Jan V. Wirth: Die Lebensführung der Gesellschaft
Rezensiert von Prof. Dr. Helmut Lambers, 09.02.2015

Jan V. Wirth: Die Lebensführung der Gesellschaft. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (Wiesbaden) 2014. 429 Seiten. ISBN 978-3-658-07706-8. D: 49,99 EUR, A: 51,39 EUR, CH: 62,50 sFr.
Thema
Der Autor beschäftigt sich mit dem Thema, welche Möglichkeiten und Limitationen autonomer Lebensführungen sich unter dem gesellschaftlichen Strukturprinzip funktionaler Ausdifferenzierung für das Individuum in moderner Gesellschaft ergeben und welche Konsequenzen aus dieser spannungsgeladenen Perspektive für die Gegenstandsbestimmung und Theoriebildung Sozialer Arbeit zu ziehen sind. Das Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft reflektiert Wirth als „Probleme der Lebensführung“, die sich in moderner Gesellschaft als Paradoxie von autonomer Lebensführung und gesellschaftlichen Anforderungen darstellen. Gegenstand Sozialer Arbeit sind demnach „Probleme der Lebensführung“ (S. 49) für dessen Bearbeitung eine Theorie der Lebensführung erforderlich wird. Hierzu liefert das Buch erste Skizzen.
Autor
Jan V. Wirth (Dr. phil.) ist freiberuflicher Sozialwissenschaftler und Praxisberater in Einrichtungen des Sozialwesens. Er lehrt seit 10 Jahren als Gastprofessor und Dozent an verschiedenen Universitäten, Hochschulen, Fachhochschulen und Berufsakademien Wissenschaft, Theorien und Methoden Sozialer Arbeit.
Entstehungshintergrund
Das Buch ist das Ergebnis einer Forschungsarbeit. Ziel dieser Arbeit ist die Entwicklung einer soziologischen Theorie der Lebensführung mithilfe der Systemtheorie Niklas Luhmanns. Die Arbeit wurde im Jahr 2013 mit dem Titel „Lebensführung als Systemproblem – Entwurf einer Theorie der Lebensführung“ als Dissertationsschrift an der Pädagogischen Hochschule Freiburg angenommen.
Aufbau und Inhalt
Zu Kapitel 1: Einführung. Wirth geht von der Annahme aus, dass Soziale Arbeit als professionelle Praxis und wissenschaftliche Disziplin einer gesellschaftlich fundierten Theorie der Lebensführung bedarf. Dabei geht er über das bekannte Verständnis von Lebensführung im Sinne ökosozialer und ökosystemischer Ansätze – wie sie in der Theorieentwicklung Sozialer Arbeit schon seit langem bekannt sind (z.B. Germain/Gitterman und Wendt) – hinaus. Nicht das Managen mit Ressourcen im Gegebenen interessiert, sondern die soziale Verfasstheit von Lebensführung als symbolisch vermittelter sozialer und psychischer Sinn; d.h.: Lebensführung nicht nur als individueller, sondern auch sozialer Sachverhalt. Wirth geht es nicht um eine kulturanthropologische, handlungs- oder subjekttheoretische Auseinandersetzung mit einem schillernden Begriff, sondern um eine soziologisch-systemtheoretische. Zentral geht es um die von Albert Scherr gestellte Frage: „Unter welchen Bedingungen führen Inklusion und Exklusion zu einer solchen Form von Hilfebedürftigkeit, dass sie gesellschaftlich organisierte Hilfe zum Anlass hat?“ (S. 40) und „auf welches gesellschaftliche Problem stellt die Sinnfigur ‚Lebensführung‘ eine Lösung dar?“ (S. 39). Die Arbeit soll also keine ontologisierende Antwort auf die Frage sinnvoller Lebensführung bereitstellen. Vielmehr will sie (beitragend) „Klarheit darüber … verschaffen, in Bezug auf welche gesellschaftliche Problemlagen der Begriff ‚Lebensführung‘ reagiert, welches Sinnmaterial den Begriff prägt und in Bezug auf welche Veränderungen des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft dieser Begriff eine Lösung darstellt, d.h. wovon Lebensführung limitiert wird und welche Möglichkeiten zugleich offenstehen.“ (S. 42)
Zu Kapitel 2: Der „Gegenstand“ Sozialer Arbeit. Anhand einer Auswahl von vorliegenden Theorien Sozialer Arbeit wird analysiert, wie der Gegenstand Sozialer Arbeit hinsichtlich des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft konstruiert wird. Wirth kommt zu der Feststellung, dass dieses Verhältnis in den untersuchten Theorien nicht hinreichend geklärt sei. Bei der Auswahl vorliegender Theoriebildungen der Sozialen Arbeit beschränkt sich Wirth auf einige ältere sozialwissenschaftlich-pragmatische (Addams) und fürsorgetheoretische Arbeiten (Salomon, Bäumer, Arlt, Scherpner), im weiteren auf ebenfalls ältere, antagonistisch zueinander stehende Arbeiten aus dem Kritischen Rationalismus (Rössner) und dem Historischen Materialismus (Khella), weiterhin auf einen Ansatz aus der modernen sozialpädagogischen Theoriebildung (Thiersch) und einigen VertreterInnen einer sich etablierenden Sozialarbeitswissenschaft, die in großer Bandbreite systemisch argumentieren (Germain/Gitterman, Wendt, Obrecht, Kleve/Wirth, Hosemann/Geiling, Miller, Ritscher). In einem gesonderten Unterkapitel setzt sich Wirth mit der Gegenstandsbestimmung „soziale Probleme“, hier insbesondere mit Silvia Staub-Bernasconis Sozialer Arbeit als Handlungswissenschaft auseinander. Aus der Analyse der unterschiedlichen Gegenstandsbestimmung Sozialer Arbeit begründet Wirth seine Perspektive auf den Gegenstand Soziale Arbeit als Probleme der Lebensführung. Lebensführung – als konzeptioneller und begrifflicher Rahmen verstanden – soll eine andere Perspektive auf die im Fachdiskurs vielbeachtete Bewältigungsformel von Alltag, Leben oder Lebenslauf (Thiersch, Böhnisch, Wendt) ermöglichen. Wirths Perspektive geht davon aus, dass Individuen immer schon ein selbstreferenziell sinnhaftes Leben führen. Im Kontext Sozialer Arbeit kann aus dieser Perspektive dann gefragt werden, was subjektive Handlungsfähigkeit und autonome Lebensgestaltung im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft voraussetzt. Die Perspektive Lebensführung gestattet den Blick auf das Individuum als nicht nur sozialdeterminierte Person, sondern auch auf die bei ihr als operative Autonomie erlebte Innenseite.
Zu Kapitel 3: „Lebensführung“ – Skizzen bisheriger Konstruktionen. Bevor Wirth auf die besagte Innenseite eingeht, wendet er seinen Blick auf die im Fachdiskurs anzutreffenden Theoriepositionen, die im begrifflichen Kontext (Lebensführung) Bedeutung erlangt haben. Hierbei beleuchtet er in kritischer Absicht die handlungstheoretische (Max Weber), die neomarxistisch-alltagstheoretische bzw. alltagskritische (Henri Lefebvre, Agnes Heller) und die subjekttheoretische bzw. strukturationstheoretische Perspektive (Anthony Giddens). Wirths Schwachstellenanalyse führt ihn zu seinem nicht überraschenden Hauptargument: Lebensführung kann nicht in der Handlungsdimension, sondern nur in der sozialen Systemdimension, d.h. in Sinn zurechnenden Kommunikationen beschrieben werden. Damit muss Wirth zur Theorie sozialer Systeme bzw. zu einer systemtheoretischen Konturierung von „Lebensführung“ kommen. Zunächst zum ersten Teil dieser systemtheoretischen Perspektive: zur Innenseite
Zu Kapitel 4: Lebensführung – die „Innenseite“. Mit der Innenseite von Lebensführung kommt für die Systemtheorie Unbekanntes in den Blick: der Mensch. Mit der Innenseite von Lebensführung werden die intersystemischen Beziehungen von Mensch als gleichzeitiges Prozessieren des biologischen (Körper), des psychischen (Bewusstsein) und des sozialen Systems (Kommunikation) analysiert. Den systemtheoretisch vorgebildeten Leser wird es nicht überraschen, wenn Wirth hierzu bilanzierend feststellt, dass die dem Individuum zugängliche Seite von Lebensführung sich eben nicht als autonome Führung des „Selbst“ in einer frei konstruierbaren Biografie erschließt, sondern als ein Selbst, das einerseits lernen muss, Limitationen zu erkennen und damit umzugehen, andererseits aber auch darauf angewiesen ist, Fähigkeiten zu entwickeln, die in der Komplexität der zeitlichen, sachlichen und sozialen Dimension verborgenen Möglichkeiten zu erkennen. „Insofern haftet Lebensführung unaufhebbar immer mehr Provisorisches, Vorläufiges, Prozesshaftes und Überholbares an“ (S. 205). Nach der Beschäftigung mit der Innenseite von Lebensführung erwartet man die „Außenseite“. Stattdessen widmet der Autor dem Konstrukt Lebensführung ein gesondertes Kapitel.
Zu Kapitel 5: Die Konstruktion von „Lebensführung“. Lebensführung wird systemtheoretisch reformuliert. Das bedeutet, dass die für Lebensführung traditionell ontologisch zu stellende Sinnfrage nun unter dem systemtheoretischen Primat der Herstellung von Sinn als grundsätzlich selbstreferenzieller Vorgang reflektiert wird. Lebensführung unter dieser Perspektive meint dann die individuellen Fähigkeit des Umgangs mit den Codierungen funktionaler Ausdifferenzierung, das Erkennen und Handhaben funktional spezifischer Kommunikation: „Codierungsmanagement“ (S. 211) sozusagen. Hier tut sich der Umgang mit einer Reihe von Ambivalenzen (Aktualität und Möglichkeit) sowie zeitlicher (wann/wann nicht?), sozialer (mit wem/mit wem nicht?), sachlicher (was/was nicht?) und räumlicher (nah/fern?) Komplexität auf. Die Komplexität der Zugangsbedingungen zu den gesellschaftlichen Teilsystemen wird zusätzlich erhöht durch den Prozess ihrer fortschreitenden Binnendifferenzierung (z.B. Arbeitsmarkt, Bildung und Ausbildung).
Zu Kapitel 6: Lebensführung- die „Außenseite“. Wirth kommt nun zur angekündigten Außenseite von Lebensführung. Mit der Außenseite von Lebensführung gelangt für die Systemtheorie Vertrautes in den Blick: Kommunikation. Es werden „beobachtungsleitende Aspekte“ (S. 263) einer allgemeinen Theorie der Lebensführung auf dem Hintergrund des gewählten Theorieansatzes (Theorie sozialer Systeme) thematisiert. Autonome Lebensführung wird weder als ein vorsozialer noch als ein durch die Funktionslogik gesellschaftlicher Teilsysteme determinierter Sachverhalt reflektiert. Er bewegt sich zwischen Möglichkeiten des Handelns, z.B. als Selbstexklusion (Nicht-Inklusion) sowie den Versuchen der Selbstinklusion durch den angestrebten Grad von Inklusion (z.B. Leistungs- oder Publikumsrollen). Zur Außenseite gehört schließlich auch das Erleben von Exklusion, hier als Fremdexklusion bezeichnet. So wie es bei der Innenseite von Lebensführung auf das „Codierungsmanagement“ (S. 211) ankommt, sind auf der Außenseite die Fähigkeiten des Umgangs mit den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien (Geld, Macht, Wahrheit, Gesundheit usw.) entscheidend für die als autonom erlebte Teilnahme an „gesellschaftlichen Inklusions- und Exklusionsverhältnissen“ (S. 290). Dies untersucht Wirth im folgenden Kapitel in der Zeitdimension von Lebensführung: dem Lebenslauf und der Entstehung von Hilfebedürftigkeit.
Zu Kapitel 7: Hyperinklusion im Lebenslauf. Für eine Theorie der Lebensführung ist es unumgänglich, die unterschiedliche Bedeutung von Inklusion/Exklusion zu klären. Wirth greift dabei explizit nicht auf Entwicklungs-, Verlaufs- oder Phasenmodelle zurück. Das wäre mit Blick auf den gewählten Theorierahmen auch nicht zu erwarten gewesen, denn: Differenzen ergeben sich im Kontext der unterschiedlichen Verteilungslogiken und Zugangskontrollen der jeweiligen gesellschaftlichen Funktionskontexte. Folgerichtig untersucht er die gesellschaftlichen Funktionssysteme, die im Lebensverlauf besondere Bedeutung haben. Dabei kann er unmöglich alle Teilsysteme berücksichtigen. Er beschränkt sich auf solche, die „Hyperinklusion“ nahelegen. Der Begriff Hyperinklusion (erstmals Göbel und Schmidt 1998) bezeichnet die zeitliche und soziale Inanspruchnahme und Bindung von Individuen in gesellschaftliche Teilsysteme und Organisationen, die mit der Unmöglichkeit von Selbstexklusion einhergehen. Dadurch können potentiell Möglichkeiten von anderen Inklusionschancen, die zur Deckung biopsychischer benötig werden, beschnitten werden. Hyperinklusion ist z.B. in einem Leben innerhalb einer geschlossenen Einrichtung oder einem Leben zu Bedingungen der Subsistenzsicherung gegeben. Wirth analysiert aber weiter auf der Aggregatebene funktionaler Ausdifferenzierung. Hyperinklusion sieht er in den gesellschaftlichen Funktionssystemen „Familie, Erziehung, Wirtschaft und Gesundheit“ gegeben (S. 301). Das zentrale Ergebnis der Arbeit ist, dass Hyperinklusion immer dann zu Problemen der Lebensführung führt, wenn sie zugleich die Möglichkeit der Selbstexklusion ausschließt. Potenziell kann dadurch Hilfebedürftigkeit ausgelöst werden (S. 302).
Zu Kapitel 8: Lebensführung – ein „normativer“ Ausblick. Was Luhmann´sche Theorie – paradigmatisch bedingt – nun gar nicht mehr für eine Theorie der Lebensführung leisten kann, ist die Herstellung normativer Bezugspunkte. Auf diese ist Lebensführungstheorie aber letztlich angewiesen, andernfalls könnte sie keine Aussagen über die individuellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen selbstbestimmter Lebensführung treffen. Für die Herausarbeitung der normativen Orientierung einer Theorie der Lebensführung zeigt Wirth in diesem Kapitel interessante, sich über den Begriff der Sinnerzeugung erschließende Anschlussgedanken zum Cabability-Ansatz auf. Individuen verfügen über unterschiedliche und unterschiedlich ausgebildete Fähigkeiten des sinnkonstituierenden Umganges mit unerwarteten Ambivalenzen, der „sich als Ambivalenz entwickelnde(n) Differenz von Aktualität (functioning) und Möglichkeit (cabability)“ (S. 390). Entsprechend müssen Leistungen des Wohlfahrtsstaates so arrangiert werden, dass Individuen ein Zuwachs an Verwirklichungschancen in ihrer Lebensführung zuteilwerden kann. Sozialer Arbeit fällt dabei u.a. die Aufgabe der Ambivalenzbearbeitung bei Problemen der Lebensführung zu.
Zu Kapitel 9: Das Forschungsergebnis in der Zusammenfassung. Den untersuchten Gegenstand abschließend werden die Forschungsergebnisse in 16 Punkten kurz und präzise zusammengefasst. Dabei handelt es sich natürlich nicht um Letztwahrheiten, sondern um konstruktivistische Einsichten, die Anschlusskommunikation sehr wahrscheinlich machen. Nach der Zusammenfassung der Forschungsergebnisse wirft Wirth einen selbstkritischen Blick auf seine Arbeit und die bereits erkannten produzierten „blinden Flecken“. Er verortet sie vor allem darin, dass einige wichtige Kontexte und Analysefelder unberücksichtigt bleiben mussten. Wirth benennt hier vor allem Folgeprobleme von unfreiwilligen Exklusionen (z.B. Arbeitsmarkt und daran anschließende Exklusionsverkettungen) sowie Probleme bestimmter exkludierender Inklusionsmodi (z.B. als Migrant, Muslim oder Klient Sozialer Arbeit). Weiterhin konnte die Bedeutung von Körper (und der symbiotischen Mechanismen) kaum und die des Politik- und Rechtssystem gar nicht in den Blick genommen werden. Gleiches gilt für Gruppen und organisierte Sozialsysteme. Hierdurch werden aber auch die Spannbreite des Forschungsgegenstandes und sein weiterer Forschungsbedarf deutlich.
Zu Kapitel 10: Glossar. Das abschließend erarbeitete Glossar dient nicht nur der kurzen, verständlichen Beschreibung von fünfzig verwendeten Kernbegriffen. Das Glossar soll gleichsam als Zusammenstellung solcher Begrifflichkeiten verstanden werden, die durch die Forschungsarbeit als „Theoreme“ herausgearbeitet wurden (S. 391). Theoreme allerdings, die nur dann gelten, wenn man so beobachtet, wie der Verfasser es getan hat und deshalb auch gleich darauf diese Theoreme etwas bescheidener als „Beobachtungsinstrumente“ (ebd.) tituliert.
Diskussion
Man ist zunächst erstaunt, dass eine Systemtheorie der Lebensführung vorgelegt wird. Die kann es – zumindest im engeren Sinne – eigentlich nicht geben. So wundert es nicht, dass das Einführungskapitel fast fünfzig Seiten benötigt, um den Leser an den behandelten Gegenstand „Lebensführung“ heranzuführen. Das erscheint umständlich, ist aber anscheinend nötig, um Missverständnissen vorzubeugen und auf mögliche Gefahren hinzuweisen. Diese Gefahren gehen nicht nur von der möglicherweise selbstinitiierten Erwartung aus, nun endlich eine Antwort auf die Frage geben zu können, wie Leben geführt werden soll, sondern auch von dem von Wirth favorisierten theoretischen Referenzrahmen: der Gesellschaftstheorie Niklas Luhmanns. Dieser Referenzrahmen ist für das Vorhaben nicht unproblematisch. Das wird deutlich, wenn man sich an das Ergebnis der von Michael Bommes und Albert Scherr (2000, 2012) entwickelten „Soziologie Sozialer Arbeit“ [1] erinnert. Sie zeigt auf, dass die Theorie Sozialer Systeme ein zwar notwendiger aber keineswegs hinreichender Referenzrahmen für die Entwicklung einer Theorie der Sozialen Arbeit ist. Gleiches gilt für eine Theorie der Lebensführung. Selbige ist allein mit den Mitteln soziologischer Systemtheorie nicht leistbar. Eine Theorie der Lebensführung muss – so Scherr – in der Lage sein, die spezifischen Bedingungen der individuellen Lebensführung im Kontext von Inklusionen und Exklusionen sowie die darin eingelagerten Auslösebedingungen, Möglichkeiten und Grenzen Sozialer Arbeit aufzuzeigen. [2] Wirth gibt sich mit seiner Arbeit der „Attraktion des Scherr´schen Vorschlages“ (S. 37) insoweit hin, als dass er zwar keine abgeschlossene Theorie der Lebensführung vorlegt, jedoch die dafür notwendigen Vorarbeiten leistet; eine „Theorie-Skulptur der Lebensführung in ihren ersten Grundzügen“ (S. 28) sozusagen. Dafür reicht Luhmann´sche Theorie allenthalben bzw. unter gewissen Einschränkungen. So ist es denn auch der angekündigte „Grundriss einer allgemeinen Theorie“ (ebd.).
Die angedeuteten Einschränkungen berühren die Tatsache, dass für die individuelle Lebensführung nicht von einer prinzipiellen Gleichrangigkeit der gesellschaftlichen Funktionssysteme ausgegangen werden kann. Unter dieser Perspektive ist es plausibel, dass Wirth die Teilsysteme Familie, Erziehung und Bildung sowie Wirtschaft und Gesundheit in den Fokus stellt. Weiterhin ist nachvollziehbar, dass sich auch unter der Maßgabe hyperinkludierender Systeme kein generalisierbares Muster der für Lebensführung unverzichtbaren Teilnahmen generieren lässt. Vielmehr spielen kulturelle Einbindungen und ungleich verteilte sozioökonomische Lebensbedingungen entscheidende Rollen. Allein diese drei Faktoren zeigen, dass Luhmann´sche Theorie sich dem Bezugspunkt von Fragen der Lebensführung entzieht bzw. nach deutlichen Relativierungen und Rücknahmen ihres Abstraktionsgrades verlangt. Ein Viertes kommt hinzu: die Herstellung normativer Bezugspunkte, die für eine Theorie der Lebensführung unverzichtbar sind. Diese von Albert Scherr bereits herausgearbeiteten Vorbedingungen für die Entwicklung einer Theorie der Lebensführung [3] werden von Wirth durchaus berücksichtigt. Sein Interesse hängt dabei aber deutlich an den vier untersuchten Funktionssystemen. Hyperinklusion bei gleichzeitiger Unmöglichkeit der Selbstexklusion ist sicher ein Ansatz, zu einer differenzierteren Betrachtung des Luhmann´schen Konzeptes funktional differenzierter Gesellschaft zu gelangen. Dabei lässt sich aber – verständlicherweise – nur Ausschnitthaftes leisten. Der Untersuchungsansatz verlangt geradezu danach, die Analyse fortzusetzen und sich zu fragen, wie diese wohl für andere Funktionssysteme ausfallen würde, so z.B. für das Rechtssystem oder die Massenmedien. Da bleiben zwangsläufig viele Fragen offen. Ähnliches gilt für den gewählten Theorieansatz. Das Buch zeigt auf, dass für den Versuch einer systemtheoretisch reflektierten Theorie der Lebensführung Systemtheorie selber wieder in die Reflexion ihrer eigenen Theoriearchitektur zu bringen ist, um auf diese Weise so etwas wie Handlungsorientierung oder gar Anschlüsse zur sozialen Ungleichheitsforschung und zur Sozialen Arbeit als Handlungswissenschaft herstellen zu können. Hier bietet Wirth interessante Analysen.
Etwas anders muss wohl die Beurteilung der Auswahl der untersuchten ‚Lebensführungstheorien‘ (a) und der Theorien der Sozialen Arbeit (b) – das theoretische Sampling sozusagen – ausfallen. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – Wirth sein komplexes Anliegen, „blinde Flecken“ und „Schwachstellen“ der untersuchten Theoriepositionen aufzudecken, nur kursorisch abhandeln kann, bleibt dem Leser hier einiges unklar. Man fragt sich, wie er gerade zur Selektion der genannten Soziologien (a) kommt und weshalb andere hier nicht in den Blick geraten (z.B. symbolischer Interaktionismus oder kritische Modernisierungstheorie). Auch über die Auswahl der untersuchten Theorien der Sozialen Arbeit (b) kann man streiten, ebenfalls darüber, weshalb überhaupt Einzelbesprechungen für den intendierten Zweck angezeigt sein sollten. Aus Ersterem ergibt sich die Frage: Weshalb fehlen z.B. die an Erziehung und Bildung anknüpfenden Theorievertreter wie Klaus Mollenhauer und Michael Winkler? Und wenn man schon dabei ist, müsste der Katalog dann nicht noch viel länger werden? Hieran weiter gedacht wird dann allerdings auch Zweites klar: Lebensführung als eine Gegenstandsbestimmung in den Diskurs zu bringen, erfordert nicht zwingend die Einzelanalyse vorliegender Theorien der Sozialen Arbeit. Dass diese sich nicht, oder nur aus einer anderen Perspektive mit Lebensführung beschäftigen, ist zumindest nicht überraschend. Eine kritische Würdigung entlang der bisher auszumachenden drei verschiedenen Hauptkategorien von Theoriebildung Sozialer Arbeit würde den Leser schneller zum Thema bringen [4]. Sehr anregend schließlich ist die Auseinandersetzung mit der Gegenstandsbestimmung „soziale Probleme“ (S. 101-107). Hier bietet Wirth kritische Argumente, die dafür sprechen, den Gegenstand Sozialer Arbeit eben nicht auf soziale Probleme zu reduzieren und für deren Lösung eine Soziale Arbeit in Anspruch zu nehmen, die sich als Menschenrechtsprofession zu beschreiben versucht.
Eine Stärke der Arbeit ist sicher, dass nicht nur die Limitationen des untersuchten Gegenstandes (Lebensführung) mithilfe systemtheoretischer Reflexion aufgezeigt werden können. Ebenso werden geradezu zwingend die Begrenzungen offenbar, die durch den gewählten Theoriebezug sichtbar werden, der Luhmann´schen Theorie sozialer Systeme. Um eine Systemtheorie der Lebensführung begründen zu können, muss Wirth den in Luhmanns Gesellschaftstheorie aufgestellten – zumindest so interpretierbaren – Gegensatz von Mensch und Gesellschaft aufheben. So etwas wie Autonomie von Person scheint bei Luhmann nur außerhalb von Gesellschaft möglich, und da bleibt nur autonomes Bewusstsein, aber nicht autonome Lebensführung, die ja letztlich auf Gesellschaft angewiesen ist. Hier bietet das Buch einen spannenden Perspektivwechsel vom Exklusionsindividuum (Luhmann) zum Dividuum (Fuchs). Diese Perspektive weiterzuverfolgen scheint mir aussichtsreich zu sein. Kann die Luhmann´sche Analyse vom Menschen außerhalb von Gesellschaft aufrechterhalten werden? An dieser Stelle sei – außerhalb der von Wirth vorgenommenen Analyse – ein Verweis auf Forschungsergebnisse erlaubt, die nahelegen, dass das Soziale selbst im Vorgeburtlichen stattfindet. [5]
Es bleibt abzuwarten, was mit dem von Wirth eingebrachten Perspektivwechsel von Lebensbewältigung auf Lebensführung letztlich gewonnen werden kann. Lebensführung bringt naheliegender Weise immer auch Bewältigungsaufgaben mit sich. „Probleme von Lebensführung“ sind somit immer auch Probleme von Lebensbewältigung. Aber vielleicht ermöglicht gerade der pro-aktive Blick auf Lebensführung das Sichtbarmachen von Bedingungen, die nicht isoliert auf individuelle, sondern eben auch auf gesellschaftliche Probleme von Lebensführung rückführbar werden. Damit könnte auch systemtheoretisch klarer in den Blick geraten, was gesellschaftliche Lebensführung eigentlich bedeutet. Was die gesellschaftliche Lebensführung angeht: Müsste eine hierauf zielende Theorie der Lebensführung als Versuch einer Entparadoxierung von Mensch in moderner Gesellschaft dann aber nicht eher auf die strukturierbaren Möglichkeitsräume, als auf Limitationen verweisen? Diese scheinen nach Wirth allenfalls in der individuellen Ausbildung von Kompetenzen zu Erkennung von Limitationen zu liegen. Hier böte sich aber doch auch die Frage nach dem Potenzial sozialer, politischer Bewegungen und kritischer Öffentlichkeit an und dies schließlich im Kontext Sozialer Arbeit.
Mit dem Buch möchte der Verfasser der Sozialen Arbeit nicht nur als wissenschaftliche Disziplin, sondern auch als Praxis zu einem neuen Selbstverständnis verhelfen. Eine Systemtheorie der Lebensführung soll dazu beitragen, gegenwärtige Praxis der Sozialen Arbeit angemessen(er) reflektieren und alternative Methoden entwickeln zu können. Was das angeht, macht die sogenannte „iMap“ neugierig. Diese „Inklusions-Map“, ein Instrument zur systemischen Diagnostik, wird aber leider kaum thematisiert. Man würde sich wünschen, dass die iMap nicht nur als Appendix am Rande der Arbeit Erwähnung findet.
Fazit
Mit den kritischen Hinweisen soll keineswegs gegen dieses hoch spannende Buch gesprochen werden. Für den Fachdiskurs – besser vielleicht: die Fachdiskurse – handelt es sich um eine höchst kreative Leistung, der zu wünschen ist, dass sie die Diskurse weiterbringt. Dem systemtheoretischen Diskurs wird die alte Frage geboten: „Was tun, Herr Luhmann?“. Wirth bietet hier Antworten, die über eine rein reflexionstheoretische Inanspruchnahme der Theorie sozialer Systeme hinausgehen. Dem fachwissenschaftlichen Diskurs Sozialer Arbeit wiederum macht Wirth ein Angebot, wie die von Albert Scherr für die Soziale Arbeit in den Diskurs gebrachte Gegenstandsbestimmung „Probleme der Lebensführung“ systemtheoretisch fundiert und in Ansätzen ausbuchstabiert werden kann.
Das Buch ist eine sehr inspirierte und inspirierende Forschungsarbeit, aber schwer verständlich für alle, die sich mit der Theorie sozialer Systeme noch nicht oder noch nicht ausreichend auseinandergesetzt haben. Deshalb, aber auch weil Wirth ein für Studierende der Sozialen Arbeit neues Thema aufgreift, würde man dem Buch eine didaktisch bearbeitete Fassung mit einer lesefreundlicheren Halbierung der 445 Seiten umfassenden Form sehr wünschen.
[1] Bommes, Michael/Scherr, Albert (2012, c2000): Soziologie der Sozialen Arbeit. Eine Einführung in Formen und Funktionen organisierter Hilfe. 2., überarbeitete Auflage, Weinheim und Basel, S. 208f
[2] Scherr, Albert (2004): Exklusionsindividualität. Lebensführung und Soziale Arbeit. In: Merten, Roland/Scherr, Albert (Hrsg.): Inklusion und Exklusion in der Sozialen Arbeit. Wiesbaden, S. 55-74.
[3] A.a.O. S. 71.
[4] Z.B.: Soziale Arbeit (a) als Reaktion auf die Erziehungstatsache, (b) als Reaktion auf die soziale Ungleichheitstatsache und (c) als Reaktion auf die Bewältigungstatsache. Siehe hierzu: Rauschenbach, Thomas/Züchner, Ivo (2005): Theorie der Sozialen Arbeit. In: Thole, Werner (Hrsg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch. 2. Auflage, Wiesbaden, S. 169.
[5] Vgl. Schepper, Anna Margarita (2013): Das Soziale im Vorgeburtlichen. Interaktionstheoretische Analyse und erziehungswissenschaftliche Reflexion. Würzburg
Rezension von
Prof. Dr. Helmut Lambers
Dipl.Sozialpädagoge und Dipl.Pädagoge
Katholische Hochschule NRW, Abt. Münster
Lehrgebiet: Fachwissenschaft Soziale Arbeit
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