Jochem Kotthaus (Hrsg.): Sexuelle Gewalt im Film
Rezensiert von Dr. Miriam Damrow, 17.05.2016
Jochem Kotthaus (Hrsg.): Sexuelle Gewalt im Film. Aspekte der Inszenierung des Leides. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2014. 332 Seiten. ISBN 978-3-7799-2965-9. D: 34,95 EUR, A: 35,90 EUR, CH: 45,90 sFr.
Thema
Der vorliegende Band bietet eine analytische Perspektive auf sexuelle Gewalt im interdisziplinären Kontext.
Aufbau
Das Werk ist als Sammelband angelegt. In drei Teilen und 16 Beiträgen werden multidisziplinäre Diskurse untersucht.
- Im ersten Teil, betitelt Expositionen, stellt Marianne Kosmann sexualisierte Gewalt als soziale Praxis dar (S. 14-24). Joachim von Gottberg fragt in seinem Beitrag nach der Darstellung sexueller Gewalt vor dem Hintergrund rechtlicher Grenzen im Strafrecht und Jugendschutzrecht (S. 25-42). Hedwig Wagner analysiert sexuelle Gewalt im Film im Hinblick auf Überlegungen zum Darstellungsaspekt von Sexualität und zu möglichen Filmlektüren (S. 43-59).
- Im zweiten Teil mit dem Titel Genres sind sechs Beiträge versammelt. Marcus Stiegler führt mit seinem Beitrag zu Film als existenzieller Erfahrung in die Phänomenologie des Terrorkinos ein (S. 60-81). Julia Reifenberger konturiert Rape-Revenge-Filme als genderpolitisches Verwirrstück in ihrem Beitrag unter dem Titel „Kill your rapist!“ (S. 82-105). Maja Bächler diskutiert in ihrem gleichnamigen Beitrag sexuelle Gewalt im Kriegsfilm (S. 106-126), gefolgt von Jochem Kotthaus, der in seinem Artikel unter dem Titel „‚Red’ is the safeword!“ das Verhältnis von Sex und Gewalt am Beispiel von BDSM-Pornographie analysiert (S. 127-149). Ivo Ritzer markiert in seinem Beitrag die Diktatur der Bilder und untersucht medienkulturelle Symptomatik der Repräsentation von Sex und Gewalt in TV-Serien des US-amerikanischen ‚Qualitätsfernsehens’ (S. 150-168). Janina Schulz führt in ihrem gleichnamigen Artikel ein in sexuelle Gewalt in den Vampirserien „Buffy the Vampire Slayer“ und „True Blood“ (S. 169-187).
- Im dritten Teil sind unter dem Titel Narrationen sieben Beiträge versammelt. Melanie Hinz erörtert in ihrem ebenfalls so betitelten Beitrag sexuelle Gewalt gegen Prostituierte im Mainstreamkino (S. 188-207). Florian Schwarz folgt mit seinem Artikel den Spuren der Entwicklung der Darstellung sexueller Gewalt gegen Kinder im kommerziellen Kino (S. 208-224). Ingo Reuter thematisiert in seinem Beitrag Religion, das Übernatürliche und sexuelle Gewalt (S. 225-242). Im darauffolgenden Beitrag von Peter Vigmold wird das Schweigen der Männer analysiert (S. 243-267). Ralph J. Poole charakterisiert in seinem Artikel sexuelle Gewalt gegen lesbische, schwule und transgender Charaktere im Mainstreamfilm (S. 268-287). Angela Koch widmet ihren Beitrag der Geschichte (und deren fiktionale Film-Darstellung) Brandon Teenas unter dem Titel „Brandon Teena – Fiktionalisierung und Fiktion der sexuellen Gewalt“ (S. 288-304). Mit Julia Bees Beitrag zu Gewalt, Begehren und Differenz (S. 305-329) schließt der Band die inhaltlichen Teile ab.
Ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren findet sich auch den Seiten 330-332.
Wie bei Sammelbänden üblich wird eine zufällig vorgenommene Auswahl von Beiträgen rezensiert.
Ausgewählte Inhalte
Wie bei Sammelbänden üblich wird eine zufällig vorgenommene Auswahl von Beiträgen rezensiert.
Marianna Kosmann beschreibt sexualisierte Gewalt als soziale Praxis in ihrem gleichnamigen Beitrag. Sie zeigt, so auch der Untertitel ihres Beitrags, sozialwissenschaftliche Diskurse zum Phänomen sexueller Gewalt. Einleitend verweist Kosmann auf die historisch herleitbaren unterschiedlichen Definitionszugänge zum Gewaltbegriff und den Nuancen in Begriffen wie sexuelle / sexualisierte Gewalt oder sexueller Belästigung und sexueller Ausbeutung. In weiteren Unterkapiteln wird zudem auf 3 Thematisierungen sexualisierter Gewalt fokussiert, das Konzept struktureller Gewalt konturiert und problemsoziologische und feministische Ansätze knapp skizziert. Dabei verortet Kosmann in der Darstellung struktureller Gewalt diese im gesellschaftlichen Raum. Deutungen sexualisierter Gewalt als soziales Problem konturiert sie dabei zum einen aus feministischer Sicht als Ent-Deckung, aus sozialkonstruktivistischer Sicht als Ergebnis gesellschaftlicher Verhandlungsprozesse.
Joachim von Gottberg legt in seinem Beitrag zur Darstellung sexueller Gewalt rechtliche Grenzen im Strafrecht und Jugendschutzrecht dar. Nach einer kurzen Einleitung führt Gottberg in einem knappen Unterkapitel in die Problematik von Gewalt und Sexualität in den Medien ein, legt Grundlagen des Jugendschutzgesetzes dar (was z.B. die öffentliche Wiedergabe von Spielfilmen im Kino betrifft) und zeigt anhand ausgewählter Beispiele sexueller Gewalt im Kinofilm, wie sexuelle Gewalt inszeniert wird mit dem Ziel, eher das Interesse des Zuschauers an der Aufklärung des Verbrechens zu wecken. Gleichzeitig begründet Gottberg die jeweilige Altersfreigabe der Filme. Auf Altersfreigabe geht Gottberg auch im folgenden Abschnitt zur Liste jugendgefährdeter Medien ein und leitet dann zu Bestimmungen für das Fernsehen über, um sich daran anschließend dem Thema Jugendschutz im Internet zu widmen. Absätze zur Pornographie folgen, um den Beitrag mit einer Differenzierung zur Darstellung sexueller Gewalt und der Abgrenzung zur Gewaltpornographie sowie Wirkungsrisiken bei Heranwachsenden und Erwachsenen, der Darstellung wissenschaftlicher Positionen und der Verstärkung von Gewalterfahrungen zu beenden.
Ivo Ritzer stellt in seinem Beitrag zur Diktatur der Bilder Überlegungen zur medienkulturellen Symptomatik der Repräsentation von Sex und Gender in TV-Serien des US-amerikanischen Qualitätsfernsehens vor. Nach einer einleitenden Einführung zur Legitimierung eines Mediums (hier: Fernsehen, insbesondere Serien) folgt im zweiten Abschnitt zu Tabus und Transgression ein kurzer Abriss (mit vorwiegend psychodynamischen Theorieverweisen), den Ritzer so charakterisiert: „Neben den unmittelbaren Affekt aber tritt auch eine mentale Stimulation des Publikums. Ästhetische Fantasien über Sex und Gewalt setzen eine ambivalente Faszination in den Rezipienten frei, indem sie unter die gewohnte Ordnung der Dinge und ihre tabuierten Felder blicken. Sie machen das Unsichtbare sichtbar und materialisieren Albträume und Ungewissheiten. Das eigentliche Moment der Transgression liegt so weder nur in den Inhalten noch nur in den Formen ihrer Darstellung, sie aktualisiert sich weniger im Drama als in den dramatischen Effekten, die sie bewirken“ (S. 159-160). Im dritten und letzten Kapitel referiert Ritzer zu Ökonomien des Affektiven und Obszönen, verweist zudem aber auch auf immaterielle Produktion (von Affekten), die der Transgression unterliegt.
Melanie Hinze diskutiert und konturiert die Figur (genauer, Figurationen) der Prostituierten im Mainstreamkino, die sexuelle Gewalt erfährt. Dabei wird an 3 Beispielfilmen (Pretty Woman, Whore und From Hell) Visualisierung sexueller Gewalt thematisiert. Hinze rekurriert in und an diesen Beispielen auf die zentrale Verbindung von sexueller Gewalt und der Darstellung von (weiblichen) Prostituierten und Prostitution und konturiert diese im Kontext sozialer Diskurse als Geschlechtererzählungen über sexuelle Gewalt.
Diskussion
Marianne Kosmann zeigt in ihrem knappen Abriss zur sexualisierten Gewalt drei Theoriezugangsstränge auf, von denen zwei relativ genau (d.h. im gebotenen Rahmen) dargestellt werden. Das Unterkapitel zu feministischen Verständigungen ist demgegenüber etwas differenzierter dargestellt. Hier werden zum einen Formen sexueller Gewalt knapp skizziert, zum anderen Adressat*innen sexualisierter Gewalt (insofern ist ein Titel wie feministische Verständigungen sachlich ungünstig, da falsch, gewählt) kurz vorgestellt und kursorisch das rechtliche Problem bzw. der rechtliche Umgang mit dem Problemfeld abgehandelt. Positiv hervorzuheben (weil nicht selbstverständlich und weil allzu oft marginalisiert) ist der abschließende Absatz zu den Opfern: „Ob sich, wenn schon die Zahl der Opfer nicht wirklich verringert wurde, sich wenigstens deren Lage verbessert hat, muss bezweifelt werden; weder wurden sie als ernstzunehmende Akteurinnen und Akteure in die Runden Tische eingebunden, noch gibt es eine flächendeckende Versorgung mit Beratungsstellen und Behandlungszentren“ (S. 21-22).
Joachim von Gottberg verweist in seinem Beitrag auf Zusammenhänge zwischen Gewalt, Sexualität und Medien, wobei auffällt, dass mit Medien nur Spielfilme, Fernsehen und Internet antizipiert werden, alle anderen Medien (trotz kleiner, aber vorhandener Nutzermengen) unberücksichtigt bleiben. Zudem werden die rechtlichen Grenzen fast ausschließlich dargelegt als Jugendschutz und dessen Umsetzung in und durch Medien, die strafrechtliche (und strafbewehrte) Seite (wie im StGB konzipiert) bleibt (abgesehen von den Erörterungen zur Pornographie) weitgehend außen vor, hätte hier aber zumindest knapp skizziert werden können und vielleicht auch müssen.
Ivo Ritzer beschreibt in seinem Beitrag zur Diktatur der Bilder einen psychodynamisch orientierten Zugang zum Qualitätsfernsehen der USA (an ausgewählten Beispielen von Serien). Neben zahlreichen Querverweisen zu Medientheorien (hinsichtlich Macht, Sprache und Struktur) wird auf psychodynamische Prozesse bzw. Phänomene (wie Transgression) verwiesen, der sich im Wesentlichen auch die Produktionsverhältnisse unterzuordnen haben. Ritzer konkludiert, dass auch die Funktionsweise des Kapitals (das diese Serien erst möglich macht), sich der Logik der Serien zu unterwerfen habe (mithin ein netter Zirkelschluss): „Transgressiv an den Serien des „Quality TV“ sind mithin nicht ihre narrativen Strategien, sind nicht ihre offenen Darstellungsweisen von Nacktheit, Sex und Gewalt; transgressiv ist nur die Funktionsweise des Kapitals, das als Prädisposition ihrer Existenz und Horizont ihrer Ökonomie zugleich fungiert…das Kapital überschreitet das Potenzial der Überschreitung selbst, da es nur überschreitet, u sich zu reproduzieren, zu akkumulieren, zu potenzieren“ (S. 166, Hervorhebungen vom Autor).
Melanie Hinze erörtert in ihrem Beitrag zur sexuellen Gewalt an Prostituierten an drei Filmen (und darin anhand ausgewählter Szenen), wie das soziale Phänomen sexueller Gewalt als Verfügungsobjekt männlicher Ansprüche lesen / interpretieren lässt. Sie verweist zudem auf das unterrepräsentierte Phänomen männlicher Prostituierten, belässt es aber mit der Erwähnung von Beispielfilmen. Neben den narrativen Darstellungen der Desubjektivierung (der weiblichen Prostituierten), das die Anwendung sexueller Gewalt erst ermöglicht, schlussfolgert Hinze, dass in allen ausgewählten Filmen soziale Diskurse zur sexuellen Gewalt an Prostituierten angesprochen, zum Teil reformuliert werden. Die nur angedeutete Frage nach der Positionierung männlicher Prostituierten verdiente hier eine genauere Analyse …
Fazit
Das Buch mit seinen ausgeprägt analytischen Zugängen auf das Phänomen sexueller Gewalt hätte zwar weitere theoretische Zugänge (neben den betont psychodynamischen) verdient, es ist jedoch auch unter dieser Perspektive lesenswert und zum weiteren Einsatz, vorrangig in der Lehre, gut geeignet.
Rezension von
Dr. Miriam Damrow
Hochschule Magdeburg-Stendal
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Zitiervorschlag
Miriam Damrow. Rezension vom 17.05.2016 zu:
Jochem Kotthaus (Hrsg.): Sexuelle Gewalt im Film. Aspekte der Inszenierung des Leides. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2014.
ISBN 978-3-7799-2965-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17880.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
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