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Ingrid Miethe: Biografiearbeit

Rezensiert von Dr. Miriam Damrow, 10.07.2015

Cover Ingrid Miethe: Biografiearbeit ISBN 978-3-7799-2990-1

Ingrid Miethe: Biografiearbeit. Lehr- und Handbuch für Studium und Praxis. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2014. 2., durchges. Auflage. 175 Seiten. ISBN 978-3-7799-2990-1. D: 16,95 EUR, A: 17,50 EUR.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-7799-3701-2 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.

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Aufbau

Das Buch gliedert sich in fünf Kapitel, die auf die Einleitung (S. 7-10) folgen.

  1. Im ersten Kapitel (S. 11-45) stehen Begriffsklärungen und allgemeine Voraussetzungen im Vordergrund.
  2. Das 2. Kapitel (S. 46-100) beleuchtet Traditionslinien der Biografiearbeit.
  3. Im dritten Kapitel (S. 101-141) werden Einsatzfelder der Biografiearbeit fokussiert, während
  4. das vierte Kapitel (S. 142-152) Zusammenhänge von Biografiearbeit und Trauma in den Mittelpunkt der Ausführungen stellt.
  5. Schlussfolgerungen für Praxis und Ausbildung als 5. Kapitel (S. 153-160) beschließen den inhaltlichen Teil des Bandes.

Ein Literatur- und Stichwortverzeichnis beschließen den Band.

Inhalt

In der Einleitung verweist Miethe auf die Notwendigkeit von Biografiearbeit in modernen Gesellschaften, aus deren Freisetzungsdimensionen sie die Notwendigkeit biografischer Arbeit (genauer: biografischer Reflexionen) ableitet.

Im ersten Kapitel werden Begriffsklärungen und allgemeine Voraussetzungen erläutert. Dazu bedient sich Miethe mehrerer Unterabschnitte, in die sie das Kapitel gliedert. Im ersten Unterkapitel, betitelt „Was ist Biografie?“ skizziert sie in knapper Form die Unterschiede der Begrifflichkeiten Lebenslauf und Biografie und leitet mit der Bedeutungsattribuierung nummerierte Absätze innerhalb des Unterkapitels ein. Im ersten Absatz wird auf die Bedeutungsstrukturierung von Biografien verwiesen, während im 2. Absatz auf sequenzielle Erfahrungsaufschichtungen rekurriert wird. Die Subjektivität in den Konstruktionen von Biografie steht im dritten Absatz im Mittelpunkt. In nachfolgenden Absätzen werden Veränderungsprozesse thematisiert, relationale Beziehungen zwischen individueller Lebensgeschichte und überindividuell erlebter gemeinsamer (Zeit-)Geschichte und der Verschränkung kognitiver, emotionaler und körperlicher Dimensionen. Das zweite Unterkapitel widmet sich der Begriffsklärung und Abgrenzung, wenn danach gefragt wird, was Biografiearbeit sei. An einigen Beispielen werden Uneindeutigkeiten bisheriger Definitionsversuche aufgezeigt (Ruhe, Sautter etc.), um sodann in einzelnen Absätzen Abgrenzungen zur Biografieforschung, zum biografischen Lernen und zur Therapie vorzunehmen. Das dritte Unterkapitel stellt die Praxis der Biografiearbeit in den Mittelpunkt. In mehreren eigens nummerierten Absätzen werden Formen der Biografiearbeit dargestellt, deren Aufteilung in Unterformen knapp angerissen werden, Rahmenbedingungen erläutert und Methoden der Biografiearbeit aufgezeigt, die sich wiederum nach Entstehungskontext und methodischen Arbeiten differenzieren lassen.

Das zweite Kapitel beleuchtet die Traditionslinien der Biografiearbeit. Miethe beginnt das Kapitel mit einem Schaubild (genauer: einem Organigramm), das die Traditionslinien ordnet. Der inhaltliche Überblick beginnt mit Traditionen aus der Psychoanalyse, die Miethe nach für die Biografiearbeit zentralen Dimensionen ordnet. Darunter fasst sie das topische Modell, Abwehrmechanismen, Übertragung und Gegenübertragung. In einem vierten Abschnitt werden von Miethe aber auch Kritikpunkte an der Psychoanalyse geübt, die, so Miethe, „… in der Folge … sowohl zu einer Weiterentwicklung der Psychoanalyse selbst als aber auch zur Entwicklung alternativer Ansätze, die unter dem Begriff der Humanistischen Psychologie zusammengefasst werden (führten)“ (S. 55). Darauf baut der nächste Abschnitt zu Traditionen aus der Humanistischen Psychologie auf. Die von Miethe dabei vorgenommene Auswahl der Bereiche beruht auf zentralen Grundpositionen der Biografiearbeit. Unter diese Bereiche zählt sie das Menschenbild, Traditionen aus der klientenzentrierten Gesprächsführung und Ansätze zur Gruppenarbeit. Innerhalb des Menschenbildes folgt zudem eine Skizze zum Narrativ der Dominanzkultur. Innerhalb des Abschnitts zur themenzentrierten Interaktion beschreibt Miethe sowohl prozessorientiertes Arbeiten wie auch den Ansatz der partizipierenden Leitung. In den Traditionslinien aus der Systemischen Familientherapie fasst Miethe mehrere Methoden zusammen, darunter Familienaufstellungen, Genogrammanalysen und Mehrgenerationenperspektive. Unter Traditionen aus der Biografieforschung werden Textsorten (wie Erzählungen, Argumentationen, Beschreibungen), narratives Erzählen und Nachfragen, aber auch Zugzwänge der Erzählung subsumiert. Der fünfte Abschnitt ist Traditionen aus der Oral History gewidmet. Darin wird sowohl eine Beschreibung des Ansatzes von Oral History geliefert, aber auch darauf verwiesen, dass Oral History als Bildungsansatz aufgefasst werden kann. Das letzte Unterkapitel ist Sonstigen Traditionen gewidmet Darunter zählt Miethe ausschließlich Anthroposophische Biografiearbeit. Innerhalb dieses Abschnitts wird auf das Welt- und Menschenbild und Biografiearbeit verwiesen.

Im dritten Kapitel werden Einsatzfelder der Biografiearbeit beschrieben, wobei Miethe sich auf eine chronologische Zusammenschau (von Alt nach Jung) der Anwendung biografischer Methoden konzentriert, In den Absätzen zur Altenbildung wird insbesondere auf die Traditionen/Methoden des Erzählcafés und der Lebensbücher rekurriert. Ein weiterer Abschnitt verweist zusätzlich auf den Anwendungsbereich in der Altenpflege, in den ausschließlich Arbeitsmethoden im Krankheitsbereich der Demenz eingeschlossen sind. Im Abschnitt zur Frauenbildung rekurriert Miethe zuerst auf den Agency-Ansatz, um daran anschließend Hauggs Ansatz der kollektiven Erinnerungsarbeit zu skizzieren. Im vorletzten Abschnitt des dritten Kapitels wird auf das Praxisfeld der Kinder- und Jugendhilfe eingegangen. Miethe beschreibt darin vorrangig Einsatzfelder im Bereich des Adoptiv- und Pflegewesens, erläutert Narration in der Jugendarbeit und diskutiert knapp gefasst den Einsatz von Memory-books für Aidswaisen. Im letzten Abschnitt des Kapitels wird das Einsatzgebiet der Biografiearbeit in der Behindertenhilfe erörtert. Darin verweist Miethe auf Gründe des verzögerten Einsatzes biografischer Arbeitsmethoden im Bereich der Behindertenhilfe. Implizit wird hier auch auf den Agency-Ansatz rekurriert.

Das vierte Kapitel, verfasst von Silke Birgitta Gahleitner, stellt damit das einzige Gastautor(in)kapitel dar. Darin wird auf das Zusammenspiel von Biografiearbeit und Trauma abgehoben. Traumasensible Biografiearbeit in der Praxis stellt ein eigenes Unterkapitel dar, in dem neben den Vorzügen traumabezogener Biografiearbeit auf Gefahren verwiesen wird, insbesondere auf Gefahren der Reaktivierung des Traumas / der Traumata. Weiterhin wird auf zentrale Positionen traumasensibler Arbeit verwiesen (z.B. professionelle Beziehungsgestaltung und reflektierte Parteilichkeit).

Ein kurz gefasstes fünfte Kapitel mit Schlussfolgerungen für Praxis und Ausbildung beschließt den Band. Darin werden Mindeststandards für professionelle Biografiearbeit vorgestellt. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit der Mindeststandards zu erheben, fordert Miethe damit auch eine stärkere Professionalisierung im Bereich der Biografiearbeit: „Bisher ist eine Ausbildung in Biografiearbeit allenfalls punktuell in das Studium der Sozialen Arbeit, der Pflegewissenschaft und der Erziehungswissenschaft integriert. Auch gibt es nur vereinzelte Weiterbildungsangebote in diesem bereich und diese umfassen nicht das gesamte hier aufgezeigte Spektrum. Hinsichtlich des enormen Bedeutungszuwachses, den dieser Ansatz in jüngster zeit erfahren hat, ist dieser Zustand überholungsbedürftig“ (S. 159).

Diskussion

Die Vielfalt der Biografiearbeit wird kurz angerissen im ersten Kapitel, nichtsdestotrotz bleiben etliche Ansätze zu flach dargestellt. So wird etwa in der Abgrenzung von Biografiearbeit und Therapie zwar auf gängige Therapiearten verwiesen, wesentliche wie Verhaltenstherapien oder kognitive Verhaltenstherapien bleiben jedoch exkludiert Insgesamt erscheint die Vermischung von Arten und Formen (Psychoanalyse und Kurzzeittherapie) problematisch und verwirrend. Ein profunder Überblick hätte hier mehr Tiefe und Schärfe verleihen können.

Im zweiten Kapitel werden in einem Organigramm die Traditionslinien der Biografiearbeit übersichtlich geordnet, beginnend mit den jeweiligen Bezugsdiziplinen (wie etwa den Sozial- und Erziehungswissenschaften) und deren Ausprägungen. Unverständlich und unerklärt bleibt, warum diese Reihenfolge in den nachfolgenden Unterkapiteln wieder aufgehoben wird. Steht im Organigramm die Psychotherapie und Psychologie noch mittig, rekurriert das erste Unterkapitel auf Traditionen aus der Psychoanalyse. Sinnvoller wäre hier doch eine systematische Abhandlung gewesen, insbesondere bei einem Band, der sich selbst als Hand- und Lehrbuch charakterisiert. Auf klare und durchdachte Didaktik lässt diese unsystematische Anordnung eher nicht schließen. Innerhalb des Abschnitts zu Traditionslinien der Psychoanalyse beschreibt Miethe ihre Auswahl als gekennzeichnet durch „Dimensionen …, die für die Praxis der Biografiearbeit zentral sind“ (S. 47). Dabei werden innerhalb dieses Abschnitts drei Aspekte herausgegriffen, bei denen es sich zum einen um eine Theorie handelt (Topik, in diesem Fall um Freuds Annahme von unterschiedlich zugänglichen Bewusstseinsebenen), bei den zwei weiteren Aspekten jedoch zentrale Annahmen wirksamer Mechanismen aufgenommen werden. Diese Gleichsetzung von Theorie und Mechanismen erscheint etwas fragwürdig.

Im Abschnitt zu Traditionslinien aus der Humanistischen Psychologie ist jedoch Miethe zu widersprechen: Miethe selbst unterliegt hier einer klassischen Verwechslung – einerseits möchte sie die Wurzeln der Biografiearbeit knapp skizzieren, andererseits werden eben diese Wurzeln als Möglichkeit gesehen, um „exemplarisch zentrale Grundpositionen der Biografiearbeit“ nachzeichnen zu können. Hier hätte eine gründliche Überarbeitung diesen Denkfehler (der möglicherweise ein Ausdrucks- bzw. Stilfehler ist) ausmerzen können. Schade, dass sich weder Autorin noch Verlag diese Mühe gemacht haben.

Innerhalb des Abschnitt zu Traditionslinien aus der Humanistischen Psychologie verweist Miethe zwar auf Dimensionen, die sie zu skizzieren ansetzt, beschreibt aber nicht wie angekündigt Ansätze zur Gruppenarbeit, sondern grenzt ohne Erläuterung, Verweis und Begründung sofort auf die Themenzentrierte Interaktion ein, obwohl sie vorher dezidiert darauf verweist, dass TZI nur einen unter mehreren Ansätzen der Gruppenarbeit darstellt. Unter mehreren Aspekten erweist sich diese Vorgehensweise als problematisch: erstens wird die Autorin ihrem selbst gesteckten Ziel (der Darstellung von mehreren Ansätzen) nicht gerecht, zweitens zeigt sich eine solche thematische Engführung ohne Begründung als inhaltlich verfremdend und damit sachlich als falsch, drittens aber ist diese Vorgehensweise unter didaktischen Gesichtspunkten mindestens ärgerlich. Von einem Handbuch für Studium und Praxis ist Besseres zu erwarten.

Gleiches gilt für die verrutschte Numerierung der Abschnitte. Wird das Unterkapitel zu Oral History mit der Nummer 2.5 ausgezeichnet, ist die nächstfolgende Untergleiderung mit 2.6.1 ausgezeichnet. Diese verrutschte Numerierung wird beibehalten, im darauffolgenden Unterkapitel zu Sonstigen Traditionen wird diese Unterkapitel mit der Nummer 2.7 ausgezeichnet. Verrutschte Nummerierungen können vorkommen, sollten aber bei gründlicher Prüfung ausmerzbar sein. Warum dies hier nicht erfolgte, mag mehrere Gründe haben – sachlich nachvollziehbare werden es nicht sein können. Ein vermutlich mit Word erstellter Text übernimmt bei entsprechender Einstellung diese Fehler natürlich auch ins Inhaltsverzeichnis – dies hätte beim ersten Blick aber auffallen müssen und sollen. Zudem bleibt, im Rückgriff auf den Inhalt, unverständlich, warum die Autorin zwar ein Schaubild zu Traditionslinien erstellte, die von ihr so bezeichneten „Sonstigen Traditionen“ darin aber unberücksichtigt ließ. Möglicherweis, weil die „Sonstigen Traditionen“ wissenschaftlich eher problematisch erscheinen – dann hätten diese Ansätze in einem Lehr- und Handbuch aber nichts zu suchen.

Im dritten Kapitel zu Einsatzfeldern der Biografiearbeit wird bewusst nur auf die Formen der Altenbildung und Frauenbildung gesetzt, dennoch findet auch die Altenpflege darin ihren Platz. Innerhalb des Bereichs der Altenpflege wird jedoch vorrangig auf die Krankheitsform Demenz eingegangen – eine höchst problematische Unterstellung. Biografische Arbeitsmethoden zur Aufarbeitung von erlebtem Abbau sollten auch andere Formen des Abbaus einbeziehen – kognitiver Abbau ist nur einer von vielen (oft gefürchteten Formen), physische Einschränkungen können jedoch individuell als gravierend erlebt werden.

Das vierte Kapitel zur Intersektion von Trauma und Biografiearbeit stellt das einzige Gastkapitel in diesem Band dar. Neben all den wichtigen, notwendigen (und notwendig kurz gehaltenen) Aussagen überrascht doch die isolierte Darstellung – immerhin ist es denkbar und vorstellbar (und wird im Gastkapitel im imaginierten Fallbeispiel auch deutlich), dass traumasensible Biografiearbeit in allen Praxisfeldern nötig ist und Anwendung findet. Die isolierte Darstellung informiert über grundständige Prinzipien.

Insgesamt aber fällt am Buch auf, dass zwar immer wieder eine (weitergehende) Professionalisierung in allen Bereichen der Biografiearbeit als immens wichtig und notwendig erachtet wird, Verweise auf entsprechende Ressourcen aber fehlen (fast) völlig. Ein kurzer Überblick zu Möglichkeiten der Aus- und Weiterbildung hätte sicherlich nicht geschadet.

Fazit

Das Buch ist sicherlich für alle eher wenig informierten Leserinnen und Leser ein Informationsgewinn, für alle anderen aber überwiegen doch die hier nur kurz angerissenen Probleme. Für die Praxis ist der Band zu knapp (insbesondere, als der Teil zu den Einsatzfeldern ziemlich kurz ausfällt), für Studierende nicht ausführlich genug. Anreize hingegen, sich mit dem Thema weiterhin auseinanderzusetzen, bietet der Band gleichwohl.

Rezension von
Dr. Miriam Damrow
Hochschule Magdeburg-Stendal
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Es gibt 48 Rezensionen von Miriam Damrow.

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Zitiervorschlag
Miriam Damrow. Rezension vom 10.07.2015 zu: Ingrid Miethe: Biografiearbeit. Lehr- und Handbuch für Studium und Praxis. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2014. 2., durchges. Auflage. ISBN 978-3-7799-2990-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17886.php, Datum des Zugriffs 14.01.2025.


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