Veronika Wittmann: Weltgesellschaft
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 08.12.2014
Veronika Wittmann: Weltgesellschaft. Rekonstruktion eines wissenschaftlichen Diskurses. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2014. 371 Seiten. ISBN 978-3-8487-1412-4. D: 69,00 EUR, A: 71,00 EUR, CH: 99,00 sFr.
Die Soziologie der globalen Dynamiken
Die (Eine?) Welt wächst zusammen! Die sich immer interdependente und entgrenzender entwickelnde Welt chargiert zwischen Skylla und Charybdis, oder, um es platter auszudrücken, zwischen Himmel und Hölle. Die Prognosen und Visionen über die Weltentwicklung fallen je nach philosophischem, politischem oder ideologischem Standpunkt auch in dieser Spannweite aus. Die globalen Trends, wie sie von den internationalen Weltkommissionen als Mahnung, Madrigal und Magie in den Weltdiskurs gebracht werden, zeichnen in gleicher Weise die Paradigmen zwischen Konflikt und Kooperation auf. Immer steht dabei die Herausforderung im Mittelpunkt, die lokalen und globalen Entwicklungen human durch einen Perspektivenwechsel zu bewältigen und zu realisieren, was als globale Ethik der Menschheit aufgetragen ist, dass nämlich „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“ (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte). In der “Agenda 21“, dem globalen Aktionsprogramm der Vereinten Nationen von 1992, wird der Zustand der Welt eindringlich formuliert: „Die Menschheit steht vor einem entscheidenden Punkt ihrer Geschichte. Wir erleben eine zunehmende Ungleichheit zwischen Völkern und innerhalb von Völkern, eine immer größere Armut, immer mehr Hunger, Krankheit und Analphabetismus sowie eine fortschreitende Schädigung der Ökosysteme…“. Die mit der UN-Millenniumskampagne 2000 ausgewiesenen Ziele für eine bessere, gerechtere und friedlichere Welt lassen sich, zumindest bis zum projizierten Jahr 2015, nicht erreichen. Die im Fischer Weltalmanach 2014 aufgelisteten Zahlen, Daten und Fakten zur Weltentwicklung zu den Bereichen „Rohstoffe, Naturkatastrophen, Kriege, Krisen und Konflikte, Militärausgaben und Waffenhandel, Raumfahrt“ verdeutlichen die Problemfelder, die heute und morgen vor uns stehen. Nationalismen, Fundamentalismen, Rassismen und Kapitalismen hemmen die Zuversicht, dass es (eines Tages!) gelingen könne, die heutige „Risikoweltgesellschaft“ (Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, 2007, www.socialnet.de/rezensionen/4820.php) zu verändern, die vorhandenen Störanfälligkeiten, Gefahren- und Bedrohungspotentiale zu erkennen, zu handhaben und Sensibilitäten und Kompetenzen hin zu einer humanen Weltgesellschaft zu entwickeln (Herfried Münkler, Hrsg., Handeln unter Risiko. Gestaltungsansätze zwischen Wagnis und Vorsorge, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10384.php). Bedeutsam ist dabei auch, danach zu fragen, wie die Welt geworden ist, wie sie wurde (Gerhard Hauck, Globale Vergesellschaftung und koloniale Differenz, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13526.php).
Entstehungshintergrund und Autorin
Wie bereits oben ausgeführt, ist der lokal-globale Diskurs um eine bessere, gerechte und humane Welt wissenschaftlich und zivilgesellschaftlich in vollem Gange. Bei der Fülle der öffentlichen Wortmeldungen ist es für Experten und Alltagsmenschen nicht leicht, einen Leitfaden zu erkennen und Utopie von Ultima ratio unterscheiden zu können. Das Bewusstsein, dass jeder Mensch tagtäglich in seinem individuellen und gesellschaftlichen Dasein die Verantwortung für eine humane Gegenwart und Zukunft der Menschheit mit sich trägt, fordert die Menschheit auf, inklusiv humanistisch zu denken und zu handeln (Christoph Antweiler, Mensch und Weltkultur. Für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung, www.socialnet.de/rezensionen/10879.php). Im wissenschaftlichen Diskurs geht es darum, die disziplinäre und interdisziplinäre Aufmerksamkeit auf die Weltentwicklung zu lenken und die Theorien und Konzepte für eine Weltgesellschaft in den Blick zu nehmen.
Die soziologischen Aspekte dazu werden mit der vorliegenden Habilitationsschrift aufgezeigt. Veronika Wittmann vom Institut für neuere Geschichte und Zeitgeschichte der Johannes Kepler Universität in Linz/Österreich benutzt dazu drei Zugänge: Die soziologische Systemtheorie, den kosmopolitischen Ansatz und die World-Polity-Forschungen. Die Forschungsarbeit wurde von Franz Nuscheler betreut, der in der „globalen Community“ eine erste Adresse hat (vgl. dazu u.a.: „Handbuch der Dritten Welt“, 3. Aufl., 1993; sowie: Thomas Fues / Jochen Hippler, Hg., Globale Politik. Entwicklung und Frieden in der Weltgesellschaft. Festschrift für Franz Nuscheler. Sonderband der Stiftung Entwicklung und Frieden, Verlag J. H. W. Dietz Nachfolger, Bonn 2003, 400 S.).
Aufbau und Inhalt
Die Autorin gliedert ihre Forschungsarbeit in fünf Kapitel.
- Im ersten legt sie eine „Begründung der soziologischen Relevanz“ vor;
- im zweiten informiert sie über ihr Forschungsdesign;
- im dritten diskutiert sie die unterschiedlichen Begriffsbildungen und -verwendungen von „Gesellschaft;
- im vierten, dem Hauptteil ihrer Arbeit, setzt sie sich mit den „soziologischen Theorien zu Weltgesellschaft“ auseinander;
- und im fünften Kapitel ordnet sie die Thematik in die soziologische Wissenschaftsdisziplin ein.
In ihren Argumentationen über das Für und Wider im Globalisierungs- und Weltgesellschaftsdiskurs diskutiert Veronika Wittmann im ersten Kapitel die vielfältigen, historischen, politischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Dimensionen und verdeutlicht eine „soziale Inhomogenität in der Weltgesellschaft“. Es sind insbesondere die hegemonialen (Nord-Süd-)Entwicklungen, die zur Kritik im (welt-)gesellschaftlichen Diskurs herausfordern und in der Soziologie ein neues Denken bewirken; etwa mit der aristotelischen Auffassung, dass das Ganze (die Welt) mehr sein muss als die Summe seiner Teile (der Nationen, Völker, Gesellschaften).
Dass bei diesem, ganzheitlich bestimmtem „Welt“- Unternehmen der Blick darauf gerichtet werden muss, wo, wann und wie die meinungsbildenden Akteure ihr Weltbild entwickeln, begründen und durchzusetzen versuchen, erläutert die Autorin im zweiten Kapitel. Sie geht dabei davon aus, dass „der wissenschaftliche Diskurs zu Weltgesellschaft ( ) mit bestimmten Medien…, in konkreten Organisationen …und von verschiedenen AkteurInnen … gestaltet (wird)“.
Im dritten Kapitel wird deutlich, dass die Berücksichtigung der „Variationen der Begriffsinhalte“ für eine Analyse notwendig ist. Es sind historisch und politisch bestimmte nationalstaatliche Orientierungen, kulturelle und traditionelle Zuordnungen und fachspezifische, nationale, inter-, transnationale und globale Konzeptualisierungen, die von utopischen und phantastischen Vorstellungen weg- und hinführen zu der soziologischen Begrifflichkeit einer „existente(n) Weltgesellschaft“, die für den wissenschaftlichen (soziologischen) Diskurs hilfreich sein können.
Das vierte Kapitel lenkt den Blick auf die deutschsprachige, wissenschaftliche Diskussion zum Terminus „Weltgesellschaft“. Es werden die Bielefelder Traditionen (Niklas Luhmann, u.a.) bedacht, die Münchner (Ulrich Beck) Weltgesellschaftsanalysen thematisiert, die anglophonen World Polity-Untersuchungen (John Meyer) diskutiert und den jeweiligen Theoriebildungen (Systemtheorie, Kosmopolitismus, Weltkultur) zugeordnet. In allen dezidiert fokussierten, soziologischen Theoriebildungen kommt den Fragen nach der Wertigkeit, der Realisierbarkeit und der Etablierung der weltgesellschaftlichen Initiativen eine grundlegende Bedeutung zu. Die Vergleichsanalyse ergibt sowohl Gemeinsamkeiten, etwa die makrosoziologische Ausrichtung der Diskurs- und Forschungsprozesse, was z. B. bedeutet, „dass die Welt als Bezugsrahmen der Gesellschaft genommen wird und soziologische Untersuchungen der Gegenwart auch nicht mehr ohne diese globale Ebene auskommen“, als auch Unterschiede, etwa bei der Begriffsbestimmungen von „Gesellschaft“, bei der Verwendung von singulären und pluralen Konzeptualisierungen, oder von national- und gesellschaftspolitischen Zuschreibungen. Im Forschungsansatz der Autorin, eine „Verknüpfung des World-Polity Ansatzes mit der soziologischen Systemtheorie“ vorzunehmen, eine „Verbindung des kosmopolitischen Ansatzes der Weltgesellschaft mit jenem des World-Polity Ansatzes“ herzustellen, den kosmopolitischen Ansatz der Weltgesellschaft mit dem der World Polity-Theorie zu den Aspekten der Individualisierung zu vergleichen, die kosmopolitischen und World-Polity-Traditionen im Hinblick auf deren Wissenschaftsverständnis zu befragen, und schließlich die „Rolle des (National-)Staates in der theoretischen Konzeptualisierung von Weltgesellschaft zu betrachten, ergeben sich eine Fülle von theoretischen und praktischen Anregungen, wie es gelingen kann, eine Weltgesellschaft zu entwickeln.
Im fünften Kapitel nimmt die Autorin den soziologischen Diskurs zu Weltgesellschaft auf. Sie skizziert die Fach- und historischen Traditionen, arbeitet Brüche und Entwicklungslinien heraus, prognostiziert einen „Global Shift in der Soziologie“ und formuliert Vorschläge zur „Reformulierung und Neuorientierung der soziologischen Disziplin aufgrund der globalen Realität“.
Fazit
Ein „soziologischer turn“ im „Haus der Soziologie“ ist gefordert, hin zum „globalen Haus der Soziologie“. Mit den Begriffsanalysen zu den soziologischen Termini „Gesellschaft“, „Internationale Gesellschaft“, „Globale Gesellschaft“, „Transnationale Gesellschaft“ im Vergleich mit dem Terminus der „Weltgesellschaft“ werden Begriffsbestimmungen und -verwirrungen deutlich, die den wissenschaftlichen Diskurs bestimmen. Die in der Soziologie bisher vernachlässigte Hereinnahme „der weltweiten Referenzebene des Sozialen auch um die Erkenntnis des Zusammenspiels von Global und Lokal“, gilt es zu erkennen und angesichts von Globalisierungs- und Transnationalisierungsprozessen im sozialwissenschaftlichen Diskurs zu etablieren.
Die Dissertation von Veronika Wittmann stellt ohne Zweifel für das „Haus der Soziologie“ eine Provokation dar; sie als Herausforderung anzunehmen und in den lokalen und globalen Diskurs für ein „globales Haus der Soziologie“ hineinzunehmen, wird empfohlen!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 08.12.2014 zu:
Veronika Wittmann: Weltgesellschaft. Rekonstruktion eines wissenschaftlichen Diskurses. Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2014.
ISBN 978-3-8487-1412-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17930.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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