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Jens Schneider, Maurice Crul et al.: generation mix

Rezensiert von Prof. Dr. Detlef Baum, 03.02.2015

Cover Jens Schneider, Maurice Crul et al.: generation mix ISBN 978-3-8309-3182-9

Jens Schneider, Maurice Crul, Frans Lelie: generation mix. Die superdiverse Zukunft unserer Städte und was wir daraus machen. Waxmann Verlag (Münster, New York) 2014. 132 Seiten. ISBN 978-3-8309-3182-9. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR, CH: 28,50 sFr.

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Thema

Die europäische Stadt verändert sich. Sie verändert sich in dem Maße, wie sich die modernen Gesellschaften Europas von nationalen Einheiten zu europäischen Gesellschaften wandeln. Vor allem die Metropolen und Großstädte sind davon betroffen, weil sich in ihnen der Prozess wachsender kultureller Vielfalt und Heterogenität mit einer höheren Dynamik abspielt als in kleineren Städten und Dörfern. Es war eh´ für die europäische Stadt typisch, dass in ihr Vielfalt und Heterogenität herrschten und die daraus erwachsenen Spannungen und Konflikte ihre Integrations- und Ausgrenzungsdynamik als auch die in ihr stattfindenden sozialräumlichen Segregationsprozesse bestimmten. Gerade in den Großstädten Europas wird deutlich, dass sich in ihnen eine kulturell vorherrschende Mehrheit nicht mehr eindeutig identifizieren lässt und ethnische Zuordnungen eigentlich nur dort noch eindeutig sind, wo sie sich ethnische Segregation in spezifisch geprägten Vierteln ausbildet und dort das Viertel geprägt wird durch spezifische sozio-kulturelle Kommunikationsformen und Bedingungen sozialer Verortung.

Autorin und Autoren

  • Jens Schneider ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück.
  • Maurice Crul ist Inhaber des Lehrstuhls Bildung und Diversität an der Vrije Universität Amsterdam und Professor an der Erasmus Universität Rotterdam.
  • Frans Lelie ist Projektmanagerin in den Projekten „TIES: The Integration of the European Second Generation und Pathways to Success“.

Aufbau

Das Buch gliedert sich in fünf Kapitel:

  1. Integration ist vorbei
  2. Die Emanzipation der zweiten Generation
  3. Bildung ist der Schlüssel zur Emanzipation
  4. Erfolgreich auf dem Arbeitsmarkt
  5. Generation Mix

Das Buch endet dann mit vier Essays, die mit „Meine Identität“ überschrieben sind, und mit einer kurzen Literaturliste.

Zu 1: Integration ist vorbei

Dieses einführende Kapitel gibt einen Überblick über die hier anstehenden Themen. Im Fokus steht die zweite Generation der Eingewanderten, ihre Erfolgschancen und wie sie Handlungsziele und Werte realisiert, die für die Integration der Deutschen ebenfalls relevant sind.

Im Zentrum steht einmal die Frage, unter welchen Umständen sich die zweite Generation am wirkungsvollsten entfalten kann (14). Zum anderen geht es um die Frage nach der sozio-kulturellen Integration. Wie stark fühlen sich die Angehörigen der zweiten Generation mit der Gesellschaft verbunden, in der sie leben, wie sehen die sozialen Beziehungen in den immer diverser werdenden Städten aus und welche Sichtweisen auf interethnische und interreligiöse Beziehungen herrschen vor?

Diese Fragen werden an Hand der Ergebnisse einer Vergleichsstudie beantwortet, an der acht Länder beteiligt waren und wo fast zehntausend Erwachsene im Alter zwischen 18 und 35 Jahren in 15 europäischen Städten befragt wurden (TIES-Studie). Und diese Fragen führen zu einer weiteren Fragestellung: Wie stellen wir uns die Stadtgesellschaft der Zukunft vor und wie kann sie begrifflich gefasst werden?

Der Zugang zum Thema erfolgt phänomenologisch. Es wird das Bild der Hamburger S-Bahnlinie 31 gezeichnet, wie sie fährt, an welchen Stationen sie hält, wer ein- und aussteigt, und es wird auf spezifische Viertel und Stadtteile verwiesen, die wir auch in der Stadtforschung einordnen können als Szeneviertel, privilegierte und deprivierte Quartiere. Die S-Bahn wird so zum Spiegelbild der vielfältigen und heterogenen Stadt.

Weiter wird auf das Vorbild New York eingegangen, wo die zweite und dritte Generation die Stadt erbt. Wissenschaftliche Studien werden zitiert und New York mit seiner dynamischen Vielfalt als Zukunftsmodell der europäischen Stadt hingestellt. Wer wird in Europa die Städte erben? Die Autorin und die Autoren setzen sich mit Rechtspopulisten und anderen Autoren auseinander, die ein Untergangsszenario der deutschen Kultur beschreiben oder herauf beschwören. Die Frage ist dabei nicht, ob die „Anderen“ wirklich die Stadt beerben, sondern welche Angst wir haben, wenn die „Anderen“ sie beerben.

Im weiteren Verlauf geht die Autorengruppe auf das Paradox der Integrationsdebatte ein, das darin besteht, dass sich einerseits die Gesellschaft zu einer Einwanderungsgesellschaft entwickelt und andererseits rechtspopulistische Parteien in Europa einen Zulauf erfahren. Vielleicht ist dies keine Paradox, sondern die Dialektik dieser Dynamik. Es werden dabei mehrere Schimären ausgemacht:

Einmal sollen sich die Migranten in die Gesellschaft integrieren, also ihre Werte und Normen teilen, wo sich andererseits die Frage stellt, welche der Wert- und Normensysteme in einer pluralistischen, von unterschiedlichen Lebensstilen geprägten komplexen Gesellschaft nun der Maßstab sein sollen. Weiter beruht die kulturelle Zugehörigkeit auf einem Entweder-oder-Prinzip - entweder Türke oder Deutscher und es wird unterstellt, dass die Kinder muslimischer Eltern einfach nur die Vervielfältigung der Eltern sind, die Anzahl der muslimischen Kinder also auch als Indiz für die Verstärkung muslimischer Lebensverhältnisse in der Gesellschaft genommen wird. Eine weitere Schimäre ist, dass Erfolg oder Misserfolg auf die Kultur der Einwanderer geschoben wird, Misserfolg mit kultureller Distanz begründet wird. Diese Schimären werden ausführlich diskutiert.

Was lernen wir, wenn wir über die Grenzen schauen? Diese Frage wird an Hand einiger Beispiele aus anderen Ländern eindrucksvoll beantwortet. Indikatoren sind dabei der Übergang zur weiterführenden Schule, die flächendeckende Kinderbetreuung in öffentlicher Verantwortung, die Schule als Ganztagsschule und die Integration in den Arbeitsmarkt.

Die Autorin und die Autoren schilden dann noch einige Zukunftsszenarien für europäische Großstädte zwischen Angst und Demütigung und Empowerment und Hoffnung. Für letzteres gilt, dass Bildungs- und sozio-kulturelle Aufstiegschancen für die zweite Generation nicht nur Hoffnung sind, sondern inzwischen auch Realität. Dies wird an Hand von Studien nachgewiesen und in Graphiken gut veranschaulicht.

Aber dies gilt eben nur für die gut gebildete zweite Generation der Mittelschicht, die im Zentrum der Aufmerksamkeit des Autorenteams steht.

Zu 2: Die Emanzipation der zweiten Generation

Zu Illustration des Szenarios von Empowerment und Hoffnung, das in den Städten Wirklichkeit ist, hat das Autorenteam fünf Filmportraits erstellt; Filme die eigentlich für den Unterricht gedacht waren, aber viele Erwachsene haben über den Online-Zugang von den Erzählungen erfahren und waren berührt.

  • In Hamburg verteidigte Bilnic Ercan (31 Jahre) erfolgreich ihre Dissertation im Fach Jura.
  • In Paris ist Youness Bourimech (32 Jahre) Inhaber einer Firma mit mehreren Betrieben in einem Vorort von Paris.
  • In Rotterdam ist Halil Karaaslan (24 Jahre) Lehrer für Gemeinschaftskunde.
  • In Amsterdam ist Miriyam Aouragh (38 Jahre) Dozentin an der Universität Oxford.
  • In Brüssel arbeitet Muhammet Yilmaz als Lobbyist.

Die Portraits werden kurz beschrieben.

Zu 3: Bildung ist der Schlüssel zur Emanzipation

Zunächst wird die Ausgangslage der 60er Jahre beschrieben, wo Gastarbeiter angeworben wurden, weil Arbeitskräfte fehlten. Die meisten von ihnen hatten gerade mal die Grundschule absolviert und auch die nachfolgenden Frauen und andere Familienmitglieder hatten meist keine oder eine nur niedrige Schulausbildung. Sie sollten ja nur vorübergehend bleiben und nicht ganz. Sie waren Gäste, die wieder gehen und nicht „Fremde, die kommen und bleiben“ (Simmel). Dementsprechend hat die Gesellschaft auch auf die Kinder reagiert, die meist noch in ihrem Heimatland die Schule besuchten, ehe sie nach Deutschland kamen. Man hat sich wenig um sie gekümmert. Die politischen und wirtschaftlichen Hintergründe werden ausführlich erläutert.

Der zweiten Generation wird eine besondere Bedeutung zugeschrieben, hängt doch das Schicksal der Folgegenerationen vom Erfolg dieser zweiten Generation ab. Auch die erste Generation hat ihre Zukunftshoffnung in diese zweite Generation gelegt. Und so stellt das Autorenteam die Frage, wie erfolgreich die verschiedenen europäischen Länder in der Integration der Einwanderer und ihrer Kinder waren. Den Vergleich dieser Länder beginnt das Autorenteam am Ende der Pflichtschulzeit, wenn also der erste mittlere Schulabschluss bevorsteht. Das Interesse gilt dabei den „Early School Leavers“, also denjenigen, die die Schule vorzeitig, also vor einem mittleren Schulabschluss verlassen. Dem wird an Hand von Statistiken und Untersuchungen nachgegangen, zumal diese Gruppe verstärkt von Arbeitslosigkeit und Armut bedroht ist. Dabei wird auch deutlich, dass der vorzeitige Schulabgang sehr stark korreliert mit der Schwierigkeit des Übergangs zum weiterführenden Schulsystem oder mit erschwerten Zugängen zum Arbeitsmarkt und zur beruflichen Qualifizierung. Dass es auch anders geht, wird an Beispielen aus anderen Ländern verdeutlicht. Auch bei der Gruppe der Hochqualifizierten werden Unterschiede deutlich. In Deutschland, wo der Bildungsabschluss sehr stark mit der sozialen Herkunft korreliert, schafft es nur ein Türke von zwanzig zu studieren, in Schweden und Frankreich schafft es immerhin ein Drittel der Türken. Auch dies wird ausführlich erörtert und mit Hilfe von Graphiken veranschaulicht.

Zu 4: Erfolgreich auf dem Arbeitsmarkt

„Eine Stadt braucht alle Talente“ (offizieller Slogan der Schulreform in Hamburg 2010). In der Tat brauchen die Großstädte dieses Potential, schon allein deswegen, weil die Hälfte bis zu zwei Dritteln aller Jugendlichen einen „Migrationshintergrund“ haben. Es geht in diesem Kapitel hauptsächlich um den Zugang zum Arbeitsmarkt, und zwar nicht nur in den unteren Segmenten, sondern auch in den mittleren und oberen Segmenten – und da hinkt Deutschland stark hinterher.

Im Folgenden werden Stockholm, Amsterdam und Berlin verglichen, also Metropolen, weil sich in Metropolen je nach Größe, wirtschaftlicher und kultureller Dynamik Unterschiede ergeben. Dabei wird sowohl auf die Situation der jungen Arbeitnehmer eingegangen als auch auf die Situation der Frauen im Zugang zum Arbeitsmarkt.

Dass türkische Frauen weniger auf dem deutschen Arbeitsmarkt vertreten sind, wird mit der Kultur erklärt - so als sei dies ein unveränderliches biologisches Merkmal. Auch wird die unabdingbare Funktion der Frau für die Familie und die Kinder kulturell erklärt. Aber warum sind die Anteile der Migranten-Frauen auf dem Arbeitsmarkt in anderen Ländern z. T. deutlich höher? Hängt dies auch mit der Organisation der öffentlichen Betreuung der Kinder in diesen Ländern und mit der besseren Vereinbarkeit von Arbeit und Familie zusammen? Diese Fragen werden ausführlich diskutiert.

Natürlich finden wir immer noch eine Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Obwohl die zweite Generation, die hier in den Ländern übliche Schullaufbahn und Ausbildung genossen haben, arbeitet diese Generation in fast allen Ländern unter ihrem Ausbildungsniveau. Empirische Studien zur türkischen zweiten Generation zeigen dies auf und das Autorenteam referiert einschlägige Untersuchungen dazu. Bildet sich so eine ethnische Unterklasse aus, eine türkische bei uns bzw. in Frankreich und den Niederlanden auch eine marokkanische? Auch die Spaltung der Gesellschaft in den Städten wird angesprochen; die sozialräumliche residentielle Segregation führt auch dazu, dass sich die Angehörigen unterschiedlicher Schichten im öffentlichen Raum nicht mehr begegnen, sich fremd werden oder schon sind.

Und dann gibt es die anderen dieser zweiten Generation, die eine beachtliche intergenerative Mobilität an den Tag legen. Junge Frauen, die nach dem Abitur studieren und einen entsprechenden beruflichen Weg gehen, sind vielleicht die stärksten Modernisierungsgewinnerinnen unter der türkischen zweiten Generation.

Zu 5: Generation Mix

Diesen Aufstieg einer aufstrebenden Migranten-Mittelschicht hängt sehr stark vom Bildungssystem der Länder ab, von ihren Selektionsmechanismen, von ihrem Verständnis von Bildung als Zugang zum Arbeitsmarkt und als Schlüsselqualifikation gesellschaftlicher Integration insgesamt. Aber es gibt auch Hemmnisse, die mit der sozialen Abschließung ethnischer Gruppen zu tun hat – und in globalisierten Metropolen wird diese Form lokaler Verortung immer bedeutsamer – nicht nur für die ethnischen Gruppen, auch für die Einheimischen. Man braucht nämlich das Gefühl der Zugehörigkeit, man braucht das Vertrauen in die lokalen Strukturen der Alltagsbewältigung und man bedarf der Anerkennung und des Gefühls, für andere relevant zu sein. Das gelingt immer mehr in solchen sozio-kulturell homogenen und überschaubaren „gated“ communities.

Gerade bei der zweiten Generation wird dies virulent. Generation mix heißt ja, dass man einen türkischen familiären Hintergrund hat und vor diesem Hintergrund in Deutschland aufgewachsen ist. Was bedeutet dies für die Identitätssicherung dieser Generation im Spannungsverhältnis von ethnischer Herkunftsidentität und nationaler Zukunftsidentität? Oder gelingt Identität eher dort, wo die oben beschriebene lokale Verortung Lebenszusammenhänge schafft, die eine Antwort auf die Frage erlauben, wer man ist im Verhältnis zu den anderen und wie man gesehen werden möchte von den anderen?

Diese Fragen werden ausführlich diskutiert. Interessant ist dabei, dass sich nur in Berlin die Identifikation mit dem Stadtteil ausbildet – der Kiez als Integrationsmodell einer kulturell heterogenen Stadtgesellschaft?

Das Autorenteam geht auch auf interethnische Freundschaften ein, die in den untersuchten Städten entstehen. Es begründet, warum solche Freundschaften wichtig sind für die Wahrnehmung des Anderen als einem Anderen, aber Ebenbürtigen. Im Szenario „Angst und Demütigung“ ziehen sich die Betroffenen eher aus solchen Kontakten zurück, im Szenario „Empowerment und Hoffnung“ ist man offener für derartige Beziehungen, weil hier auch die sozialen und kulturellen Gemeinsamkeiten eine größere Bedeutung erhalten als ethnische Unterschiede. Weiter diskutieren die Autorin und die Autoren die „Schanierfunktion“ der zweiten Generation in den Großstädten, wo sich eher multikulturelle Freundeskreise ausbilden.

Worin besteht die Chance einer „mehrheitlich Minderheiten-Stadt“ – einer Stadt, in der auch die einheimische Bewohnerschaft die Minderheit ist? Hier wird die Chance eher auf der Handlungsebene in der Veränderung von Handlungs-, Lebens- und Kommunikationsstilen gesehen. Dabei geht es um Prozesse, die länger andauern und nicht von heute auf morgen etwas bewirken.

Zu: Vier Essays. Meine Identität

In diesem Kapitel werden vier Essays zusammengefasst, in der die Personen sich selbst portraitieren. Die Personen beschreiben selbst, woher sie kommen, wie ihre familiäre Situation zu Beginn ihrer Migration nach Deutschland aussah, wie sie sich entwickelt haben, wie sie ihre Identität im Spannungsfeld von ethnischer Zugehörigkeit und der neuen Lebenssituation in Deutschland gefunden haben und zu sichern vermögen.

  • Aysegül Acevit lebt als Rundfunk-Journalistin in Köln. Sie ist Sozialwissenschaftlerin und kam als Kleinkind Anfang der 70er Jahre mit ihren Eltern nach Deutschland. Sie beschäftigt sich mit sozialen und kulturellen Themen und hat Erzählungen aus dem deutsch-türkischen Leben publiziert.
  • Özlem Nas ist promovierte Erziehungswissenschaftlerin und ist aktiv im Vorstand der Schura Hamburg und des Bündnisses der Islamischen Gemeinden in Norddeutschland und Gründungsmitglied vom „Aktionsbündnis muslimischer Frauen in Deutschland“ und gehört dem Integrationsbeirat der Stadt Hamburg an.
  • Serdar Manavoglu ist Programmmacher im Paradiso Amsterdam und organisiert mit der von ihm begründeten Pera-Stiftung Kulturveranstaltungen mit aktuellen Künstlern. Er ist Initiator von Pink Istanbul und war mitverantwortlich für die Teilnahme des türkischen Bootes an der Gay Pride in Amsterdam.
  • Jens Schneider wohnt seit 30 Jahren in Hamburg in einem superdiversen Stadtteil. Zwischenstationen bis dahin waren Chile, Amsterdam, Berlin und Rio de Janeiro.

Diskussion

Die europäischen Metropolen verändern sich, sie werden kulturell vielfältiger heterogener und sie sind sozialstrukturell vielschichtiger – bis hin, dass sie sich sozialräumlich spalten in privilegierte und deprivierte Viertel und sozio-kulturell sich einzelne Gruppen und Milieus immer stärker abschließen. Globalisierte Metropolregionen entfalten dabei eine eigene Dynamik von Integration und Ausschließung, die kleine Städte und der ländliche Raum so nicht kennen. Die Stadt integriert eh´ nur unvollständig und Metropolen bedürfen im Grunde keines Integrationsmodus, der auf der Identifikation der zu Integrierenden mit den bereits Integrierten beruht. Für die Integration in der Stadt reicht es aus, wenn man sich im öffentlichen Raum angemessen verhalten kann und den dort geltenden Erwartungen einigermaßen entspricht. Die für die Stadt typische Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit erlaubt diese Form der unvollständigen Integration - ja, sie ist sogar ein konstitutives Element der unvollständigen Integration. Diese Form der Integration reicht für den Städter immer auch aus, seine Identität durch Darstellung und Repräsentation zu sichern.

Wenn es deshalb auch einer zweiten Generation türkischer Einwanderer besser gelingt, sich zu integrieren, dann auch deshalb, weil eine Metropole nicht darauf angewiesen ist, ihre Bewohnerschaft vollständig zu integrieren und weil wir es mit einer urbanisierten Mittelschicht zu tun haben, der es gelingt, sich soweit sozial zu verorten, dass sie einerseits in lokale Lebenszusammenhänge einer community eingebunden ist und dennoch den Erwartungen der urbanen Lebensweise genügen kann.

Im Buch wird nicht über die Gruppen einer türkischen zweiten Generation gesprochen, die sich in deprivierten Lebensverhältnissen bewegen, in sozialräumlich segregierten Quartieren zusammen mit einer deutschen benachteiligten Bevölkerung wohnen, die auch nach Integration und Anerkennung ringt, die auch keine Qualifikation erreicht und auch auf sozialstaatliche Leistungen angewiesen ist.

Und was die Strukturen angeht, die den Rahmen des Handels abgeben, ist die Diskussion komplexer. Einerseits können wir von Stadtgesellschaften reden, die in der Konkurrenz mit anderen Städten ihre Eigenlogik entfalten. Andererseits ist die kulturelle, soziale und ökonomische Kerndynamik der Stadt eingebettet in größere Zusammenhänge nationaler oder internationaler Kontexte, so dass Amsterdam eine niederländische Stadt bleibt, wie London eine englische und Berlin eine deutsche. Und deswegen hängt auch die Art der Entfaltung der zweiten Generation in den einzelnen Städten nicht nur von den kulturellen Mustern der Städte ab, sondern auch von den Integrations- und Ausgrenzungslogiken der deutschen, der englischen oder niederländischen Gesellschaft und von deren kulturellen Mentalitäten und Deutungsmustern, von ihren Alltagbewältigungsstrategien und Lebensstilentwürfen.

Auch wenn die Großstädte längst nicht mehr von einer Mehrheitsgesellschaft beherrscht werden, was den Stadtsoziologen jetzt noch nicht aufregt, werden wir eben diese Form der kulturellen Vielfalt und Heterogenität nur in den Großstädten mit einer spezifischen ökonomischen, kulturellen und sozialen Dynamik wiederfinden. Und ob dann die Stadtpolitik bereits sich daraus ausgerichtet hat, ist dann immer noch mal eine andere Frage. Denn die gelebte urbane Wirklichkeit ist noch nicht ausreichend für den gesellschaftlichen Wandel, wenn sich nicht auch strukturell etwas verändert.

Fazit

Ein spannendes Buch, das vor allem die Angehörigen der türkischen zweiten Generation interessieren könnte, die inzwischen in der Mittelschicht angekommen sind.

Rezension von
Prof. Dr. Detlef Baum
Professor em. Arbeits- u. Praxisschwerpunkte: Gemeinwesenarbeit, stadtteilorientierte Sozialarbeit, Soziale Stadt, Armut in der Stadt Forschungsgebiete: Stadtsoziologie, Stadt- und Gemeindeforschung, soziale Probleme und soziale Ungleichheit in der Stadt
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Es gibt 172 Rezensionen von Detlef Baum.

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ISSN 2190-9245