Ada Fuest, Friedel John et al. (Hrsg.): Handbuch der individualpsychologischen Beratung in Theorie und Praxis
Rezensiert von Prof. Dr. Roland Stein, 08.01.2016

Ada Fuest, Friedel John, Matthias Wenke (Hrsg.): Handbuch der individualpsychologischen Beratung in Theorie und Praxis. Zusammenhänge erschließen - Horizonte öffnen. Waxmann Verlag (Münster/New York/München/Berlin) 2014. 488 Seiten. ISBN 978-3-8309-3099-0. D: 59,90 EUR, A: 61,60 EUR, CH: 79,00 sFr.
Thema
Die Individualpsychologie als eine der zentralen „klassischen“ tiefenpsychologischen Schulen hält, als eine spezifische Ausrichtung psychologischen Denkens und Betrachtens, schon aus der ursprünglichen Tradition ihres Begründers Alfred Adler heraus eine Fülle von Impulsen für verschiedenste Handlungsfelder bereit, darunter auch pädagogische. Zum einen hat sich die Psychologie mit ihrer derzeit dominant quantitativ-empirischen und neopositivistischen Ausrichtung auf das direkt Beobachtbare leider stark von Theoriegebäuden wie denjenigen, welche die unterschiedlichen Ausprägungen der Tiefenpsychologie bereithalten, entfernt – zum anderen ist aber auch die Individualpsychologie selbst mangels Weiterentwicklungen und wissenschaftlicher Präsenz in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr in den Hintergrund gerückt. Dies ist bedauerlich angesichts des Potenzials, welches sich aus den Ursprungsarbeiten von Adler sowie den ihm Nachfolgenden ergibt.
Die Herausgeber dieses Bandes legen, für den Rezensenten recht überraschend, eine breit angelegte Arbeit vor, welche die Individualpsychologie für den wissenschaftlichen wie praktischen Diskurs wieder lebendig machen kann. Sie zentriert sich auf den Aspekt individualpsychologischer Beratung, könnte aber, gerade angesichts des Verständnisses von Beratung, deutlich über diesen hinausreichen.
Herausgeber und Autoren
Die Veröffentlichung geht stark von einer Gruppe von Dozentinnen und Dozenten des Alfred-Adler-Instituts-Nord in Delmenhorst aus. Dies gilt für die drei Herausgeberpersonen, aber auch für die meisten anderen Autorinnen und Autoren des Bandes. Insgesamt haben 15 Personen Beiträge beigesteuert; neben norddeutschen Autoren sind insbesondere solche aus Nordrhein-Westfalen sowie auch Rheinland-Pfalz vertreten.
Entstehungshintergrund
Die Entwicklung hin zu diesem Handbuch lässt sich aus der Selbstdarstellung der Herausgeber heraus skizzieren: Die Idee entstand im Rahmen einer Tagung der „Arbeitsgemeinschaft individualpsychologische Beratung“ (AGIB) am erwähnten Delmenhorster Alfred-Adler-Institut-Nord. Ziel des Buches war die Generierung einer Textgrundlage, die sich der Individualpsychologie annähert und zugleich konstruktive Auseinandersetzung bietet. „Indem sich mosaikartig ein Bild von individualpsychologischer Beratung in Theorie und Praxis zusammensetzt, dienen die Beiträge auch dazu, der eigenen Beratungspraxis neue Impulse zu geben“ (ebd., 13). Insofern soll das Buch ein Fundament für individualpsychologische Beratung in Theorie und Praxis bieten – es richtet sich insbesondere an Personen in unterschiedlichster Praxis, in allen Kontexten von Beratung. Aber auch potentielle Klienten werden im Klappentext als Zielgruppe beschrieben. Zugleich soll das Handbuch auch Weiterbildner in verschiedenen Feldern erreichen.
Über zehn Jahre gesammelte Texte aus der Weiterbildung zum „Individualpsychologischen Berater und Supervisor DGIP“ wurden gesichtet, durch Autoren und Herausgeber aktualisierend ergänzt – und zum vorgelegten Handbuch zusammengestellt.
Aufbau und Inhalt
Das umfangreiche Handbuch bietet auf fast 500 Seiten, neben Vorwort, Einleitung, Anhang und jeweiligen Einführungen in die Hauptkapitel, 36 Fachbeiträge.
Das Buch ist in seiner Grundstruktur in sieben Teile gegliedert – hinzu kommen Vorwort und Einleitung sowie ein Anhang.
- Das erste Hauptkapitel, „Alfred Adler und die Entstehung der Individualpsychologie“, widmet sich einer ersten Grundlegung. In drei Teilkapiteln werden das Menschenbild der Individualpsychologie skizziert, individualpsychologische Überlegungen zu Lernen angestellt sowie der Beitrag der Individualpsychologie zur Theorie von Gruppenprozessen betrachtet.
- Das zweite Hauptkapitel fokussiert auf den in Adlers Theoriebildung zentralen Aspekt des Lebensstils. In sechs Beiträgen wird dieser in unterschiedlichen Hinsichten ausgelotet: mit Fokus auf die Bedeutung der Entwicklungspsychologie, frühe Kindheitserinnerungen, Träume, Geschwister- sowie auch Familienkonstellationen – und schließlich verbale und nonverbale Kommunikation.
- Im dritten Hauptkapitel stehen die Lebensaufgaben im Vordergrund. Betrachtet werden Individualität und Gemeinschaft, Gemeinschaft als Lebensaufgabe, Arbeit, Lebensaufgaben der Lebensalter und ihrer Übergänge, Übergang vom Beruf in das Danach – sowie die spezifischen Lebensaufgaben des Kindes, Jugendlichen sowie Erwachsenen. Die letztgenannten Beiträge orientieren sich recht stark an Eriksons psychosozialem Modell der Entwicklungsaufgaben.
- Hauptkapitel vier bietet eine Übersicht zentraler individualpsychologischer Begriffe: Kreativität und schöpferische Kraft, Macht und Ohnmacht, Sicherungstendenzen und Abwehrmechanismen, Ermutigung und Selbstermutigung, Übertragung und Gegenübertragung sowie Organminderwertigkeit und Minderwertigkeitsgefühl. Damit treten hier viele „klassische“ individualpsychologische Konzepte neben in diesem Rahmen eher ungewöhnliche wie das Übertragungskonzept.
- Stärker der Praxis individualpsychologischer Beratung nähern sich die beiden nun folgenden Hauptkapitel: In Hauptkapitel fünf werden Methoden beleuchtet: neben einem Überblick geht es um Verfahren und spezifische Kontexte – Coaching und Supervision – sowie Psychodrama, Familienskulptur und Genogramm.
- Im sechsten Hauptkapitel werden Fallbeispiele individualpsychologischer Beratung dargestellt – Schwerpunkte werden gesetzt auf die Ermutigung von Kindern, Gruppengespräche mit Schülern, Eingliederungshilfen für junge Frauen, Führungskräfte-Coaching sowie ein Beispiel interkultureller Beratungsarbeit.
- Das abschließende siebte Hauptkapitel nimmt einen erweiterten Fokus ein und beschäftigt sich mit der Positionierung der Individualpsychologie bzw. individualpsychologischen Beratung – im Hinblick auf Selbstverständnis, aktuelle Forschung sowie die institutionelle Verortung. Der erste Beitrag widmet sich „Selbstverantwortung, Finalität und Aktualgenese“, der zweite dem Verhältnis der Individualpsychologie zu neurowissenschaftlichen Forschungen.
Im Anhang finden sich, neben Literatur- und Autorenverzeichnis, zwei Beiträge: zur Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie (DGIP) und ihrer Positionierung im Kreis psychoanalytisch sowie beraterisch tätiger Fach- und Berufsgesellschaften – sowie, sehr knapp, zur Weiterqualifizierung im Rahmen der DGIP.
Zwei der sieben Hauptkapitel werden durch einen eigenen Beitrag der Herausgeber eingeführt.
Diskussion
Das Buch vermag zu überraschen. Lange Zeit schien es, als sei die Individualpsychologie sehr in den Hintergrund geraten – im Reigen der Psychologie, der Psychotherapie, aber auch der tiefenpsychologischen Ansätze selbst. In den Erziehungswissenschaften fanden sich ohnedies nur Anklänge, von individualpsychologischer Theoriebildung und ihren Ansätzen zu profitieren – bedauerlich, denn seit ihren Wurzeln bei Adler
Inhaltlich wird ein breites Spektrum abgedeckt. Das Grundkonzept der Individualpsychologie wird, unter engem Bezug auf seine Wurzeln bei Alfred Adler, in wesentlichen Zügen dargestellt. Es wird vertieft durch Betrachtung wesentlicher Komponenten wie Lebensstil, Lebensaufgaben, schöpferisches Selbst und schöpferische Kraft, Macht oder Ermutigung. Etwas stärkere Thematisierung hätte sich der Leser für die Konzepte Gemeinschaftsgefühl und Kompensation gewünscht – gerade, neben der Beratung, für Psychotherapie, Pädagogik und Sonderpädagogik bedeutsame Aspekte. An verschiedenen Punkten reichen die Darstellungen thematisch gezielt und begründet über das klassische Grundkonzept hinaus – etwa im Hinblick auf Abwehrmechanismen oder Übertragungs- und Gegenübertragungskonzepte. Hier wie im Hinblick auf Methodik wird das Engagement erkennbar, den Ansatz stärker in die Gegenwart weiterzuführen, auch mit eklektischen Denkfiguren. Besonders deutlich wird dies im Kapitel zu Methoden selbst, in dem neben klar zu erwartenden Methoden auch Psychodrama, Familienskulpturen oder Genogramm Eingang in das Spektrum der Verfahrensformen finden. Dieses Kapitel hätten die Herausgeber stärker durchgliedern können, denn unter Methoden werden, aufzählend, zum einen genuine, aber, mit Coaching oder Supervision, zum anderen auch Ansätze und Handlungsformen aufgenommen.
Bereichernd sind die eingebundenen Fallbeispiele, mit denen Grundkonzepte und Arbeitsweisen anschaulich deutlich gemacht werden.
Auch Zukunftsperspektiven finden, gegen Ende des Handbuchs, Berücksichtigung. Allerdings wären hier, über die etwas im thematischen Mainstream schwimmende Auseinandersetzung mit der Neuropsychologie, auch andere Aspekte, etwa die Trends in der Psychotherapie, Therapieforschung und Therapieanerkennung im Hinblick auf die Individualpsychologie oder Fragen der weiterführenden Theoriebildung vorstellbar gewesen und hätten das Handbuch bereichert.
Gerade im Hinblick auf die letztgenannten Aspekte werden auch Lücken und Desiderate des Handbuches deutlich. Schade ist, dass die Autoren nicht stärker Fragen und Erkenntnisse der wissenschaftlichen Forschung zur Individualpsychologie und ihrem Umfeld mit aufgenommen haben. Schade ist auch, dass nicht stärker eine kritische wissenschaftliche Diskussion geführt wird. Bezeichnend ist da ein Kapiteltitel wie „Forschungsergebnisse, die individualpsychologische Positionen bestätigen“ (S. 59). Unter anderem wird stark Hüther bemüht und eine Bestätigung individualpsychologischer Grundannahmen von Seiten bestimmter als Autoritäten definierter Personen. Hier wie an anderer Stelle wird die Chance zu wenig genutzt, den eigenen Ansatz aus einer gewissen wissenschaftlichen Distanz, anhand theoretischer Überlegungen, aber auch empirischer Befunde kritisch-konstruktiv zu beleuchten. Die im Buch vertretene These, die Individualpsychologie sei auf der Höhe der Zeit, wird mit dem vorgelegten Handbuch selbst zwar durchaus gestützt – aber zur wirklichen Untermauerung dieser These und zu dezidierten Belegen hierfür wird die Arbeit weitergehen müssen.
Alle Beiträge sind kompetent geschrieben und zeugen von reichhaltiger Praxiserfahrung in Therapie, Beratung sowie Fort- und Weiterbildung. Sie sind im Gesamtbild zum einen gut aufeinander bezogen, zum anderen thematisch trennscharf. Es entsteht der Eindruck eines Handbuchs aus einem Guss.
Fazit
Dieses umfangreiche Handbuch bietet einen aktuellen Überblick zu vielen wichtigen Aspekten individualpsychologischer Sicht auf den Menschen, seiner Entwicklung und Möglichkeiten der Unterstützung. Der Fokus auf individualpsychologische Beratung stellt einen Kern professionellen individualpsychologischen Handelns dar – und versteht sich zugleich, auf Basis des dahinter stehenden Ansatzes, als deutlich breiter und nicht an einem engen Verständnis von Beratung orientiert. Damit bezieht er sich generell auf therapeutische, aber auch auf pädagogische Kontexte. Das Buch ist stark aus der Praxis der Beratung und der Aus- und Weiterbildung geschrieben und zugleich auf diese Felder ausgerichtet. Damit bietet es zugleich grundsätzlich auch eine aktuelle wissenschaftliche Aufarbeitung der Individualpsychologie und insofern eine bedeutsame, zeitgemäße Grundlegung. Allerdings vermisst der Leser zugleich an verschiedenen Stellen vertiefte wissenschaftliche Zugänge und Aufarbeitungen, etwa im Hinblick auf erweiterte Theoriebildung, auf Evaluation, Wirkungsforschung und eine kritische Perspektive auf die Individualpsychologie. Aus diesen Desideraten ergibt sich der Wunsch nach weiteren Veröffentlichungen, welche diese erkennbaren Lücken füllen könnten. Nichtsdestotrotz bieten die Herausgeber mit dem vorgelegten Buch einen breit angelegten, facettenreichen Meilenstein des Beitrags der Individualpsychologie für Beratung und darüber hinaus. Individualpsychologie wird hier wieder erkennbar und aktuell.
Das Buch kann allen Professionellen in Beratungskontexten, aber auch in der Fort- und Weiterbildung sehr empfohlen werden. Zugleich bietet es auch Impulse für Wissenschaftler an Hochschulen, die sich für tiefenpsychologische Ansätze wie die Individualpsychologie in ihrer aktuellen Gestalt interessieren.
Rezension von
Prof. Dr. Roland Stein
Universität Würzburg, Institut für Sonderpädagogik - Pädagogik bei Verhaltensstörungen
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