Victor Chu: Scham und Leidenschaft
Rezensiert von Elisabeth Vanderheiden, 08.04.2015

Victor Chu: Scham und Leidenschaft. tredition GmbH (Hamburg) 2014. 232 Seiten. ISBN 978-3-8495-9439-8. 22,90 EUR.
Thema
Chu und de las Heras folgen vom Ansatz her Leon Wurmser in seiner Beschreibung der Scham als „Hüterin der Menschenwürde“, die den Wesenskern des Ichs schützt, insbesondere im Hinblick auf seelische Verwundungen. Zugleich betrachten sie aber Scham auch als etwas, das es zu überwinden gilt, um zur eigenen Mitte zu finden. Denn nach ihrer Auffassung sind es übermäßige Scham und destruktive Leidenschaft, die Triebfeder für eine Vielzahl psychischer Störungen sein können, z. B: Selbst- und Fremdmissbrauch, Abhängigkeiten und Psychosen etc. (9). Grund dafür sind häufig in der frühen Kindheit erworbene seelische Wunden, die es zu heilen gilt, wozu das Buch einen Beitrag leisten will.
Autor und Autorin
Victor Chu stammt aus Shanghai, ist Arzt und Diplompsychologe. Er arbeitet als Gestalttherapeut, Ausbilder in Gestalttherapie und und Familienstellen sowie als Tai-Chi-Lehrer. Brigitta de las Heras war Diplomsoziologin und Heilpraktikerin für Psychotherapie. Sie war viele Jahren als Gestalttherapeutin in eigener Praxis in der Nähe von Frankfurt und als Ausbilderin im Gestalt-Institut Heidelberg tätig.
Aufbau und ausgewählte Inhalte
Chu und de las Heras stellen ihrem Buch vier Thesen voran:
- Die angebliche Schamlosigkeit unserer Zeit ist Zeichen tiefer Scham: Denn Schamlosgkeit ist eigentlich eine Art der Schamabwehr.
- Scham stellt die individualisierte Form tabuisierter gesellschaftlicher Konflikte dar: Das, wofür wir uns schämen, weist hin auf die ungelösten Konflikte unserer Zeit.
- Scham ist ein Thema für Männer und Frauen: Frauen sollten die Scham, die ihnen seit Jahrtausenden anerzogen wird, ablegen, Männer ihre natürliche Scham neu entdecken
- In unserer Scham und unserer Leidenschaft liegt das Wertvollste in uns verborgen. Dazu muss es aber von destruktiven Anteilen befreit werden. (8)
Chus und de las Heras´ Buch umfasst insgesamt 28 Kapitel, die sich sehr unterschiedlichen Facetten der Themen Scham und Leidenschaft widmen. Dabei vertreten sie einen durchaus ambivalenten Schambegriff: Scham einerseits verstanden als „Hüterin der Unschuld“ (9) und der Würde, anderseits Scham als starkes Entwicklungshindernis für die eigenen Entwicklung. Sie definieren Scham als kulturübergreifendes universelles Gefühl. Ihrer Auffassung nach liegt in der Scham das Wertvollste eines Menschen verborgen: sein innerster Wesenskern (10). Mit ihrem Buch wollen sie einen Beitrag dazu leisten, durch diese Schamhülle wieder zurück zu diesem eigenen Wesenskern zu gelangen. Im Zusammenhang damit steht aus Sicht der Autor_innen die Leidenschaft, die verstanden wird als Quelle der Hingabe. Lust und Begeisterung stellen gewissermaßen die wichtigste Triebkraft für Wachstum und Entwicklung dar (12). Dabei gehen sie davon aus, dass der freie Zugang zum Wesenskern (ohne destruktive Schamverhüllung) nötig ist, um ein leidenschaftliches Leben führen zu können.
Die Autor_innen vertreten die Auffassung, dass sowohl Scham als auch Leidenschaft eine positive und eine destruktive Erscheinungsform haben, wobei die destruktiven Dimensionen auf frühkindliche Verwundungen zurück gehen, die es zu heilen gilt, um diese Ressourcen voll ausschöpfen zu können.
Beispielhaft sollen nun drei Kapitel des Buches genauer beleuchtet werden:
- Scham der Flüchtlinge und der Vertriebenen
- Männerscham
- Frauenscham.
Im Kapitel „Scham der Flüchtlinge und Vertriebenen“ wird die Scham-Thematik als ein Beispiel für die Weitergabe existentieller Verunsicherung und Scham an die nächste Generation illustriert. Dabei gehen die Autor_innen zunächst auf die Flüchtlingsbewegungen der vertrieben Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges ein. Sie beschreiben die Ausgangslage dieser Menschen als existentiell bedrohlich, extrem traumatisierend, als einen „Totalangriff auf ihre Körper, ihre Psyche und ihre menschliche Würde.“ (99).
Sie führen vier Überlebensstrategien ausführlicher aus:
- Trotz (im Sinne der Kultivierung des Anders-Seins)
- Resignation (Verhaftet sein im Opfer-Status und Betrauern der Vergangenheit)
- Revanchismus (Flucht in Phantasien über die Rückkehr und Wiedergutmachung)
- Überanpassung durch Leistung (Schamkompensation durch Ehrgeiz, Rehabilitation durch Leistung und sozialen Aufstieg).
Die Autor_innen zeigen unterschiedliche Konsequenzen für die Kinder in diesen Familien auf und verweisen z. B: darauf, dass diese Kinder existentielle Verunsicherungen in einer sehr prägenden Lebensphase erfahren, zugleich ihnen aber auch das unverarbeitete elterliche Leid und deren unterschwellige Scham aufgebürdet wurde. Dies alles und die häufig erfahrene soziale Ausgrenzung und vielfältige Demütigkeitserfahrungen führten – so Chu und de las Heras – dazu, dass Flüchtlingskinder sich doppelt beweisen mussten: nach innen: denn die Familien mussten oft intensiver füreinander einstehen, aber auch nach außen, denn Flüchtlingskinder mussten immer wieder in der Gesellschaft ihren Wert und ihre Leistungsfähigkeit beweisen. Als entscheidend für die Unterbrechung dieses Musters betrachten die Autor_innen die familiäre Aufarbeitung dieser kollektiven Scham.
Im Kapitel „Männerscham“ widmen sich die Autor_innen dem faktischen Schamverbot für Männer. Zum aktuellen Männerimage gehören auch heute noch eher Stolz und Ehre als Scham, so die Autor-Innen. Scham ist für die meisten Männer immer noch ein Tabu, was dazu führt, dass Männer ihre Scham verbergen, vor sich selbst, aber auch vor ihren Geschlechtsgenossen. In Ergänzung dazu führen sie aus, dass Männer einem enormen Leistungsdruck ausgesetzt sind, weil sie – viel stärker als die Töchter – Projektionsfläche des elterlichen Ehrgeizes sind. Gelingt es nicht, diesen Leistungserwartungen gerecht zu werden, vor allem in finanzieller Hinsicht und auf den sozialen Status bezogen, ist dies extrem schambesetzt. Werden diese Erwartungen nicht erfüllt, kann es zu Aggressionen (gegen sich und andere) kommen. Chu und de las Heras beschäftigen sich ausführlicher mit Väter-Sohn-Beziehungen, die auch heute noch oft von größerer Distanz und geringer Zärtlichkeit geprägt zu sein scheinen als Beziehungen von Vätern zu ihren Töchter. Sie beschreiben zudem, dass Männer gerade in ihren Beziehungen zu ihren Müttern häufig lernen, Beziehungsgrenzen zu andern (vor allem zu Frauen) zu missachten und ungestraft überschreiten zu dürfen. Die Autor_innen fordern, dass Männer, das ihnen immer noch weitgehend zugestandene Machtmonopol mit anderen teilen, nicht nur mit Frauen, sondern mit allen relevanten Gruppen (alten Menschen, Zugewanderten etc.).
Als tiefste (männliche) Scham definieren Chu und de las Heras die Scham vor der erotischen Anziehung in Bezug auf andere Männer und leiten davon auch die Diskriminierung homosexueller Männer und ihrer Beziehungen ab. Sie verweisen darauf, dass sich viele Männer zudem „ungenügend bis minderwertig“ in ihrer Sexualität fühlen, was in höchstem Maße schambesetzt ist. Die Autoren streifen zudem noch kurz das Thema sexuelle Gewalt gegen Jungen und Männer und betonen, das gerade die eigene Auseinandersetzung mit Scham und Verletzbarkeit ein entscheidender Schlüssel dazu ist, den eigenen männlichen „Größenwahn, unsere Gewaltbereitschaft und unsere Übergriffe auf Schwächere abzubauen.“ (184). Das Kapitel schließt mit einer tabellarischen Übersicht über sogenannte Frauen- und Männerideale.
Im Kapitel „Frauenscham“ widmet sich Brigitta de las Heras intensiv dem Thema weibliche Scham und kommt dabei zur Einschätzung: „Wenn wir davon ausgehen, dass übermäßige Scham vor allem dann entsteht, wenn Menschen abgewertet, in ihren Rechten und in ihrer Würde missachtet und von einer herrschenden Schicht diskriminiert und ausgebeutet werden, ohne dass diese Demütigungen und Verletzungen als solche benannt, geschweige denn verantwortet werden, dann sind Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft besonders prädestiniert für übermäßige Scham.“ (187). Zugleich beschreibt sie, dass diese Struktur in fast allen Bereichen zwischenzeitlich aufbrechen und zu Veränderungen in den stereotypen Zuweisungen führen, ohne dass bereist von einer Überwindung dieser Einschränkungen gesprochen werden kann. De las Heras thematisiert ausführlich die Diskriminierung von Frauen durch Sozialisation, die unterschiedliche Bewertung von Erwerbs- und häuslicher Reproduktionstätigkeit sowie Genderstereotypen in den Medien, um sich dann ausführlich den Themenkomplexen von Frauengesundheit und weiblicher Sexualität zuzuwenden. Sie folgert in Bezug auf die „weibliche“ Scham: „Übermäßige Scham entsteht, wenn wir immer wieder Demütigungen und Zurückweisungen ausgesetzt sind, wenn wir bloßgestellt und verlacht, ignoriert und ausgeschlossen, belogen, verraten und missbraucht werden. Aber auch, wenn wir den Normen und Standards nicht entsprechen, wenn wir versagen und uns blamieren oder wenn wir unsere eigenen Werte missachten. Doch auch ein Außenseiterinnenstatus ist mit Scham verknüpft und manchmal auch die unerwartete Erfahrung, gelobt zu werden und im Mittelpunkt zu stehen.“ (201). Als typisch weiblichen Umgang mit Scham beschreibt De las Heras das besondere Bedürfnis vieler Frauen, sich anzupassen, den vorgesehen Idealerwartungen zu entsprechen, anderen zu dienen und ihnen zu helfen. Als weitere Schamabwehrstrategien von Frauen erwähnt sie Schweigen, Rückzug oder Isolation, aber auch die Flucht in Sucht und Zwänge oder auch Arroganz und Überheblichkeit gegenüber Anderen. Zur Überwindung dieser toxischen Scham empfiehlt sie – nach Innen - das Annehmen der zugrundeliegenden Verletzungen und Beschämungen, - nach Außen – die Aufnahme vertrauensvoller Beziehungen zu anderen und den respektvollen Umgang mit sich und anderen.
Fazit
Dieses Buch von Victor Chu und der inzwischen verstorbenen Brigitte de las Heras ist eher eine Art Selbsthilfebuch als eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik. Es will Menschen ermutigen, sich mit ihrer eigenen Scham auseinanderzusetzen, verbunden mit dem Ziel sich mit den eigenen Erfahrungen von Scham wieder vertraut zu machen, auch um dadurch Zugang zur Scham anderer Menschen zu finden. Dies ist aus Sicht der Autor_innen von entscheidender Bedeutung für unsere sozialen Beziehungen: „Wenn es uns gelingt, Menschen, die uns nahestehen, zu vertrauen und unsere inneren Scham-Barrieren zu überwinden, können wir erleben, wie beglückend und erleichternd es ist, uns einander gegenseitig unsere schambesetzten Seiten anzuvertrauen.“ (10).
Das Buch ist gut lesbar, enthält am Ende auch einige Impulse für die Versöhnungsarbeit und eine Phantasiereise. Besonders positiv ist, dass es sich ausführlicher der oft vernachlässigten Gender-Dimension der Schamthematik widmet und auch den gesellschaftspolitisch gerade besonders aktuellen Aspekt von Flüchtlingsproblematik und Scham in den Blick nimmt.
Rezension von
Elisabeth Vanderheiden
Pädagogin, Germanistin, Mediatorin; Geschäftsführerin der Katholischen Erwachsenenbildung Rheinland-Pfalz, Leitung zahlreicher Projekte im Kontext von beruflicher Qualifizierung, allgemeiner und politischer Bildung; Herausgeberin zahlreicher Publikationen zu Gender-Fragen und Qualifizierung pädagogischen Personals, Medienpädagogik und aktuellen Themen der allgemeinen berufliche und politischen Bildung
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