glücksfall wissenschaftlicher Handbuchliteratur: ein weites Feld relevanter Paradigmen, Methoden, Techniken und Auswertungsstrategien werden im Überblick dargestellt und durch Diskussion des aktuellen Forschungsstandes vertieft. Dabei liest sich das Gesamtwerk überraschend leicht. Der erwünschte Anwendungsbezug der Publikation, die bald den Rang eines Standardwerks eingenommen haben wird, atmet in allen 88 Kapiteln und vermittelt zuverlässig das für die Sozialforschung erforderliche Handwerkszeug.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 23.02.2015 zu:
Nina Baur, Jörg Blasius (Hrsg.): Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
(Wiesbaden) 2014.
ISBN 978-3-531-17809-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17859.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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