Yvonne Blöcker, Nina Hölscher (Hrsg.): Kinder und Demokratie
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 04.02.2015

Yvonne Blöcker, Nina Hölscher (Hrsg.): Kinder und Demokratie. Zwischen Theorie und Praxis. Wochenschau Verlag (Frankfurt am Main) 2014. 237 Seiten. ISBN 978-3-7344-0002-5. D: 24,80 EUR, A: 25,50 EUR, CH: 35,50 sFr.
Demokratie muss man lernen
Diese Aussage wirkt tautologisch und eigentlich selbstverständlich; und doch, betrachten wir die Bestimmungen und Irrungen, die Menschen der Verfassungsform der Volksherrschaft zugeschrieben haben, so wird deutlich, dass es eines anstrengenden, mühsamen, anspruchsvollen und intellektuellen Engagements bedarf, um Demokratie als die beste der möglichen individuellen und kollektiven Lebensformen zu erkennen. Die Wege dahin waren weit. Sie reichen von der antiken Auffassung, dass, wie wir sie bei Aristoteles finden, die dêmokratia zwar zu den „abweichenden und verfehlten Verfassungen“, aber immerhin zu den „erträglichsten“ zählt (R.Geiger, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 111ff), bis hin zur „globalen Ethik“, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, in der es in der Präambel heißt: „Die Würde der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“ (Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte. Internationale Dokumente, Bonn 1981, S. 48). In den demokratischen Verfassungen werden diese Grundwerte für ein demokratisches Leben der Menschen auf der Erde postuliert.
Entstehungshintergrund und Herausgeberinnen
In der abendländischen Anthropologie und Lebenslehre wird der Mensch als zôon politikon, als politisches Lebewesen ausgewiesen, weil er mit Vernunft ausgestattet ist, nach einem guten, gelingenden Leben strebt, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden vermag und nicht ohne die Mitmenschen existieren kann (Aristoteles). Damit nämlich haben wir schon das Gerüst für Demokratie vor Augen. Eine Gesellschaft, die auf demokratischen Prinzipien aufbaut und funktioniert, muss also ein Interesse daran haben, diese Grundlagen im individuellen und kollektiven Leben der Menschen wirksam werden zu lassen. In der Bildung und Erziehung kommt demnach der Entwicklung hin zu Demokratiebewusstsein und der -kompetenz eine entscheidende Aufgabe zu, und zwar von Anfang an, beginnend in der Familie, im Kindergarten und in der Schule, bis hin zum lebenslangen Lernen in der Erwachsenenbildung. Dass dabei der Politischen Bildung eine Schlüsselfunktion zukommt, bedarf keiner besonderen Erwähnung, und zwar sowohl als wissenschaftlich-didaktische, als auch alltägliche Herausforderung. Werfen wir dazu noch einen Blick auf die institutionelle Verfasstheit des schulischen Lernens, dann liegt auf der Hand, dass Demokratielernen (vgl. dazu: Wolfgang Beutel / Peter Fauser, Hrsg., Demokratiepädagogik. Lernen für die Zivilgesellschaft, 2006, www.socialnet.de/rezensionen/4442.php), als ein grundlegender, verpflichtender Bildungsauftrag zu verstehen ist.
Das Göttinger Institut für Demokratieforschung weiß sich der Erkenntnis verpflichtet, dass demokratisch lernen und leben als eine anzustrebende, gute Lebensform bewusst gemacht werden muss, und zwar sowohl mit den Mitteln der theoretischen Forschung, als auch als praktische Umsetzung (vgl. dazu: Alexander Hensel / Roland Hiemann / Daniela Kallinich / Robert Lorenz / Katharina Rahlf, Hrsg., Politische Kultur in der Krise, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/15086.php). Von 2011 – 2014 hat das Institut ein Forschungsprojekt zum Thema „Kinderdemokratie“ durchgeführt, in dem es um praktische Demokratiebildung und Erforschung von Demokratievorstellungen von Kindern ging. Die Politikwissenschaftlerinnen Yvonne Blöcker und Nina Hölscher geben den Sammelband heraus und stellen die Ergebnisse des Forschungsprojektes „Göttinger Kinderdemokratie“ mit der zentralen Fragestellung vor: „Welche Demokratievorstellungen haben Grundschulkinder?“.
Aufbau und Inhalt
Der Bericht „Kinder und Demokratie“ wird in drei Kapitel gegliedert.
- Im ersten geht es mit mehreren Beiträgen um die Frage, inwiefern Politikwissenschaft als Demokratiewissenschaft definiert werden kann;
- im zweiten werden empirische Forschungsergebnisse zu Demokratievorstellungen von Kindern vorgestellt;
- und im dritten Kapitel informieren die Autorinnen und Autoren über praktische Beispiele, Methoden und Erfahrungen, wie Demokratiebildung sich konkret bei Grundschülern umsetzen lässt.
Johanna Klatt und Matthias Micus zeigen mit ihrem Beitrag „Politikwissenschaft als Demokratiewissenschaft“ auf, dass sich das Projekt Kinderdemokratie in eine Traditionslinie zur Arbeit des Göttinger Soziologen Helmuth Plessner (1892 – 1985) einfügen lässt. Es sind Parallelen, die sich in der Öffnung des wissenschaftlichen Arbeitens hin zum „Ohr-Anlegen an die politische Kultur der Gegenwart“, und in der Verzahnung der wissenschaftlichen Forschung und politischen Bildung räumlich und inhaltlich artikulieren, und gleichzeitig Theorie- und Praxislernen bei Studierenden fördern (siehe dazu auch: Benedikt Widmaier / Frank Nonnenmacher, Hrsg., Partizipation als Bildungsziel. Politische Aktion in der politischen Bildung, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12104.php).
Yvonne Blöcker und Johannes Melchert reflektieren in ihrem Beitrag „Zum Verhältnis von Kindern und Politikwissenschaft“ sowohl die semantischen und historischen, als auch die sozialen, pädagogischen, psychologischen und anthropologischen Entwicklungen und verweisen auf die Veränderungs- und Wandlungsprozesse bei der Anschauung von Kindheit Heute. Es geht um die Realisierung von Wertvorstellungen wie Meinungspluralismus, Konfliktfähigkeit und politische Verhandlungskompetenz und den Perspektivenwechsel hin zum Lernen von- und miteinander und der Vermittlung der Fähigkeit zum lebenslangen Lernen.
Nina Hölscher und die Erziehungswissenschaftlerin Susanne-Verena Schwarz setzen sich mit dem „Verhältnis von Kindern und Demokratiebildung“ in einem theoretischen Diskurs auseinander und benutzen für die Umsetzung in praktisches, politisches Lernen die systemisch-konstruktivistische Didaktik. Mit ihr nämlich kann es gelingen, das Selbstkonzept der Kinder zu stärken, die Wahrnehmung von politischen Strukturen und Wirklichkeiten zu fördern. „Dem Kind wird hier in der pädagogischen Praxis als selbständigem Wesen begegnet, wobei insbesondere die Beziehungsebene im Lehr-/Lernprozess in den Mittelpunkt gerückt wird“.
Die Sozialwissenschaftlerin Daniela Kallinich informiert mit ihrem Beitrag „Fokusgruppen und Interviews mit Kindern“ über das Forschungsdesign, die angewandten Methoden und Erfahrungen. Sie zeigt die Möglichkeiten auf, die Kinder dabei haben, ihre Vorstellungen von Demokratie und Politik kind- und situationsgerecht auszudrücken und damit auch den politischen Bildnerinnen und Bildnern Informations- und Vermittlungswege zu eröffnen.
Yvonne Blöcker beginnt das zweite Kapitel mit dem Bericht „Politisches Selbstzutrauen, Frustrationstoleranz und Partizipation von Kindern“. Mit der Aussage eines Kindes – „Mir hat am besten gefallen, dass wir Politiker waren und selbst etwas bestimmen durften“ – verweist sie auf die Möglichkeiten wie Hemmschwellen beim Politiklernen. Mit ausgewählten Planspielen und Lernbeispielen werden Kinder in die Lage versetzt, eigene Erfahrungen mit zustimmenden und konfliktträchtigen Entscheidungen zu machen: „Kinder sollten bereits früh… lernen, mit anderen Meinungen und den damit zusammenhängenden Problemen umzugehen“ (vgl. dazu auch - wenn auch nicht in erster Linie für Grundschulkinder geeignet, aber doch exemplarisch beachtenswert – Alexander Mühlen, Rollenspiele für Internationales Verhandeln, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/18194.php).
Johannes Melchert präsentiert Forschungsergebnisse mit der Feststellung: „Was Grundschulkindern wichtig ist“. Die alte, richtige, pädagogische und didaktische Weisheit, Lernprozesse alters- und situationsgerecht zu arrangieren, gilt natürlich (und in besonderer Weise) auch für Politik- und Demokratielernen. Mit einem Überblick informiert der Autor über den Forschungs- und Praxisstand zu diesem curricularen Feld. Mit den Ergebnissen aus dem Projekt der „Göttinger Kinderdemokratie“ verweist er auf Ähnlichkeiten und Unterschiede zu themengleichen oder -ähnlichen Studien. Die Aufmerksamkeits-, Interessen- und Aktionsskala bei der Themenbehandlung jedoch verdeutlicht eins: „Die Bekundung politischen Interesses (steht) in Abhängigkeit zum Konkretisierungsgrad der Frage“.
Yvonne Blöcker, Nina Hölscher und die Kultursoziologin Miriam Zimmer analysieren Kinderzeichnungen zum Thema „Miteinander leben“. In der Kommunikation über Fragen eines humanen Zusammenlebens der Menschen können bildhafte Skizzen und Abbildungen Aussagekraft über nicht ausgesprochene oder unaussprechbare Meinungen und Einstellungen haben und Anlass sein, über in Bildern ausgedrückte Befindlichkeiten, wie etwa Helfen, Fremdheit, Konflikte, Emotionen und Anteilnahme, zu sprechen.
Yvonne Blöcker und Nina Hölscher beantworten auch die Frage: „Wie Kinder mit Meinungspluralismus am Beispiel von Mehrheitsentscheidungen umgehen“. Mit ihren Forschungsergebnissen können sie aufzeigen, dass die beim Forschungsprojekt beteiligten Kinder überwiegend das demokratische Prinzip der Mehrheitsentscheidung anerkennen und als gerecht empfinden, freilich aber auch, dass eine nicht unerhebliche Zahl sich offensichtlich in ihren Meinungen auf vorgegebene, tendenzielle oder auch tendenziöse Parolen von Erwachsenen beziehen. Im allgemeinen jedoch konstatieren die Forscherinnen „aus den Überlegungen zum Zusammenhang von Meinungspluralismus und Demokratie ein hoffnungsvolles Bild“.
Nina Hölscher stellt mit ihrem Beitrag „Kinder und Konflikte“ Überlegungen zu einer demokratischen Streitkultur an. Die mittlerweile im pädagogischen Diskurs angekommene und akzeptierte Auffassung, dass Konfliktkompetenz eine wesentliche Voraussetzung für ein adäquates, politisches Denken und Handeln darstellt, liegt auch dem Forschungsdesign zugrunde. Dass beim Projekt „Kinder Konflikten mit verschiedenen Strategien begegnen“ überrascht nicht. In der Ausdifferenzierung der Rollenspielsituationen jedoch wird deutlich, dass die von den Kindern verwendeten Aktionen und Reaktionen in der Spannweite von Provozieren (Angriff) bis zum Ausweichen (Rückzug) reichen, und für das Erlernen und Erfahren einer guten Streitkultur Lernanlässe bieten.
Miriam Zimmer fragt: „Wie verhandeln Kinder?“. Sie berichtet über empirische Ergebnisse zur kommunikativen Kompetenz von Grundschülerinnen und Grundschülern in politischen Verhandlungsgesprächen. Bedeutsam ist dabei, dass die Schülerinnen und Schüler lernen und akzeptieren, dass es für Gespräche und Diskussionen Regeln geben muss, die individuell geäußerte und sich als kollektive Meinung herausbildende Standpunkte (hör- und verstehbar) werden lässt. Diese Fähigkeiten sind für alle Lernprozesse notwendig und lernbar.
Im dritten Kapitel werden Lernbeispiele vorgestellt. Johannes Melchert und Susanne-Verena Schwarz diskutieren die Möglichkeiten, „Planspiele in der Politischen Bildung – auch mit Kindern“ zu verwenden. Sie geben einen Überblick über die konzeptionelle und didaktische Entwicklung der Spielmethoden insgesamt und fokussieren ihren Beitrag auf die Darstellung und Analyse von Grundschulplanbeispielen, wie z. B.: „Eine neue Straße für Felddorf?“. Sie verweisen darauf, dass die gelegentliche Einschätzung, der Einsatz von Planspielen sei nur etwas für ältere SchülerInnen, nicht haltbar sei; es sei auch nicht angezeigt, bei Planspielen für die Grundschule „eine übermäßige Komplexitätsreduktion der Spielabläufe“ vorzunehmen; vielmehr komme es darauf an, gleichberechtigte Rollen und realitätsnahe Spielsituationen zu ermöglichen.
Susanne-Verena Schwarz fragt: „Was lernen Kinder in dem kommunalpolitischen Planspiel ‚Felddorf‘ über Demokratie?“. In der Evaluation wird deutlich, dass es möglich und sinnvoll ist, „mehrheitlich Grundschulkindern handlungsorientierte Perspektiven zu Demokratie zu eröffnen und somit einen Beitrag zur Vermittlung von Demokratie zu leisten“. Auffällig ist dabei, dass es gelungen zu sein scheint, dass Kinder beim Rollenspielen Spaß bei demokratischen Entscheidungsprozessen erleben und Verantwortungsgefühle entwickeln.
Fazit
Wenn Demokratie eine wünschenswerte, humane, für menschliche Existenz und ein gutes Leben bestimmende und passende Lebensform ist und gelebt werden kann, muss dieses Bewusstsein ganz früh in die Köpfe und Herzen der Menschen gebracht werden. Demokratielernen ist demnach eine wichtige, das Humane im Menschen befördernde Aufgabe. Dabei gilt es zu vermitteln, dass Demokratie als Existenzweise weder vom Himmel fällt, noch in die Gene gepflanzt wird, sondern erworben, gelernt und erfahren werden muss. Das Forschungsprojektes „Göttinger Kinderdemokratie“ zeigt einige Aspekte dafür auf. Es macht vor allem Mut, eine positive Grundstimmung für Demokratie als Friedens-, Freiheits- und Gerechtigkeitspositiv zu vermitteln, zu lehren und zu lernen.
Der Bericht über die Ergebnisse der Göttinger Forschung zu „Kinder und Demokratie“ sollte nicht nur für die Lehramtsausbildung zur Kenntnis genommen werden, sondern auch in der familialen und vorschulischen, wie auch in der Erwachsenenbildung Beachtung finden.
Beim Diskurs und dem Hau-Ruck für Demokratiebildung mag, angesichts des Dilemmas, dass in der Gesellschaft sich (scheinbar?) Politikmüdigkeit durchsetzt und Demokratieskepsis wächst, ein Mut-Zuspruch gerechtfertigt und ein „Demokratie-Kompass“ hilfreich sein (Jörg Dräger / Christina Tillmann / Frank Frick, Wie politische Ideen Wirklichkeit werden. Der Reform-Kompass, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/17838.php).
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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