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Jean Baudrillard: Die Konsumgesellschaft

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 07.04.2015

Cover Jean Baudrillard: Die Konsumgesellschaft ISBN 978-3-658-00540-5

Jean Baudrillard: Die Konsumgesellschaft. Ihre Mythen, ihre Strukturen. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (Wiesbaden) 2014. 280 Seiten. ISBN 978-3-658-00540-5. D: 29,95 EUR, A: 30,79 EUR, CH: 37,50 sFr.

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Die Ära der radikalen Entfremdung

Das Bild vom griechischen Philosophen Diogenes von Sinope, der in der Zeit von etwa 410 bis 323 v. Chr. lebte und bereits zu seiner Zeit wegen seiner provozierenden, einfachen und genügsamen Lebensweise Aufsehen und Ärgernis erregte und nach den überlieferten Erzählungen als Behausung mit einem größeren, ausgedienten Vorratsfass zufrieden war, kann uns heute nur noch ein nachsichtiges Lächeln entlocken; und wir ordnen diese Episode ein in unsere Schublade, die wir für Menschen bereit halten, die eher lebensuntüchtig angesehen werden müssen. Das ist ein Hinweis darauf, dass wir solche Aufforderungen, ein einfaches Leben zu führen, längst dem Gott geopfert haben, den wir KONSUM nennen. Der Diskurs darüber, wie ein gutes, gelingenden, gerechtes und soziales Leben aussehen könnte, wird in vielfältigen Zusammenhängen geführt; da stellt sich die Frage nach den Bedürfnissen der Menschen (Abraham H. Maslow, Jeder Mensch ist ein Mystiker. Impulse für die seelische Ganzwerdung, www.socialnet.de/rezensionen/16223.php), da geht es um das, was wir „Gemeingut“ oder „Allmende“ nennen (Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11224.php), da werden Alternativen zum kapitalistischen System vorgestellt (Saral Sarkar, Hrsg., Die Krisen des Kapitalismus. Eine andere Studie der politischen Ökonomie, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/12301.php), da gilt es, die unmenschlichen und manipulativen Praktiken des Kapitalismus aufzudecken (Manfred Lütz, Bluff! Die Fälschung der Welt, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14059.php), da werden Wege für ehrlichere und nachhaltige Werbestrategien gewiesen (Moritz Gekeler, Konsumgut Nachhaltigkeit. Zur Inszensierung neuer Leitmotive in der Produktionskommunikation, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/12966.php) und da verdeutlichen sich Abhängigkeiten und Verführungen beim Konsumieren (Claus Tully / Wolfgang Krug, Konsum im Jugendalter. Umweltfaktoren, Nachhaltigkeit, Kommerzialisierung, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11517.php).

Entstehungshintergrund und Autor

Insbesondere in der Konsumsoziologie wird aufgezeigt, dass Konsum ein Phänomen ist, „das unsere Gesellschaft insgesamt durchdringt und umtreibt, und daher nicht mehr bloß ein Anhängsel der Produktion darstellt, sondern ein selbständiges System mit gesellschaftsweiter Geltung“ ist. Darauf hat der französische Soziologe Jean Baudrillard (1929 – 2007) in seinem, 1970 erschienenem Buch „La société de consommation“ hingewiesen, das in der Buchreihe „Konsumsoziologie und Massenkultur“ vom Soziologen Kai-Uwe Hellmann vom Institut für Soziologie der TU Berlin und vom Kultur- und Mediensoziologen Dominik Schrage von der Leuphana-Universität in Lüneburg jetzt erst herausgegeben und von Annette Foegen übersetzt wurde. Baudrillard unternimmt dabei den Versuch, den soziologischen und gesellschaftlichen Begriff „System“ auf das „Konsumsystem“ zu übertragen, als „ein gesondertes, in sich abgeschlossenes, unabhängiges System von Zeichen und Bedeutungen…, das allem Konsum überhaupt erst Sinn verleiht, rein systemintern generiert, ohne dafür auf reale Ereignisse oder Vorgänge notwendig bezogen zu sein“; was bedeutet, dass sich das Konsumsystem seine eigene Wirklichkeit erschafft, „es erfindet … seine eigene Sicht der Dinge und dirigiert die Konsumentinnen und Konsumenten… nach eigenen Regeln“. Die sich daraus entwickelnde Konsumkritik erzeugt und reproduziert – und das ist das Perfide am Konsumsystem – das, was sie kritisiert, abschaffen oder zumindest verändern will. Insbesondere im anglophonen, soziologischen Diskurs wurde Baudrillards Werk intensiv rezipiert; im Deutschen wurde bisher das frühe Werk Baudrillards lediglich in Auszügen und unter Bezugnahme auf das Original oder die englische Übersetzung (1988) zur Kenntnis genommen und übersetzt.

Aufbau und Inhalt

Baudrillard gliedert das Buch in drei Teile.

Im ersten Teil thematisiert er „Die formale Liturgie des Objekt“, indem er darauf verweist, dass die Welt des Konsums eine des Überflusses ist, in der die Menschen nicht in erster Linie von anderen Menschen und dem Sozialen umgeben und bestimmt sind, sondern von sich permanent anhäufenden und aufstapelnden Objekten, die das Leben der Menschen steuern, manipulieren und dirigieren. Die Shoppingmall, das Einkaufszentrum, ist nicht Funktion einer Bedürfnisbefriedigung, sondern „Verquickung der Zeichen“, als sowohl selbst gewollte, als auch zwangsläufig ausgeübte Konsummacht. Bei der Ursachensuche rekurriert er auf den „Teufelskreis des Wachstums“, wie ihn beinahe zeitgleich die sieben jungen Wissenschaftler des Massachusetts Institute of Technology mit ihrer Warnung in die Welt gebracht haben, dass die Grenzen des Wachstums erreicht seien und rund ein Jahrzehnt später die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (1987) das Ende des throuput growth, des „Durchflusswachstums“ verkündet und zu einem Paradigmenwechsel hin zu sustainable development, zu einer „tragfähigen Entwicklung“ aufgefordert haben: „Wenn der Überfluss fortschreitet…, wiegen am Gegenpol die ‚Umweltschäden‘ immer schwerer – als Folge von industrieller Entwicklung sowie technischem Fortschritt auf der einen und der Konsumstruktur selbst auf der anderen Seite“.

Im zweiten Kapitel entfaltet Baudrillard mit der Auseinandersetzung über die „Theorie des Konsums“ die vermeintlichen und tatsächlichen, menschlichen Empfindungen, Wünsche und Vorstellungen von Glück, das im übrigen Aristoteles mit dem eu zên, gut zu leben, gleichsetzt. Dabei warnt er vor der, wie er sagt „naiven“ Vorstellung, dass sich der „Mythos des Konsums“ dadurch erklären lasse, dass es lediglich der Egoismus und die Gier der Menschen sei, immer mehr haben zu wollen (vgl. dazu auch: Jos Schnurer, Ist Geld die Quelle allen Übels – oder hat Geld immer recht?, 22.11.2013, www.socialnet.de/rezensionen/168.php); vielmehr komme es darauf an zu erkennen, dass „das System ( ) lediglich seine eigenen Überlebensbedingungen (kennt) und ( ) die sozialen und individuellen Inhalte (ignoriert)“. Die Folge davon: Neue gesellschaftliche Trennwände, scheinbar unüberwindbare, immer mächtiger sich aufbauende, hierarchische Mauern zwischen den Besitzenden und den Habenichtsen entstehen. Mit seiner Theorie verweist der Autor auf die Notwendigkeit, den Ursachen auf die Spur zu kommen, die den Homo oeconomicus zum Ego consumens machen. Erst kürzlich hat der Berliner Philosoph und Konsumkritiker Joseph Vogl mit seinem „historisch-spekulativem Versuch“ auf die zunehmende Dominanz des Finanzregimes auf allen Ebenen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens hingewiesen und gefordert, dass die (abhängigen) Individuen endlich ihre Souveränitätsrechte entdecken sollten (Joseph Vogl, Der Souveränitätseffekt, Zürich/Berlin 2015, 320 S.). Bei der Frage, wie es gelingen kann, der (eigenen und aufgezwungenen) Falle zu entgehen, „sich selbst zu konsumieren“, differenziert Baudrillard die Denk- und Verhaltensweisen der Menschen in ein maskulines und feminines Modell des Konsumierens und zeigt „die ideologische Hauptfunktion des Konsumsystems“ auf.

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit Fragen der massenmedialen Kultur. Der Autor zeigt an vielfältigen Situationen und Entwicklungen auf: „Medium is Message“. Die Botschaft umfasst alle Dinge des Lebens, von den Sachen bis zum Körper, von den Wünschen bis zu den Dienstleistungen, vom egoistischen bis zum fürsorglichen Denken und Handeln. Dass dabei eine (reale) Karikatur und ein (reales) Phantombild zustande kommt, sollte zum Erkenntnisgewinn beitragen: „Morgens öffnet die konsumierende Hausfrau die Rollläden ihres Hauses, des Glückshauses, das sie beim großen Preisausschreiben von Floraline gewonnen hat. Sie trinkt ihren Tee aus den wunderschönen Tassen im persischen Stil, die sie dank Triscottes erworben hat (für fünf Einkaufsbelege plus 9,90 Francs)… Sie schlüpft in ein Kleidchen… ein Angebot der 3J (um 20 Prozent reduziert), um den Prisunic aufzusuchen, an ihre Prisu-Karte denkend, die ihr die bargeldlose Zahlung gestattet… Das Hauptgericht ist sofort gefunden! Im Supermarkt hat sie mit der Laterna magica von Buitoni gespielt und dabei 40 Centimes Nachlass auf eine Dose Hühnchen Kung Pao (5,90 Francs) gewonnen. Für ihren Sohn ist Kultur angesagt: das Bild von Peter Van Hought als Beigabe zum Persil-Waschpulver. Dank Kellog´s Cornflakes konnte er sich schon einen Flughafen zusammenbasteln. Zu ihrer Entspannung legt sie am Nachmittag ein Brandenburgisches Konzert auf, eine Langspielplatte, die sie zusammen mit einem Dreierpack San Pellegrino 8 Francs gekostet hat. Und heute Abend dann das Neueste vom Neuen: der Farbfernseher von Phillips unentgeltlich für drei Tage ausgeliehen…“. Ganz mühelos lässt sich diese Realschilderung aus dem Jahr 1970 heute mit Potenzen weiter schreiben! Was ist daraus geworden? Eine therapeutische Gesellschaft, deren Sehnsüchte, Wünsche und Hoffnungen umgemünzt werden in Werbeversprechen, die in ihrer Zweideutigkeit nichts zu wünschen übrig lässt – außer vielleicht „Fatique“, Müdigkeit, die den Schlaf raubt!

Und ist kein Ausweg aus dem selbst gebauten und bereit gestellten Konsum-Gefängnis erkennbar? Darauf gibt der Autor zwei Antworten: Die eine beschreibt er als Einlullung und das Hinein-Fallen-Lassen in die Ära des Konsums, ob willentlich oder gezwungenermaßen, „unter dem Vorzeichen des Kapitals beschleunigten Produktivität… und der radikalen Entfremdung“, bei der „die Logik der Ware ( ) sich generalisiert (hat) und ( ) heute nicht mehr nur die Arbeitsprozesse und die materiellen Produkte (beherrscht), sondern die gesamte Kultur, die Sexualität, die zwischenmenschlichen Beziehungen, bis hinein in die individuellen Phantasmen und Triebe“; die andere liest sich nicht, wie vielleicht erwartet, als Erlösung vom Konsum, sondern höchstens in der Erkenntnis, dass der Mythos vom Konsum nicht den Konsum abschaffen kann; höchstens – und das wäre schon ein enormer Erkenntnisgewinn – „dass das Objekt nichts ist und sich hinter diesem Nichts die Leere der zwischenmenschlichen Beziehungen, die Umrisse der gewaltigen Mobilisierung gesellschaftlicher Produktivkräfte abzeichnen und sich mit ihm verdinglichen“.

Fazit

Wie wir gesehen haben, wurden die frühen Gedanken von Jean Baudrillard zur Konsumgesellschaft in vielfältiger Weise aufgenommen und auch weiter entwickelt. Es bleibt sein Verdienst, den Finger frühzeitig in diese gesellschaftliche Wunde gelegt zu haben und ein Klassiker der Konsumsoziologie geworden zu sein. Die Wunde hinterlässt eine Narbe: Die Erkenntnis, dass sich das Konsumsystem seine eigene Realität erschafft, was bedeutet, dass das „System eigenständig immer neue Bedürfnisse (kreiert), die den Konsumentinnen und Konsumenten als notwendig, erstrebenswert, glückselig machend suggeriert werden“. Die Herausgeber von Baudrillards früher Schrift weisen darauf hin, dass die Lektüre des Buches nicht nur den medienkritischen Diskurs beflügeln kann, wie sich der Gesellschafts- und Medienkritiker im Laufe der folgenden Jahrzehnte zum „postmodernen Medientheoretiker“ und zum „posthistorischen Endzeitdiagnostiker“ entwickelt und Einfluss genommen hat, sondern auch bedeutsam ist für eine auch und vor allem in der heutigen Entwicklung wichtige Betrachtung, „dass eine semiologische Analyse von ‚Wachstum‘, ‚Überfluss‘ und ‚Verschwendung‘ über die Beschränkungen rein ökonomischer und psychologischer Deutungen hinausgeht“.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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ISSN 2190-9245