Lydia Maria Arantes, Elisa Rieger (Hrsg.): Ethnographien der Sinne
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 30.01.2015

Lydia Maria Arantes, Elisa Rieger (Hrsg.): Ethnographien der Sinne. Wahrnehmung und Methode in empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschungen. transcript (Bielefeld) 2014. 320 Seiten. ISBN 978-3-8376-2755-8. D: 35,99 EUR, A: 37,00 EUR, CH: 46,80 sFr.
Aus dem Gefängnis der eigenen Sinnlichkeit heraustreten
Über Sinnfragen haben Philosophen, Anthropologen, Psychologen, Pädagogen und Theologen immer wieder nachgedacht. Und sie sind, je nach zeitlichen, kulturellen, weltanschaulichen, individuellen und kollektiven Wirklichkeiten, natürlich zu unterschiedlichen Auffassungen und Interpretationen gelangt (vgl. dazu: 28.01.2014, Wer philosophiert – lebt!, www.socialnet.de/materialien/174.php).Der Mensch als vernunftbegabtes, nach einem guten, gelingenden Leben strebendes Lebewesen, ist darauf angewiesen, nach dem Woher, dem Jetztsein und dem Wohin zu fragen und die eigene Identität zu bilden (Volker Gerhardt, Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, www.socialnet.de/rezensionen/18151.php). Da liegen Suche und Finden ganz nah beieinander, und Vergewisserungen und Irrungen ebenso. Es sind existenzphilosophische, anthropologische Fragestellungen, die insbesondere bei den Ethnografen und Psychoanalytikern auf ein besonderes Interesse stoßen, weil bei Sinnsuchen das Freudsche „dritte Ohr“ eine besondere Aufmerksamkeit erfordert (Alcira Mariam Alizade; Weibliche Sinnlichkeit. Brandes & Apsel, Frankfurt, 2014. 240 Seiten. ISBN 978-3-95558-067-4. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR, CH), und in der Ethnografie „die wahrnehmende Einlassung auf die Perspektive des Anderen, ebenso wie die Sensibilität für deren Widerhall im Eigenen“ bedeutsam sind.
Entstehungshintergrund und Herausgeberinnen
Die Deutsche Gesellschaft für Volkskunde, mit Sitz in Marburg, ist beim Institut für Europäische Ethnologie / Kulturwissenschaft angesiedelt. Als Dachverband der in den Fächern Europäische Ethnologie, Empirische Kulturwissenschaft, Kulturanthropologie und den verwandten Einrichtungen tätigen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen setzt sie sich für den wissenschaftlichen, interdisziplinären Dialog ein, regt Forschungsvorhaben an, unterstützt sie und publiziert die Ergebnisse in den Jahres- und Fachtagungen und der Verbandszeitzeitschrift. Bei den Doktorand_innen-Tagungen werden insbesondere neuere Forschungsfragen diskutiert. B ei der achten Tagung im Mai 2013 haben sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein aktuelles, in den Fachdisziplinen relevantes Thema vorgenommen: Es geht darum, die (körperlichen und physischen) Sinne mit dem Kulturellen zu denken: „Die Sinne sind blind ohne die Wegweisungen des kollektiven Gedächtnisses, sie sind stumm ohne das Erzählen, taub ohne die Erfahrung, die materielle Wahrnehmungen zu Alltagspraxen formt“.
Die an der Universität in Graz tätigen Doktorandinnen Lydia Maria Arantes und Elisa Rieger geben den Tagungsband heraus.
Aufbau und Inhalt
Das Buch wird in vier Kapitel gegliedert.
- Im ersten geht es um „Theoretische Perspektiven / Methodische Ansätze“,
- im zweiten um „Apprenticeship / Zur Schulung der Sinne“,
- im dritten um „’Fakten’ spüren / Sinnliche Wahrnehmung und Geschichte“, und
- im vierten Kapitel werden „Räume / Sinne / Atmosphären“ diskutiert.
Dabei werden sowohl einzelne Sinnes-Eindrücke und Phänomene reflektiert, als auch theoretisch-methodische Neukonzeptionen und -Interpretationen thematisiert: „Die spezifisch ethnographische Zugangsweise erlaubt neue Zugänge zum Faszinosum Körper-Leib, sie stellt Selbstverständliches im Forschungsprozess heraus und anschließend die Frage, um die Welt nicht nur sinnhaft, sondern auch begrifflich neu zu fassen“. Die Autorinnen und Autoren werfen dabei auch einen Blick über den Gartenzaun, indem sie die anglo-amerikanischen Debatten um „Sensory Ethnographie“ und „Anthropology of the Senses“ in ihren Diskussions- und Forschungsprozess hinein nehmen.
Lydia Maria Arantes thematisiert mit ihrem Beitrag „Kulturanthropologie und Wahrnehmung“ die Aspekte der Sinnlichkeit in der Praxis und Theorie. Der Überblick verdeutlicht zum einen, dass wesentliche Impulse der Wahrnehmungsforschung aus dem wissenschaftlichen Diskurs der angloamerikanischen Kultur- und Sozialanthropologie kommen, zum anderen werden die Adaptionen, Interpretationen und Weiterentwicklungen aus der deutschsprachigen historisch-philosophisch orientierten Anthropologie dargestellt. Sie plädiert dabei für eine Zusammenschau der im Wahrnehmungsdiskurs konträr oder zumindest gesondert diskutierten Phänomene von der „Rolle des Sensoriums im lebensweltlichen Alltag wie auch seine sozial und kulturell unterschiedliche Gewichtung und Wertung“, sowie den (Forschungs-)Bewusstseinsprozessen, „sinnlich-leiblich in das Feld eingebunden zu sein“.
Die an der Berliner Humboldt-Universität tätige wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Graduiertenkolleg „Locating Media“, Judith Willkomm, setzt sich mit ihrem Beitrag „Mediatisierte Sinne und die Eigensinnigkeit der Medien“ für eine medientheoretische Sensibilisierung der sinnlichen Ethnographie ein. Mit ihren Feldforschungen zeigt sie auf, dass die landläufige Meinung, Medien würden zur Abstumpfung oder gar Reduzierung von Sinneseindrücken beitragen, einer kritischen Überprüfung bedarf. Sie verweist auf die Wechselwirkungen und gegenseitigen Durchdringungen von menschlicher Wahrnehmung und technischen Medien, und zwar nicht nur im Zusammenhang mit den ethnographischen Forschungsmethoden und Instrumenten, sondern auch durch die Betrachtung der Rolle der technischen Medien im Alltag und gesellschaftlichen Leben der Menschen.
Der Berliner Ethnologe Fritz Schlüter setzt sich mit seinem Beitrag „‚Sound Culture‘, ‚Acoustemology‘ oder ‚Klanganthropologie‘?“ mit den Diskursen und Entwicklungen der interdisziplinären Forschungsrichtung „Sound Studies“ auseinander. Die Forderung nach „Kulturen hören“, etwa durch die Darstellung von „Klanglandschaften“, verweist auf die Zugänge, wie sie in der kultur-anthropologischen Klangforschung praktiziert werden: „Sobald ich mich bewusst und ausschließlich darauf konzentriere, wie sich mein Umfeld anhört (kursiv), vollziehe ich ja bereits eine methodische ‚Befremdung‘“. Damit verdeutlicht der Autor einen wichtigen Aspekt, der nicht nur in der Klangforschung von Bedeutung ist, sondern sich als interkulturelle Kompetenz darstellt, nämlich mit dem „fremden Blick auf das Eigene“ zu schauen.
Die Hamburger Kulturanthropologin Inga Reimers artikuliert mit ihrem Beitrag „Ess-Settings als Versammlungen der Sinne“ das Problem der Greifbarkeit von sinnlichen Wahrnehmungen. Essen strukturiert – mehr oder weniger – unseren Tagesablauf. Rituale beim Essen sind kulturell geprägt; und „Ess-Setting“ bezeichnet die Autorin als „Situationen…, in denen Essen und Kochen bewusst als kollektive Handlungen inszeniert werden“. Sie zeigt an Beispielen auf, wie die emotionalen und sinnlichen Aspekte beim „Ess-Setting“ zur Formulierung einer „Ethnographie der Sinne“ beitragen können; etwa mit „Ethno-Mimesis“, der Möglichkeit also, mit künstlerischen Verfahren sinnliches Wissen zu generieren; oder/und mit dem „ethnographischen Experiment“; oder/und mit „situativen Gruppendiskussionen“. Die Vorschläge zum „Ess-Setting“ können dazu beitragen, um soziale Grenzen und Abgrenzungen abzubauen und zu einem humanen und gerechten Zusammenleben der Menschen zu kommen.
Im zweiten Kapitel geht es um die Schulung der Sinne. Kerstin Leder Mackley von der School of Social, Political and Geographical Sciences der Loughborough University in Großbritannien und die australische Ethnologin Sarah Pink informieren in ihrem englischsprachigen Beitrag „Framing and educating attention“ über Studien zu Fragen und zur Nutzung von Energie in privaten Bereichen. Sie zeigen Methoden und Instrumentarien auf, wie eine Sensibilisierung für Energienutzung und -einsparung durch Medien, etwa mit dem Video. Die Ergebnisse vermitteln Einblicke und Eindrücke im Zusammenhang mit „domestic energy research… one of dipping in and out of video recordings as wie sought to reconnect with participants´ sensory worlds and explore further concepts… in the context of families´ lives“.
Die Ethnologin von der Universität Vechta, Tanja Angela Kubes, stellt mit ihrem Beitrag „Living fieldwork – Feeling hostess“ die Ergebnisse einer Studie über leibliche Wahrnehmungen vor. Es handelt sich um Forschungen zu Verhaltens- und Präsentationsformen, die im Grenzgebiet zwischen Ethnologie und Soziologie angesiedelt sind, nämlich den Wandlungsprozessen von Hostessen, die bei Automobilmessen beschäftigt sind. Sie untersucht dabei die Rituale und Erfordernisse der Beteiligten, die erwarteten, modellhaften und standardisierten Verhaltensweisen ein- und auszuüben. Die „inkorporierte körperliche und leiblich wahrgenommene kulturelle und soziale performativ vollzogene Praxis“ lässt sich in der empirisch-kulturwissenschaftlich-ethnologischen Forschung mit sprachlichen Methoden kaum ermitteln; es bedarf also einer teilnehmenden, aktiven Forschung, die als „Living fieldwork“ bezeichnet wird.
Die Ethnologin von der Universität Luzern, Petra Panenka, informiert über ihr Dissertations- und Forschungsvorhaben zum „‚erlernte(n)‘ Tasten der Lakandon Maya“ bei der Tortillazubereitung in Mexiko. Bei der Beobachtung und Interpretation über die Bedeutung von haptischen Erfahrungen für traditionelles und praktisches Handeln legt die Autorin zugrunde, dass der Tast-, wie auch der Sehsinn erworben werden können: „Skilled touch“. In ihren Nachzeichnungen der haptischen Bewegungs- und Handlungsabläufe bei der Vorbereitung, Herstellung und beim Essen der Maisspeise werden Verbindungen zum Nahsinn, zu Gefühlswahrnehmungen, bis hin zu kulturell etablierten rhythmischen Bewegungsabläufen und zu spirituellen Praktiken erkennbar.
Mirko Uhlig vom Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz nimmt ein außergewöhnliches Forschungsvorhaben zu schamanischen Praktiken zum Anlass, über „Die Reise ins Knie“ zu berichten und damit auf Möglichkeiten und Erfahrungen beim ethnographischen Umgang mit Grenzphänomenen im Kontext heterodoxer Heilweisen zu verweisen. Die Klage über die „Körpervergessenheit der Geisteswissenschaften“ führen in vermehrtem Maße die so genannten „kleinen Fächer“ (siehe dazu z. B.: Stephan Conermann, Hrsg., Was ist Kulturwissenschaft? Zehn Antworten aus den »Kleinen Fächern«, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/12965.php). An einem Fallbeispiel diskutiert der Autor Möglichkeiten und Deutungsgrenzen bei der ethnographischen Arbeit und plädiert für eine dialogische Forschung auf diesem sag- und unsagbaren Gebiet.
Das dritte Kapitel „‚Fakten‘ spüren – Sinnliche Wahrnehmung und Geschichte“ beginnt die beim Forschungsprojekt „Ästhetik im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ an der FU Berlin tätige wissenschaftliche Mitarbeiterin Sandra Schnädelbach mit ihrem Beitrag „Von Sinn und Sinnlichkeit des Richtens“, in dem sie einen historischen Blick auf Konzepte juristischer Urteilsfindung in der Zeit von Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts richtet. Es ist zum einen der „Augenschein“, der bis heute als ein wesentliches Element in der Rechtsprechung dient, zum anderen das Faktenwissen und die Beweislage, die bei der juristischen Wahrheitsfindung und -produktion bedeutsam sind. Bei der Analyse der Versuche und Praktiken, „das Verhältnis von Wahrnehmung und Urteil neu bzw. näher zu bestimmen“, zeigen sich verschiedene Denkrichtungen und Konzepte, die der bis heute nicht eindeutig zu beantwortenden Frage näher zu kommen: „Was ist und wo beginnt das richterliche Urteilen?“.
Die Promotionsstipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung und Mitarbeiterin am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen, Sarah Kleinmann, berichtet mit ihrem Beitrag „Sinnliche Ethnographie an Tatorten“ über Forschungsschritte und -ergebnisse zu Ausstellungsanalysen in Gedenkstätten des nationalsozialistischen Verbrechens. Dass dabei das Phänomen und Unsagbare eine Bedeutung hat – „Von Auschwitz wissen wir mehr, als wir uns vorstellen können“ (Cornelia Brink) – liegt auf der Hand, und ist doch kaum fassbar! Die Einstellungen und Befindlichkeiten beim Forschen über dieses sensible, historische Feld bewegen sich naturgemäß zwischen dem Faktenwissen einerseits und der Empathie für die Opfer andererseits. An Beispielen zeigt der Autor die Notwendigkeit auf, bei der pädagogischen und kuratorischen Arbeit zu Ausstellungsanalysen auf, dass „sinnliche Wahrnehmung im Forschungsprozess ( ) jedoch keine theoriegeleitete Analyse ersetzen und nicht zur selbstreflexiv-narzisstischen Nabelschau werden (sollte)“.
Die Historikerin und Romanistin vom Zentrum für Wissenschaftsgeschichte der Karl-Franzens-Universität in Graz, Julia Gebke, führt mit ihrem Beitrag „Himmlische Düfte – Höllischer Gestank“ in die Kulturgeschichte am Beispiel des foetor judaicus (kursiv) im frühneuzeitlichen Spanien ein. Der so genannte „Hebräerduft“ als antijüdisches Motiv wird exemplarisch für die Geschichte der Geruchswahrnehmungen in den je spezifischen, historischen, kulturellen und ideologischen Zusammenhängen genommen. Sie haben bei der Darstellung und Analyse der Kulturgeschichte der Sinne eine besondere Bedeutung. Das Beispiel des „„neuchristlichen Geruchsstigmas“ zeigt überraschende und sinnstiftende Wahrnehmungen auf und öffnet den Blick für das Gewordensein und Wirken von eigenen, individuellen und kollektiven Sinnesmodellen.
Die an der Universität Tübingen als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätige Sarah Willner fordert mit ihrem englischsprachigen Beitrag „Doing sense with the senses“ auf, über Einstellungs- und Wissensveränderungen im Zusammenhang mit Körpererfahrungen und körperlichen Ausdrucksformen nachzudenken. „Sensory knowledge circulation“, als Wahrnehmungsmuster für Veränderungsprozesse, erfordert die mehrdimensionale Betrachtung des Körpers und „Multi-sensory perception, memory observation, reflection and interpretation depend on matters of subjectivity, time and space and different notions of materiality“.
Im vierten Kapitel „Räume – Sinne – Atmosphären“ reflektiert der als Assistent am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck tätige Jochen Bonz Veränderungsprozesse, wie sie sich im „sensual turn“ der kulturanthropologischen Forschungen als Beispiel des „Acid House als Grenze des praxeologischen Kulturverständnisses“ darstellen. Er stellt seine Forschungen zur Techno-Musik vor und stellt Überlegungen zu Formen der sensuellen Ethnographie an, verweist auf Defizite im praxeologisch-poststrukturalistischen Kulturverständnis und regt an, sich bei der Sichtung wie Überwindung von Kulturwahrnehmungen an Jacques Lancans „Unterscheidung zwischen den Dimensionen des Symbolischen, Imaginären und Realen zu orientieren“.
Die Mitarbeiterin beim interdisziplinären EU-Projektes „FREE – Football Research in an Enlarged Europe“ am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien, Nina Szogs, berichtet mit ihrem Beitrag „Emotionen / Körper / Sinne und der Fußballraum“ über ihr Dissertationsvorhaben „Migrating Football Fan Identities“ und die methodischen Zugänge zu einer Fenerbahçe-Kneipe in Wien. Sie setzt sich dabei mit den in den Fußball-Fan-Räumen üblichen Identitäten und Zuschreibungen auseinander und zeigt auf, welche emotionalen, körperlichen und sinnlichen Hürden es zu überwinden galt, um Zugang zum Forschungsthema zu finden. „Mit dem ‚mapping‘ der sozialen Hierarchien können … die Machthierarchien zwischen den einzelnen Interaktionspartner_innen und deren kulturelles Kapital im sozialen Raum herausgearbeitet werden“.
Die am Institut für Europäische Ethnologie der Ludwig-Maximilian-Universität in München tätige Simone Egger diskutiert am Beispiel von „New York City“ die Metapher „Die Stadt spüren“. Sie informiert über einen besonderen „Geruchs“- Ort, den der ehemalige Taxifahrer Christopher Bruson, gewissermaßen als Summe seiner jahrelangen „Geruchs“- Eindrücke, in New York gegründet hat, die „CB I Hate Perfume´s scent library“ und arbeitet die unterschiedlichen Geruchssinn-Situationen heraus. Sie stellt diese konkret vorfindbaren, ästhetischen und atmosphärischen Wirklichkeiten in den Zusammenhang der empirisch-kultur- und anthropologischen Forschungen und vermittelt damit Zugangsmöglichkeiten für forschendes Beobachten und Beschreiben. „Die Bandbreite reicht von Gefühlen, Sinnen und Emotionen, über Stimmungen und Befindlichkeiten bis hin zu Wahrnehmung und Ausdruck von Architektur und Kunst“.
Polina T?erkassova von der estischen Universität Tallinn plädiert in ihrem englischsprachigen Beitrag für „Sustaining a dynamic pause“, gewissermaßen für ein Innehalten und einen Perspektivenwechsel beim Musikhören und -produzieren. Am Beispiel der aus der altpersischen Literatur-(Märchen)geschichte übernommenen Forderung nach „serendipity“, also der Beachtung und Wirksamkeit von zufälligen Beobachtungen und Wahrnehmungen, die nicht darauf beruhen, nach denen nicht gesucht wurde, reflektiert sie die Möglichkeiten „by tuning ourselves to listening to the different rhythms and their interactions as well as to the breaks and silences, we can become more aware of how and why we gain certain body knowledge“.
Elisa Rieger beschließt den Sammelband mit dem Beitrag „(T)Raumerfahrungen des Körpers“, indem sie über Aktionsräume und ihre machtvollen Darstellungen nachdenkt. Das Nachdenken über Existenz(T)Räume ist ja ein existenzphilosophisches Anliegen (siehe dazu auch: Bruno Latour, Existenzweisen. Eine Anthropologie der Moderne“, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/17792.php). In den empirischen Kultur- und ethnographischen Forschungen macht sich ein „machtvolles Zeigen von Feldforschungsatmosphären und dem Erleben von gestimmten Räumen“ bemerkbar, das mit dem Konzept einer „Ethnographie der Sinne…eine … wissenschaftliche Grenzverschiebung von Raumerfahrungen in Richtung eines orientierenden, funktionalisierenden Aktionsraumes“ vornimmt.
Fazit
Die differenzierten, vielfältigen Darstellungen der Wahrnehmung und Methoden bei empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschungen zum wissenschaftlichen Innovationsbereich „Ethnographien der Sinne“ vermitteln einen interessanten Einblick in neuere Forschungsergebnisse im Grenz- und Kooperationsbereich der Ethnographie, Psychoanalyse, Philosophie und Pädagogik. Die Erfahrungen, sich (gelegentlich) im „Gefängnis der eigenen Sinnlichkeit“ zu wähnen, das Bewusstsein und der Wille, herauszukommen, und die Aktivitäten, dies auch zu schaffen, erfordern nicht (nur) trial and error, sondern bedürfen der wissenschaftlichen Bestandsaufnahme und Analyse.
Die Doktorand_innen-Initiative der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde (dgv) hat auch in ihrer achten Tagung 2013 an der Universität im Österreichischen Graz ein Thema aufgegriffen, das als interdisziplinäre, wissenschaftliche Herausforderung HIER und HEUTE verstanden werden muss. Der Sammelband liefert wichtige Bausteine für den Forschungsdiskurs!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 30.01.2015 zu:
Lydia Maria Arantes, Elisa Rieger (Hrsg.): Ethnographien der Sinne. Wahrnehmung und Methode in empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschungen. transcript
(Bielefeld) 2014.
ISBN 978-3-8376-2755-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/17991.php, Datum des Zugriffs 09.12.2023.
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