Tilman Nagel: Angst vor Allah?
Rezensiert von Prof. Dr. Joachim Thönnessen, 01.04.2015

Tilman Nagel: Angst vor Allah? Auseinandersetzungen mit dem Islam. Duncker & Humblot GmbH (Berlin) 2014. 422 Seiten. ISBN 978-3-428-14373-3. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,90 sFr.
Thema
Die Zuwanderung von Muslimen und Musliminnen (im Folgenden der Einfachheit halber: Muslimen) nach Deutschland und in vergleichbare Länder wird seit vielen Jahren heftig diskutiert. In politischen Auseinandersetzungen geht es häufig um die Frage, ob – und falls ja, inwiefern – die Werte und Normen, denen Muslimen folgen, vereinbar sind mit denjenigen der westlichen Kultur. Befürchtet wird eine „Unterwanderung“ oder gar „Sabotage“ dieser Werte. Professor em. Tilman Nagel vertritt seit vielen Jahren die These, dass die Mehrheit der Muslime in Deutschland eine Bedrohung für den freiheitlichen Rechtsstaat darstellt. Angeprangert wird die „Heilslehre“ des Islam mit einer gewaltigen Rhetorik, zu der Begriffe bzw. Themen wie „rücksichtsloser sozialer Imperialismus“, „Unterdrückung der Frau“, „Verunglimpfung unserer Volkskultur, unserer Musik, Malerei, Bildhauerei, der Früchte unserer Wissenschaft, des Christentums“ u.a.m. (S. 7f) gehören.
Autor
Tilman Nagel wurde am 19. April 1942 in Cottbus geboren. Nagel studierte an der Universität Bonn Islamwissenschaft, Vergleichende Religionswissenschaft und Zentralasienkunde. Nach der Promotion im Jahre 1967 (also im zarten Alter von 25 Jahren; J.T.) und dem Erwerb der Lehrberechtigung 1971 war er bis 1981 am Seminar für Orientalische Sprachen an der Universität Bonn tätig. Danach lehrte und forschte er von 1981 bis 2007 als Professor für Arabistik und Islamwissenschaft an der Universität Göttingen. Er wurde zum Ende des Sommersemesters 2007 emeritiert. Seinen Abschlussvortrag hielt er über das Bildungswesen in der mittelalterlichen Welt des Islam: Die Medresse oder der Preis des vollkommenen Wissens. Auf dem Lehrstuhl folgte ihm 2008 Sebastian Günther.
Nagel hat wichtige Standardwerke der Islamwissenschaft verfasst. Sein summum opus ist die im Jahre 2008 erschienene, über 1000 Seiten umfassende Biographie Mohammeds. Dem Autor kommt es darin seinen eigenen Worten nach „nicht auf eine Abbildung der muslimischen Biographie Mohammeds an, sondern auf die geschichtswissenschaftliche Erfassung seiner Gestalt und seines Wirkens vor dem Hintergrund der spätantiken vorderasiatischen Ereignis-, Gesellschafts- und Religionsgeschichte sowie auf die Schilderung der Genese und Weiterentwicklung des muslimischen Mohammedglaubens“.
Nagel ist für islamkritische Analysen und Wortmeldungen bekannt. Er ist Mitglied der Freimaurerloge Auguste zum goldenen Zirkel in Göttingen, der er zur Zeit (2012, aber auch weiterhin im Jahre 2015; J.T.) als Meister vom Stuhl vorsteht (alle Angaben aus Wikipedia, entnommen am 18.03.2015).
Entstehungshintergrund
Nagel gibt zahlreiche Andeutungen, um eine Situation zu beschreiben, die ihn in seinem Plan bestärkt hat, einen Teil seiner Aufsätze und Vorträge zusammenzustellen und zum Teil erstmalig zu veröffentlichen. Er zeichnet ein Bild der Zersetzung der deutschen Kultur u.a. durch Angehörige der islamischen Interessenverbände, die „nur zu behaupten und zu fordern“ (S. 8) brauchen. Angeklagt werden „die meisten Mitglieder unserer politisch-medialen Klasse“ (S.9), die nicht in der Lage sind, den Islam nüchtern und wirklichkeitsnahe wahrzunehmen (ebd.).
Nagel sieht sich dabei selbst als jemand, der den Mut hat, den Zwängen der politischen Korrektheit zu widerstehen, indem er sich auf kritisch-aufklärerische Weise mit dem Islam auseinandersetzt (S. 9). Unsere Kultur ist es wert, so Tilman Nagel, „gegen ihre frommen Verächter muslimischen Glaubens verteidigt zu werden“ (S. 10).
Aufbau
Das Buch ist aufgeteilt in vier große Teile, die wie folgt überschrieben sind:
- Grundsätzliches über den Islam (S. 55-150),
- Das Weltbild des Christentums und des Islams im Vergleich (S. 151-193),
- Der Islam und der säkulare Staat (S. 195-304) und
- Mit Muslimen streiten (S. 305-407).
Darüber hinaus enthält das Buch eine Einführung zum allgemeinen Thema „Denkverbote und was sie bezwecken sollen“ (S. 19-53) und ein Register (S. 408-422).
Inhalt
Zusammengefasst argumentiert Tilman Nagel wie folgt: In Deutschland lebende Muslime verhalten sich gegenüber den rechtlichen, politischen und kulturellen Grundlagen des Landes auf kritische Weise. Das Verhalten von Muslimen resultiert aus der heiligen Schrift des Islams, dem Koran und ist folglich aus diesem heraus zu erklären (S. 27). Weil es um eine Religion geht (die, an den Mitgliedern gemessen, zweitgrößte der Welt; J.T.), weichen viele der politischen und kulturellen Machthaber in Deutschland davor zurück, den Islam und die mit ihm verbundenen Auffassungen und Lebensweisen offiziell zu kritisieren (S. 28). „Jahrzehntelang“, so der Verfasser, wurden solche Tabus (also den Islam nicht zu kritisieren) aufrechterhalten (ebd.). Als Wortführer und extremes Beispiel einer solchen Haltung wird wiederholter maßen der Altbundespräsident Christian Wulff mit seiner Äußerung „Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“ angeführt (S. 7; S. 29ff).
Als Ziele des Buches werden vom Verfasser genannt:
- Jenen Muslimen, die sich „bewusst für unser freiheitliches säkulares Gemeinwesen entschieden haben … Argumente für das Gespräch mit Vertretern der politisch-medialen Klasse an die Hand zu geben“ (S. 10).
- „Dem nicht muslimischen Bürger fundierte Aussagen (zu) liefern, mit denen er die alltäglichen Schönfärbereien zurückweisen und die Saumseligen und Bequemen der politisch-medialen Klasse zur Wahrhaftigkeit auffordern kann“ (S. 10ff).
Diskussion
Karl-Heinz Ohlig stellt die Vorgehensweise Nagels in seiner Rezension zu einem früheren Buch des Verfassers („Mohammed“) wie folgt dar: Nagel interpretiere seine Quellen durchaus „islam-kritisch“. Leider aber gehe er nicht historisch-kritisch vor: Er stelle niemals die Frage nach der Zuverlässigkeit und damit auch Verwertbarkeit der außerordentlich vielfältigen arabisch-islamischen Quellen (vgl. Karl-Heinz Ohlig: Tilman Nagel, Mohammed. Leben und Legende, R. Oldenbourg Verlag: München 2008; in: imprimatur 41, 2008, S. 319-322). Dieser unkritische und einseitig-selektive Umgang mit Quellen zieht sich auch durch das hier zu besprechende Werk. Wie aber interpretiere ich „richtig“?
In einem lesenswerten Artikel der Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur (Universität Hamburg) aus der Neuen Zürcher Zeitung vom 12.01.2014 wird die Frage adressiert, was die islamische Theologie zu Gewalt und Terror zu sagen hat. Dabei wird folgende Vorgehensweise bei der Auslegung des Islam vorgeschlagen: „Alles, was zu einer bestimmten Fragestellung offenbart wurde, muss in seiner Gesamtheit betrachtet werden. Der Fokus darf nicht auf einzelnen Fragmenten liegen“… „Wenn alle relevanten Textstellen zusammengebracht sind, muss das „Allgemeine“ vom „Spezifischen“ und das „Bedingte“ vom „Absoluten“ unterschieden werden. So müssen auch die eindeutigen Verse gesondert werden von den mehrdeutigen“. Amirpur fasst zusammen: Es ist also, kurz gesagt, nicht gestattet, einen Vers zu zitieren, ohne den gesamten Koran und alle Überlieferungen zu beachten. Wenn es also Verse im Koran gibt, die Gewalt scheinbar legitimieren (z.B. Sure 22,39), muss gesehen werden, dass dieser Vers eine konkrete politische Aktion im Jahre 630 erklärt (der Prophet marschierte nach Mekka ein, um die heidnischen Mekkaner zu bekämpfen). Eine allgemeine Anweisung zu gewalttätigem Handeln für alle Muslime lasse sich aus dem Vers folglich nicht ableiten. Und: Die islamische Theologie besitze genügend argumentative Ressourcen, um dem sog. Islamischen Staat entgegenzutreten (Amirpur 2014).
Zwar betont auch Nagel eine solche Vorgehensweise, wenn er schreibt: „Koran und Prophetenüberlieferung sind keine Blaupause; ihr Inhalt ist durch die Zeitumstände ihrer Entstehung geprägt; die Verwirklichung dieses Inhalts unter gänzlich veränderten Zeitumständen kommt einer Vergewaltigung des Gegenwärtigen gleich“ (S. 326). Aber er kommt zu ganz anderen Schlussfolgerungen als Amirpur, weil er sich nicht an seine eigenen Worte hält. Im Register seines Buches findet man z.B. unter dem Stichwort „Gewalt“ Verweise auf die Seiten 242, 308, 357, 363 und 369. Auf diesen Seiten interessieren ihn „die zahlreichen Koranstellen und Prophetenworte, die zur Gewaltanwendung gegen Andersgläubige auffordern (z.B. Sure 9, Vers 5 und 29) und den absoluten Geltungsanspruch des Islam verfechten…“ (S. 242).
Fazit
Wir sollten aufpassen, wenn von der „Deutschen Kultur“ und „Deutschen Werten“ gesprochen wird, die in Reinform bewahrt werden sollen. Was anderes verbirgt sich hinter solchen Phrasen als pure Ideologie?
Wir sollten aufpassen, wenn von „den“ Muslimen gesprochen wird. In seinem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 29. März 2015 zeigt Wolfgang Günter Lerch sehr deutlich die Spaltung der islamischen Welt auf. Im Jemen, so Lerch, stehen sich derzeit die beiden wichtigsten Führungsmächte der islamischen Welt gegenüber: Saudi-Arabien für die Sunniten, der Iran für die Schiiten: „Sie streiten nicht nur über die Vorherrschaft im Islam, sondern auch in ihrer Region, in der ein großer Teil des Erdöls der Welt gefördert wird“ (Lerch 2015). Hier von einer einheitlichen islamischen Kultur auszugehen, ist wiederum eine grobe Verallgemeinerung.
Nagel führt seine Argumentation sehr eng und reduktionistisch. Er schafft Sündenböcke in einem Ausmaß, welches es so in der Realität nicht gibt. Er führt keine rationale, wissenschaftlich fundierte, sondern vor allem eine ideologische Debatte. Diese ist unauflöslich verbunden mit Fragen der Armut, des Nationalismus und des Rassismus.
Der amerikanische Politikwissenschaftler Robert Putnam (2007) diagnostizierte, dass ethnische Diversität sich in der heutigen Zeit unaufhaltsam verbreiten wird. Weiter stellte er fest: Größere Diversität in einer Gemeinde stehe in engem Zusammenhang mit weniger Vertrauen sowohl zwischen als auch innerhalb ethnischer Gruppen. Nationalstaaten würden sich vielleicht auflösen und kulturelle Enklaven an ihre Stelle treten. Der Druck des sozialen Wandels würde dadurch erheblich nachlassen; kulturelle Identität könne dann besser bewahrt werden.
Eine solche Zukunftsdiagnose scheint mir wesentlich realistischer zu sein als das eher mittelalterliche Bild einer rachsüchtigen und von Eroberungswahn geprägten Religion. In diesem Zusammenhang sei noch auf die vielgelobte ironische Parabel des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq „Unterwerfung“ (2015 auf Deutsch erschienen) verwiesen, die die Machtübernahme eines muslimischen Präsidenten in Frankreich zum Thema hat: Auch eine Art von politischer Inkorrektheit – die aber ganz ohne Attacke gegen die islamische Religion und ihre Gläubigen auskommt.
Rezension von
Prof. Dr. Joachim Thönnessen
Hochschule Osnabrück, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Studium der Philosophie und Soziologie in Bielefeld, London und Groningen; Promotion in Medizin-Soziologie (Uniklinikum Giessen)
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