Kay Kirchmann, Jens Ruchatz (Hrsg.): Medienreflexion im Film
Rezensiert von Michael Christopher, 06.07.2015
Kay Kirchmann, Jens Ruchatz (Hrsg.): Medienreflexion im Film. Ein Handbuch. transcript (Bielefeld) 2014. 453 Seiten. ISBN 978-3-8376-1091-8. 34,99 EUR.
Thema
Der von Kay Kirchmann und Jens Ruchatz herausgegebene Sammelband „Medienreflexion im Film“ vereint 26 unterschiedliche Artikel, die sich jeweils mit der Ästhetik und Funktion anderer Medien im Film beschäftigen. Die Herausgeber haben diese Artikel in sechs Kategorien eingeordnet, die sich jeweils einem Schwerpunkt widmen.
Herausgeber
Kay Kirchmann und Jens Ruchatz haben in dem Band 32 verschiedene Autoren versammelt, die meisten sind Medien-, Fernseh- und Filmwissenschaftler aus Deutschland. Alle mit Namen und Funktion zu benennen würde an dieser Stelle zu weit führen.
Aufbau
Die unterschiedlichsten Medien sind in Spielfilmen allgegenwärtig. Häufig besitzen sie eine bestimmte Funktion für den weiteren Verlauf einer Handlung, manchmal Verweisen sie auf eine vergangene Zeit, oder sie öffnen das Portal für die Zukunft. Der Sammelband „Medienreflexion im Film“ von Kay Kirchmann und Jens Ruchatz untersucht die filmische Darstellung von Medien und forscht nach den medialen Referenzen in Spielfilmen. Der Film wird hierbei als audiovisueller Beobachter der anderen Medien verstanden, wobei der Film selbst als Medium funktioniert.
Das erste Kapitel umfasst drei Artikel, die sich jeweils mit der Vorgeschichte des Films beschäftigen. Die Autoren verweisen darauf, dass Filme nicht nur ihre Vorgängermedien beschreiben, sondern diese ebenfalls zeigen und thematisieren. So geht es in diesem Abschnitt um Licht und Schatten in der filmischen Reflexion, der Laterna Magica und Camera Obskura sowie um optische Instrumente, wie Mikroskop, Teleskop, Fernglas und Brille.
Im zweiten Kapitel werden die „Nachbarmedien“ des Films wie Theater, Malerei, Comic, Fotografie, Fernsehen und Video in Verbindung zum Kino gestellt.
Im folgenden dritten Kapitel versuchen acht Artikel sich mit den Leitdifferenzen zu Schrift und Bild sowie Analog und Digital auseinanderzusetzen. Im Grunde beschäftigen sich die Autoren hier jedoch hauptsächlich mit Schrift im Film wie Blindenschrift, Schreibwerkzeugen, Dichtung als Motiv, Briefmedien, Zeitung, Tätowierung, Karten und Diagramme sowie dem Computer.
Das vierte Kapitel widmet sich den Tönen und betrachtet das Radio, die Musikmedien, das Telefonieren und die Funktion des Anrufbeantworters im Film. Im fünften Kapitel beschreiben die Artikel die Telegrafie, Reproduktionsmedien wie Kopiergeräte und das Geld im Film, bevor sich im letzten Teil ein Artikel mit fiktionalen, bzw. futuristischen Medien beschäftigt. Am Ende findet sich eine nach Medien sortierte Auswahlbibliografie.
Vorstellung ausgewählter Artikel
Das Buch ist voller lesenswerter Artikel. Von den 26 Artikeln sind nur sehr wenige spröde geschrieben und in ihrem Forschungs-Mikrokosmos verhaftet. Das Gros ist ein Feuerwerk von interessanten Gedanken zum Film. Aufgrund der großen Anzahl, muss sich die Rezension hier auf vier Artikel beschränken.
Der Professor für Mediengeschichte Jan Distelmeyer fragt sich nach der „Wirklichkeit des Tons im Film“ und untersucht Grammophon, Schallplatte und CD in der filmischen Darstellung. Dabei stellt er das etablierte theoretische Modell des diegetischen und nicht-diegetischen Tons in Frage. Er forscht nach der Quelle des Tons, bzw. der Musik im Film und stellt fest, dass die Diegese lediglich ein Ergebnis unserer Vorstellung sei. Besonders Musicals steckten hier im diegetischen Dilemma: wenn der Gesang der Protagonisten zu sehen ist, die Musik im Hintergrund jedoch nicht. Tonträger gäben hier im Film zumindest dem nicht-diegetischen Ton einen Ort, bzw. eine Quelle und lösten damit zum Teil dieses Dilemma auf. Jan Distelmeyer stellt das Problem exakt dar und hinterfragt dadurch das in der Sound-Analyse gängige Modell der Tonwahrnehmung.
André Grzeszyk untersucht in seinem Artikel „Die Wahrhaftigkeit einer Illusion“ die Darstellung von Tätowierungen im Film und zeigt in wunderbarer Weise verschiedene Deutungsebenen für das Hautbild im filmischen Bild auf. Er stellt das inszenatorische Potential der Haut besonders für den Film dar, in dem die Tätowierung eine Ebene auf der Grenze zwischen Innen/Außen markiere. Tätowierungen stellen dar und verweisen gleichzeitig auf einen Subtext, sei es auf das eigene Wesen, das Milieu oder einem Stigma wie der Zugehörigkeit zu einer Gruppe (Mafia). Zudem lenkten Tätowierungen die Blicke in Bezug auf die Darstellung des erotischen und sexuellen, die sich je nach kultureller Einstellung verhüllen oder öffnen. Diese non-verbale filmische Sprachebene der Tätowierung mit ihren eigenen Texten lohnt eine genauere Betrachtung. Insbesondere der japanische Film arbeitet häufig mit diesen Mitteln.
Arno Metelin widmet sich dem Thema der Comicverfilmungen. An sich ist dieses Thema spannend. Die Frage, inwieweit die Einzelsequenzen des Comichaften sowie die szenische Anordnung der Bilder auf zwei gegenüberliegenden Seiten ins kinematografische Laufbild übertragen werden können, ist das Hauptproblem von Comicverfilmungen. Doch Metelin verweigert sich der Antwort und bleibt in seinem Text leider zu sehr im Deskriptivem verhaftet. Es scheint, als würde der Autor den Leser mit einer Informationsüberdosierung, alias Faktenwissen, überschütten wollen. Dies führt dazu, dass Wissensfragmente im Raum stehen und dass neben dem steten Aufzählen von Filmen der Rote Faden vollends verloren geht. Man merkt im Schreibstil, dass sich der Autor über den Comic zum Film hingewandt hat.
Lisa Gotto beschreibt in ihrem Artikel „Nahsicht und Fernblick“ die Betrachtung des Fernsehens im Film. Als Professor für Filmwissenschaft an der Kölner Filmschule ergreift sie Partei für den Film im Kino. Dabei schreibt sie intelligent metaphorisch und man kann ihr daher ihre Parteinahme nicht übel nehmen. Sie selbst beschreibt, dass der Film selber das Fernsehen als Schreckgespenst sehe und ihm selten eine positive Rolle zuweise.
Der Film im Fernsehen verliere nach Gotto nicht nur seine Bedeutung, sondern auch seine Struktur (153). Dabei war es der Film, der sich schon vor der Theorie mit seinem Nachbarmedium beschäftigte und erste Gedanken zum Fernsehen bereit gestellt hatte. Der Film war nach Gotto meist darauf bedacht, sich vom Fernsehen abzugrenzen. Elementar ist für sie hierbei, dass beide Medien, obwohl bei beiden bewegte Bilder im Zentrum stehen, unterschiedliche Bildsysteme nutzten.
Gotto stellt verschiedene Dualismen für den Vergleich auf: Während das Fernsehen ein Nahmedium sei, das zu den Menschen komme, sieht sie den Film als Fernmedium, zu dem die Menschen kommen müssen; das Fernsehen zerstreue, das Kino sammle; das Fernsehen läuft fort, das Kino vermag zu schließen. Im Grunde wirkt dieser Artikel wie ein Plädoyer für den guten alten Film, da sie das Aufeinander-Zudriften von Film und Fernsehen vernachlässigt. Schon längst rattern in den meisten Kinosälen keine Bänder mehr und in den Wohnzimmern gibt es nur noch selten alte Röhrengeräte. Die Bildsysteme gleichen sich an und das Home-Cinema ist populärer als je zuvor. Zugleich wird es immer unklarer, für welches Medium ein Film gedreht wird. Nicht nur, dass sich manche Fernsehfilme oder Serien der Kinoästethik annähern, sondern die Nachverwertung von Kinofilmen eine immer größere Rolle spielt. Hinzu kommt die zunehmende Bedeutung des Films im Internet. Dennoch ist der Artikel im Grundsätzlichen wichtig, da sich hieraus die weiteren Fragen entwickeln können.
Fazit
Der Sammelband „Medienreflexion im Film“ ist ein erfreulicher Überblick zum Einsatz verschiedener Medien im Kino. Fachlich fundierte, manchmal sogar erhellende, oft sprachlich beeindruckende Artikel geben einen umfassenden Einblick zum Einsatz und zur Funktion verschiedener Medien im Film. Erfreulich ist zudem, dass der Blick des Lesers geweitet und eine abschließende Diskussion vermieden wird.
Ein kleiner Schwachpunkt ist lediglich die fehlende Interaktion zwischen den Artikeln. Sie stehen, obwohl das Buch redaktionell und von den Herausgebern gut bearbeitet ist, in ihren Gedankengängen oftmals zu separiert. Auch dass teilweise, statt der erwarteten Medienreflexion an sich, eher ein filmtheoretischer Diskurs im Vordergrund einiger Artikel steht, trübt etwas die positive Gesamtwirkung. Zudem wäre für ein filmwissenschaftliches Handbuch eine Filmografie hilfreich gewesen. Aufgrund der geringen thematischen Überschneidungen konnte jedoch auf einen Index verzichtet werden. Nahezu zu jedem relevanten Medium existiert ein Artikel.
Sprachlich ist der Sammelband auf einem sehr hohen Niveau, sodass er sich nicht zur Lektüre nebenbei eignet. Der Leser muss teilweise schon tief in die Materie eingetaucht sein um einen Lesegenuss zu erhalten. Dieser ist aber vollends vorhanden. Dieses Buch sollte in keinem filmwissenschaftlichen Regal fehlen.
Rezension von
Michael Christopher
Filmwissenschaftler, Theaterwissenschaftler und Mitherausgeber der Zeitschrift manycinemas
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Es gibt 34 Rezensionen von Michael Christopher.
Zitiervorschlag
Michael Christopher. Rezension vom 06.07.2015 zu:
Kay Kirchmann, Jens Ruchatz (Hrsg.): Medienreflexion im Film. Ein Handbuch. transcript
(Bielefeld) 2014.
ISBN 978-3-8376-1091-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18010.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
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