Martina Franzen, Alena Jung et al. (Hrsg.): Autonomie revisited
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 06.02.2015
Martina Franzen, Alena Jung, David Kaldewey, Jasper Korte (Hrsg.): Autonomie revisited. Beiträge zu einem umstrittenen Grundbegriff in Wissenschaft, Kunst und Politik.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2014.
422 Seiten.
ISBN 978-3-7799-3505-6.
D: 39,95 EUR,
A: 41,10 EUR.
2. Sonderband der Zeitschrift für Theoretische Soziologie (ZTS).
Der verführerische Begriff „Autonomie“
Der heftige, kontroverse, theoretische und praktische Diskurs in den Sozialwissenschaften über die Formen und Zuschreibungen zum Autonomiebegriff, und in diesem Zusammenhang zu den Modernisierungstendenzen hin zu „flachen Hierarchien“, scheint sich von den Flachgewässern und sumpfigen Gebieten bis zu den Untiefen der Existenznachschau zu vollziehen. Die Paradigmen, wie sie sich zu den Bestandsaufnahmen und Analysen über Freiheit und Gemeinschaft, Normativität und Kritik, Wahrheit und Ideologie, Recht und Subjektivität, Kapitalismuskritik und Klassenkampf und Politische Praxis Hier und Heute darstellen, verweisen ja einerseits darauf, dass mit dem traditionellen Begriff der Autonomie eher Beziehungslosigkeit und Isolation entstehen, die wiederum zu Einschränkungen bei den Ansprüchen für eine autonome Lebensführung führen (Rahel Jaeggi / Daniel Loick, Hrsg., Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/15989.php); andererseits zeigt sich an der Kritik am traditionellen Autonomie-Paradigma, dass sich der Mensch als homo faber durch denkendes Tun erschafft und entwickelt: Kooperation verbessert die Qualität des sozialen Lebens. Darin steckt der Gedanke: Global denken, lokal handeln. So lässt sich Gemeinschaft als ein „Prozess des In-die-Welt-Kommens vorstellen, in dem die Menschen den Wert direkter persönlicher Beziehungen und die Grenzen solcher Beziehungen herausarbeiten“ (Richard Sennet, Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14034.php).
Entstehungshintergrund
Die Zeitschrift ZTS wird von der Wilhelms-Universität in Münster herausgegeben. Sie versteht sich als Forum für die soziologische Theoriediskussion. Ziel ist, „die wissenschaftlichen Diskussionen zwischen unterschiedlichen Theorierichtungen wie auch allgemein den Austausch zwischen theoretischer und methodologischer Grundlagenforschung, zwischen methodischen Reflexionen und Verfahren und den vielfältigen empirischen Forschungsprogrammen und Spezialdisziplinen der Soziologie zu fördern“. Mit den Sonderbänden sollen fokussierte Themata und Begrifflichkeiten disziplinär und interdisziplinär ausführlicher als mit Zeitschriftenbeiträgen möglich, thematisiert werden. Der Herausgabe wird die Annahme zugrunde gelegt, dass zwar der Autonomiebegriff in wissenschaftlichen Forschungszusammenhängen und im öffentlichen Diskurs eine bedeutsame Aufmerksamkeit erhält, jedoch in der soziologischen Theorie nicht ausreichend und systematisch beachtet wird.
Herausgeberteam
Die Wissenschaftstheoretikerinnen Martina Franzen und Arlena Jung vom Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung und der Soziologe vom Forum Internationale Wissenschaft an der Universität Bonn, David Kaldewey, geben den Sammelband heraus. Anzumerken ist, dass das Impressum fehlt.
Aufbau und Inhalt
Mit dem Einführungsthema „Begriff und Wert der Autonomie in Wissenschaft, Kunst und Politik“ durch das Herausgeberteam werden die im wissenschaftlichen Diskurs vorfindbaren Begriffsdefinitionen dargelegt, die Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutung und Wertschätzung des Autonomiebegriffs gestellt und „Autonomie als gesellschaftstheoretische Kategorie“ festgelegt, um schließlich hinzuführen zu der disziplinären Frage, ob die Soziologie (überhaupt) einen Autonomiebegriff braucht.
Der Sammelband wird in vier Kapitel gegliedert. Im ersten wird „Autonomie als Wissenschaft“ thematisiert, im zweiten wird „Autonomie der Kunst“ reflektiert, im dritten geht es um „Autonomie der Politik“, und im vierten Kapitel werden „Autonomiekonflikte“ aufgezeigt.
Rudolf Stichweh, Direktor des Forums Internationale Wissenschaft der Universität Bonn, schlägt mit seinem Beitrag „Paradoxe Autonomie“ einen systemtheoretischen Begriff der Autonomie für die universitäre und wissenschaftliche Diskussion vor. Er benutzt dafür drei Bezugspunkte, mit denen er sein Modell für die Theorie der sozialen Systeme – Universität und Wissenschaft – begründet: Individualität, Organisation, Funktionssysteme. Weil sich die Autonomie von Funktionssystemen in der Welt des frühen 21. Jahrhunderts durch strukturelle Kopplungen und Fremdinterventionen, wie auch durch neuentstehende Formen der Selbststeuerung grundlegend von früheren Autonomievorstellungen unterscheidet, bedarf es für zukünftiges Forschen eines neuen Verständnisses des Begriffs der Autonomie.
Der Berliner Soziologe Jochen Gläser und Uwe Schimanek von der Universität Bremen entwickeln mit ihrem Beitrag „Autonomie als Resistenz gegen Beeinflussung“ einen (forschungs-)handlungs-theoretisch begründeten Autonomiebegriff, „der differenzierte vergleichende Beschreibungen von Autonomie und damit theoriegeleitete und -entwickelnde Forschung unterstützt“. Dabei richten sie ihren Fokus auf die beteiligten Akteure an den Universitäten und in der Wissenschaft. In ihr Analyseinstrument führen sie dazu Begriffsvariablen ein, mit denen sie kausale Erklärungsmuster anbieten.
Der Frankfurter Soziologe Peter Wehling formuliert mit seinem Beitrag „Reflexive Autonomie der Wissenschaft“ Überlegungen, wie eine feldtheoretische Einordnung zu einem analytischen, normativ abstinenten, Bourdieuschen Autonomiebegriff zu begründen ist. Seine Idee einer „reflexiven Autonomie des wissenschaftlichen Feldes“ relativiert die zugeschriebenen Wirkungen beim Wissenschaftshandeln, indem er sich gegen die Tendenz ausspricht, von vornherein externe Einwirkungen auf die Wissenschaft zu „brechen“ bzw. sie bis zur Unkenntlichkeit umzugestalten; vielmehr plädiert er dafür, „Impulse aus anderen gesellschaftlichen Bereichen selbstreflexiv darauf hin zu überprüfen, inwieweit sie produktiv für die Erweiterung wissenschaftlicher Wahrnehmungs- und Handlungsperspektiven nutzbar sind“.
Marc Troka vom Frankfurter Institut für Sozialforschung und Mitglied der Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik am Berliner Wissenschaftszentrum betrachtet mit seinem Beitrag „Professionelle Autonomie“ die aus der Sicht der Professionssoziologie dem Begriff zugeschriebenen Wertvorstellungen und Funktionen, wie etwa „Wert- und Wissensbindung, Institutionalisierung spezieller Praxisformen, eigendynamische Interaktion, distinkter Habitus“. Daraus entwickeln sich die Begründungen, weshalb unter professionssoziologischen Gesichtspunkten ein Autonomiebegriff gebraucht wird; nämlich, weil zum einen „Autonomie ( ) in der Professionssoziologie ein Begriff der Praxis (ist)“, zum anderen „dieser Analytik ein… empirisch belastungsfähiger Begriff professioneller Autonomie zugrunde (liegt)“, zum dritten „hilft die multidimensionale Autonomieanalytik dabei, Autonomie als rechhaltiges, empirisches Phänomen“ zu verstehen“, und viertens lässt sich „Autonomie auf der Ebene der wissenschaftlichen Praxis selbst… analysieren“.
David Kaldewey zeigt mit seinem Beitrag „Die Autonomie der Wissenschaft als semantischer Raum“ Differenzierungsprozesse zwischen Antike und Renaissance auf. Die soziologische Zuschreibung von Autonomie als sozialstrukturelle Kategorie bedarf, um analytisch und theoretisch mit dem Begriff arbeiten zu können, einer Ergänzung durch eine semantische Autonomiedefinition. Mit einer historischen Genese lassen sich Entstehung, Emergenz, Entwicklung und sich ändernde Bedeutungen des Begriffs erklären. Die vorgestellten und diskutierten Diskurs- und Semantikanalysen bieten damit die Chance für „neue Perspektiven und neue Einsichten in Prozesse, die man als die evolutionäre Vorgeschichte der Ausdifferenzierung der modernen Wissenschaft bezeichnen kann“.
Der Bielefelder Soziologe Peter Münte unternimmt mit seinem Beitrag „Die Autonomie der Wissenschaft im Ordnungsdiskurs der Moderne“ den Versuch, über den Formenwandel der modernen Wissenschaft zu reflektieren. Er setzt sich mit dem Strukturwandel auseinander und beschreibt die Veränderungsprozesse der Wissenschaftstypen und des -verständnisses. Der sich daraus ergebende Ordnungskonflikt zum Autonomieverständnis führen dazu, dass sich „Wissenschaftskulturen (herausbilden), die spezifische wissenschaftliche Verständnisse implizieren“.
Rainer Schützeichel von der Fakultät für Soziologie von der Universität Bielefeld leitet mit seinem Beitrag „Autonomie als Programm“ das zweite Kapitel ein, indem er über eine schwierige Kategorie der Kunstsoziologie nachdenkt. Er geht dabei davon aus, „dass die Programmstruktur von Funktionssystemen stets als Ankerpunkt normativer Bestimmungen gelten muss. Anhand des kunstwissenschaftlichen und -soziologischen Diskurses stellt der Autor eine Asymmetrie der Funktionsformen und -ebenen fest und fragt nach den Implikationen, die sich bei der „Ökonomisierung von Kunst“, aber auch der „Ästhetisierung durch Kunst“ in der verschiedenen Funktionszusammenhängen ergeben.
Die Kulturwissenschaftlerin von der Universität Leipzig, Tessa Nina Zahner, und die Dresdner Soziologin Uta Karstein stellen mit ihrem Beitrag „Autonomie und Ökonomisierung der Kunst“ vergleichende Betrachtungen zu der Luhmannschen Feldtheorie und der Bourdieuschen Feldtheorie an. Sie stellen dabei, trotz vermeintlicher Ähnlichkeiten, fundamentale Unterschiede zwischen den beiden theoretischen Konzeptionen fest. Die verschiedenen Positionen werden insbesondere bei der Betrachtung der Ausdifferenzierungsprozesse, etwa bei der Einschätzung von Selbstbestimmungen und Abhängigkeiten in künstlerischen Prozessen, deutlich.
Die Wuppertaler Soziologin Ivonne Küsters informiert mit ihren Beitrag „Die Produktion von Autonomie durch Subjektivierung des Heteronomen“ über ihre Forschungsergebnisse zur Organisation und zum Management von autonomer Kunst. Aus den Ergebnissen ihrer qualitativen Interviews mit KulturmanagerInnen entwickelt sie die These, „dass die Regulation potentiell konflikthafter Logiken im Bereich der Kunst auf der Akteursebene geleistet wird“. Die sich daraus ergebenden Fremdzwänge, Abhängigkeiten und Interessenskonflikte zeigen sich vor allem darin, „dass die Produktion von Autonomie in der Kunst durch die Subjektivierung von Heteronomie erreicht wird“.
Zu Beginn des dritten Kapitels reflektiert der Münsteraner Soziologe Joachim Renn mit seinem Beitrag „Einheit der Politik – Vielfalt des Politischen“ über die Autonomie des politischen Systems und die multiple Differenzierung des Politischen. Es geht um die differenten Fragen nach der Einheit und der Grenze und Begrenztheit des Politischen und damit zu der Feststellung, „dass das System der Politik seine Autonomie und seine Funktionserfüllung im Konzert multipel differenzierter Kontexte nur sichern kann, wenn es in eine entgegenkommende (kursiv, JS) Umgebung von sozialen Kontexten eingebettet ist und bleibt, die nun ihrerseits nicht funktonal differenziert sind, sondern historisch gewachsen und durch funktionale Differenzierung beeinflusst kulturell (kursiv, JS) differenziert sind“.
Der Gesellschaftswissenschaftler Basil Bornemann von der Universität Basel und der Heidelberger Politikwissenschaftler Michael Haus fragen mit dem Beitrag „Politische Autonomie“ nach den Bedeutungen des Autonomiebegriffs und schauen auf die Ebenen im politische und politikwissenschaftlichen Diskurs: Semantiken, Entwicklungslinien und Theoriekontexte. Aus den historisch vorfindbaren, gesellschaftspolitisch beobachtbaren und theoretisch systematisierenden Analysen zeigen sich eine Reihe von Konturen, etwa „dass der Begriff (Autonomie, JS) eine beträchtliche Variabilität, Formenvielfalt und Anschlussfähigkeit an sehr verschiedene Debattenkontexte aufweist“, zum anderen lassen sich mehrere übergreifende Begriffsmerkmale aufzeigen, und drittens „birgt der Autonomiebegriff… das Potential eines integrativen analytischen Brückenkonzepts innerhalb und zwischen Theoriedebatten“.
Der Bielefelder Soziologe Marc Mölders setzt sich mit seinem Beitrag „Die Erreichbarkeit der Politik“ mit den theoretischen und praktischen Entwicklungen der Governance Forschung auseinander und fragt, wo dabei die Autonomie der Politik bleibt. Weil sich Politik „als ein Mitspieler neben anderen in Prozessen kollektiver Entscheidungsfindung konzipiert“, kommt es darauf an, dem Anliegen Rechnung zu tragen, dass Politik zu Selbständerungen anregen und ermutigen sollte. Wenn aber Governance, als arbeitsteiliges Modell politischen Handelns, dahin tendiert, Autonomiereduzierungen und möglicherweise sogar -verluste herbeizuführen, kommt es darauf an, die „Polykontexuralität“ ins Spiel zu bringen, nämlich die „Multiplikation der Beobachtungsmöglichkeiten in der modernen Gesellschaft, deren besonderes Merkmal es ist, dass keine Beobachtungsmöglichkeit sich gegenüber anderen auszeichnen lässt…“ (Peter Fuchs). Es kommt also darauf an, einen „autonomen Verstehenskontext“ herzustellen: „Ein konsequentes Verständnis von Polykontexturalität ermöglicht robustere Aufklärung und Kritik“.
Das vierte und letzte Kapitel beginnt Peter Weingart (vgl. auch: Peter Weingart / Patricia Schulz,Hrsg., Wissen – Nachricht – Sensation. Zur Kommunikation zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Medien, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/16538.php). Er fragt mit seinem Beitrag „Die Stellung der Wissenschaft im demokratischen Staat“ danach, wie sich in der verfassungsrechtlichen Tradition der Freiheit und Autonomie der Wissenschaft gegenüber dem Staat und der Gesellschaft Entwicklungen zeigen, die möglicherweise sogar in Widersprüche zu Prinzipien demokratischer Politik gelangen können. Mit verfassungsrechtlichen Interpretationen des Art. 5,3 des Grundgesetzes verweist er auf Konflikte zwischen den Freiheitsgarantien der Wissenschaft und der Wissenschaftspolitik. Er gibt zu bedenken, „ob die Versuche, einen weitreichenden institutionellen Schutz für die Wissenschaft zu gewährleisten, nicht letztlich die paradoxe Folge haben könnten, … das Gegenteil zu erreichen, weil sie in Widerspruch zu den Bedingungen und Erfordernissen einer demokratisch legitimierten Wissenschaftspolitik geraten“.
Ariena Jung diskutiert in ihrem Beitrag „Autonomie als relationaler Begriff“, wie sich die Funktion und Aufgabe der wissenschaftlichen Politikberatung (und -aufklärung) gewandelt haben. Am Beispiel der Reformen und Entwicklungen in der Arbeitsmarktpolitik zeigt die Autorin die aktiven und aktivierenden Wandlungsprozesse auf und verweist auf gelingende und problematische Entwicklungen („Autonomiefalle“). Die in Beratungssituationen herangezogenen Normen und Standards dienen einerseits dazu, Professionalisierungs-, Glaubwürdigkeits- und Durchsetzungskompetenzen zu legitimieren, andererseits auch dazu, stellvertretend gesellschaftliche Problemlagen zu bearbeiten.
Stefan Böschen vom Karlsruher Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse geht mit seinem Beitrag „Autonomie-Kämpfe“ davon aus, „dass der sich gegenwärtig ausbreitende Autonomie-Diskurs seismographisch auf die ausgeweitete Indienstnahme von Wissenschaft für gesellschaftliche Zwecke reagiert“. Die Wissensgesellschaft, wie sie sich in ihren Ausprägungen, Begründungszusammenhängen und Auswirkungen auf die Menschen ankündigt, will „nicht nur die Bereitstellung von Wissensgütern verbessern, sondern ebenso zur Lösung von Konflikten oder zur Verbesserung von Entscheidungen beitragen“. Diese Veränderungsprozesse müssen bedacht, analytisch ermittelt und mit vorhandenen und neu entwickelten Analyseinstrumenten und -konzepten strukturiert werden. Die dabei vorliegenden Theorien, etwa von Pierre Bourdieu, Kurt Levin und Anthony Giddens, bieten dazu Anhaltspunkte, um „gegenwärtige Grenzziehungskonflikte zwischen Wissenschaft und anderen Bereichen der Gesellschaft zu analysieren“.
Martina Franzen betrachtet mit ihrem Beitrag „Grenzen der wissenschaftlichen Autonomie“, welche Formen und Instrumente wirksam sind, um wissenschaftliche Publikationen veröffentlichen zu können und „ob und auf welche Weise konfliktträchtige Erwartungen an Publizität aufeinandertreffen und welche Implikationen damit für die Wissenschaft einhergehen“. Sie setzt sich kritisch mit drei wissenschaftlichen Publikationskulturen auseinander: den Wissenschaftsverlagen („als Verhinderer von Wissenschaft“), dem Publikationsort („als wissenschaftlicher Karrieremotor“) und die wissenschaftliche Zeitschrift („als Plattform für die Demokratisierung von Wissen“). Mit der Analyse, den Hintergrundinformationen und einer erfahrungsorientierten Bewertung der organisationalen Verfasstheit des wissenschaftlichen Publikationswesens kommt sie zu der Einschätzung, dass die Publikationspraktiken und -zulassungen von unterschiedlichen, politischen, interessenbedingten und Autonomiedimensionen erster und zweiter Klasse bestimmt sind.
Fran Osrecki vom Wiener Boltzmann-Institut für Gesundheitsförderungsforschung beschließt den Sammelband mit dem Rat: „Autonomie von der Abweichung her denken“. Er plädiert für die Wiederentdeckung der Theoriefigur des „inoffiziellen Machtkreislaufs“, wie sie sich in der Lohmann´schen Theorie funktionaler Differenzierung findet und erklärt, wie sich die Strukturen des „offiziellen Marktkreislaufs“ umkehren. Dieses Phänomen jedoch wird im soziologischen Theoriediskurs nicht als Mangel oder Hindernis, sondern als Perspektive für einen innovativen Zugang zum Vergleich politischer Systeme betrachtet: „Denkt man funktionale Differenzierung von der Abweichung her, so ist es naheliegend, als mögliches empirisches Forschungsprogramm die unbeabsichtigten Nebenfolgen von Reformmaßnahmen in den Blick zu nehmen, die soziale Systeme auf die strenge Einhaltung ihrer eigenen formalen Selbstbeschreibungen einzuschwören versuchen“.
Fazit
Autonomie als einerseits abgeschriebener, überholter, andererseits als aktuell moderner und perspektivenreicher Begriff wird im wissenschaftlichen Diskurs hoch gehandelt. Insbesondere in der Soziologie führen Fragestellungen nach der Bedeutung von Autonomie für soziale Daseinsformen und -existenzen darum, den normativen, öffentlichen Begriffsverwendungen deskriptive und analytische Beschreibungen entgegen zu setzen. Das erfolgt zum einen dadurch, Autonomie als gesellschaftlichen Wert zu definieren; zum anderen aber – und das in zunehmendem, engagiertem Maße – werden Theorie- und Praxisfragen danach gestellt, wie Autonomie konzeptionell gefasst ist und Autonomiegewinne und- verluste empirisch zu ermitteln sind. Die Autorinnen und Autoren im Sammelband „Autonomie revisited“ setzen sich mit der „Differenz zwischen einer analytischen Begriffsverwendung und der Auseinandersetzung mit einem in der sozialen Realität bzw. in konkreten gesellschaftlichen Kontexten gegebenem Wert“ auseinander. Die anfangs, an das Fach gerichtete Frage: „Braucht die Soziologie einen Autonomiebegriff?“, wird mit den einzelnen, disziplinären und interdisziplinären Beiträgen aus soziologischer Sicht differenziert, aber positiv beantwortet, und zwar nicht als Abgrenzung zu anderen, wissenschaftlichen Auseinandersetzungen und Theoriebestimmungen, sondern indem erste Pfeiler einer entstehenden Brücke hin zu interdisziplinären Anschlüssen gesetzt werden.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 06.02.2015 zu:
Martina Franzen, Alena Jung, David Kaldewey, Jasper Korte (Hrsg.): Autonomie revisited. Beiträge zu einem umstrittenen Grundbegriff in Wissenschaft, Kunst und Politik. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2014.
ISBN 978-3-7799-3505-6.
2. Sonderband der Zeitschrift für Theoretische Soziologie (ZTS).
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17917.php, Datum des Zugriffs 08.11.2024.
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