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Doris Schaeffer, Kerstin Hämel et al.: Versorgungsmodelle für ländliche und strukturschwache Regionen

Rezensiert von Prof. Dr. Stefanie Richter, 23.03.2015

Cover Doris Schaeffer, Kerstin Hämel et al.: Versorgungsmodelle für ländliche und strukturschwache Regionen ISBN 978-3-7799-1990-2

Doris Schaeffer, Kerstin Hämel, Michael Ewers: Versorgungsmodelle für ländliche und strukturschwache Regionen. Anregungen aus Finnland und Kanada. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2015. 248 Seiten. ISBN 978-3-7799-1990-2. D: 34,95 EUR, A: 35,90 EUR, CH: 45,90 sFr.

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Thema

Im Mittelpunkt der Publikation stehen die Darstellung und Diskussion von Lösungsansätzen zur Bewältigung der Herausforderungen des demographischen, epidemiologischen und gesellschaftlichen Wandels, die in den Ländern Finnland und Kanada entwickelt worden sind. Dabei wird ein besonderer Fokus auf die Gestaltung der Versorgung in ländlichen und strukturschwachen Regionen gelegt. Tatsache ist, dass in Deutschland der Anteil der alten und hochaltrigen Menschen an der Gesamtbevölkerung stark steigt, dass chronische und Mehrfacherkrankungen die Dominanz von übertragbaren bzw. Akuterkrankungen abgelöst haben und dass Gesundheitschancen sozial und regional ungleich verteilt sind. Verstädterung und Abwanderung von vor allem jungen Menschen und Industriezweigen aus ländlichen Regionen führen zu Bevölkerungsschrumpfung und Überalterung ganzer Landstriche bei gleichzeitigem Verlust von Intrastrukturen. Besonders in diesen ländlichen Regionen wächst das Risiko einer Unter- und Fehlversorgung. Bisherige Strukturreformen genügen allerdings nicht, dem gewandelten und regional differenzierten Bedarf zu entsprechen und Unter-, Über- oder Fehlversorgung zu vermeiden. [1] Der Bedarf an innovativen und nachhaltigen Lösungsansätzen ist offensichtlich.

Das Buch von Doris Schaeffer, Kerstin HämelundMichael Ewers„Versorgungsmodelle für ländliche und strukturschwache Regionen. Anregungen aus Finnland und Kanada“zielt darauf ab, auf Basis systematischer Analysen die Entwicklung und Umsetzung neuer Modelle in Finnland und Kanada unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Rahmenbedingungen darzustellen und für das deutsche Gesundheitssystem interessante Anschlussstellen herauszuarbeiten. Sie richten sich dabei gleichermaßen an Akteure aus Politik, Kommunen, Praxis und Wissenschaft.

Autoren

Die Autoren[2] verfügen über umfassende Expertisen der Gesundheitswissenschaften und Pflegewissenschaft mit besonderem Schwerpunkt auf Bewältigung und Versorgungsformen chronischer und komplexer Erkrankungen, auf Gesundheit im Alter und Aufgabenfelder der Gesundheitsprofessionen.

Doris Schaeffer ist Professorin und Direktorin des Instituts für Pflegewissenschaft an der der Universität Bielefeld. Mit zahlreichen Forschungsprojekten und Publikationen zu Themen wie z.B. Bewältigung chronischer Krankheiten und Gesundheit im Alter gibt sie wichtige und neue Impulse sowohl für die Gesundheitswissenschaften und Pflegewissenschaft als auch für die Versorgungspraxis. Zugleich befördert sie mit ihren Beiträgen die Weiterentwicklung von Gesundheitsprofessionen und der Pflege- bzw. Versorgungsforschung. Neben vielen Mitgliedschaften in Expertenkommissionen ist sie Mitglied im SVR.

Die Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte von Kerstin Hämel, Professorin für Gesundheitswissenschaften mit Schwerpunkt pflegerische Versorgungsforschung an der Universität Bielefeld, sind besonders Gesundheit und Pflege im Alter, regional differenzierte Versorgung, Primärversorgung im internationalen Vergleich.

Michael Ewers ist Professor und Direktor des Instituts für Gesundheits- und Pflegewissenschaft an der Charité – Universitätsmedizin Berlin und befasst sich in zahlreichen Forschungsprojekten und Publikationen mit Themen wie z.B. Palliative Care, ambulante Schwerstkrankenversorgung, Case Management und neuen Aufgabenfeldern für Gesundheitsprofessionen. Er ist Mitglied in zahlreichen Fachgesellschaften und z.B. Sachverständiger „Hochschulische Qualifikationen für das Gesundheitswesen“ des Wissenschaftsrates.

Entstehungshintergrund

Grundlage für das Buch sind Ergebnisse der Studie „Regional differenzierte Versorgung – eine international vergleichende Analyse ländlicher Versorgungsmodelle“, die von der Robert Bosch Stiftung gefördert und vom Autorenteam unter Mitarbeit von Janina Kutzner durchgeführt wurde.

Aufbau und Inhalte

Einleitung (Kapitel 1-2)

Im ersten Kapitel der Einleitung wird das Problemfeld des demographischen, epidemiologischen Wandels und der sozialen wie regionalen Disparitäten skizziert und der Bedarf an regional differenzierten Versorgungskonzepten begründet. Obwohl es bereits heute in Deutschland ländliche Regionen gibt, die von einer Unterversorgung bedroht sind und in denen besonders ältere Menschen und Menschen mit geringen Einkommen leben, beobachten die Autoren eine weitgehend fehlende Sensibilität für regionale Disparitäten in Deutschland (Schaeffer et al. 2015: 10). Es fehle an innovativen Lösungen. Die Autoren sehen in der Untersuchung ländlicher Versorgungsgestaltung anderer Staaten einen Erkenntnisgewinn. Kanada und Finnland werden als besonders interessant erachtet, da diese von vergleichbar ähnlichen Entwicklungen auf dem Land betroffen sind und bereits frühzeitig mit der Umgestaltung der ländlichen Versorgung begonnen haben. Beide Länder wurden für die Studie ausgewählt, unter Berücksichtigung der Unterschiede in der Gestaltung des Gesundheitssystems, Gemeinwesens und in der Siedlungsstruktur. Anschließend wird für den Leser nachvollziehbar dargestellt, wie die Autoren ihre Feldstudien durchgeführt haben und zu einzelfallübergreifenden Aussagen gelangt sind.

Das zweite Kapitel gibt für die drei Länder Deutschland, Finnland und Kanada Basisinformationen zur Gestaltung des Gesundheitssystems und Rolle der Kommunen, zum Altersstrukturwandel, zur Siedlungs- und regionalen Bevölkerungsstruktur sowie zur Versorgungsgestaltung. Im Unterschied zu Deutschland wird z.B. deutlich, dass in Finnland und Kanada die (Um-)Gestaltung und Organisation der Gesundheitsversorgung eher dezentral, gerahmt von Richtlinien, stattfindet und Kommunen bzw. regionale Gesundheitsbehörden eine herausragende Rolle übernehmen.

Hauptteil mit Themenschwerpunkten (Kapitel 3-13)

Im Hauptteil werden elf ausgewählte Versorgungsmodelle in Form verdichteter Portraits beschrieben. Die Portraits sind in der Struktur abgestimmt, so dass der Leser stets informiert wird über den historischen Entstehungskontext, die Konzeption, Implementierung, Organisationsstruktur und Finanzierung sowie Evaluation. Anschließend folgen in der Regel zwei Praxisbeispiele, die die Umsetzung nachvollziehbar machen. Jedes Portrait endet mit Anregungen für die deutsche Versorgung. Die Autoren haben die Portraits vier Themenschwerpunkten zugeordnet.

Unter dem ersten Schwerpunkt „Neue Lösungen für die Primärversorgung“ (Kapitel 3-6) werden Versorgungsmodelle beschrieben, die eine umfassende und wohnortnahe Grundversorgung gewährleisten und die durch einen niederschwelligen Zugang charakterisiert sind. Kennzeichnend für die vier Modelle sind u.a. die Bündelung eines breiten Leistungsspektrums inklusive Prävention und Gesundheitsförderung, multiprofessionelle Teams und nicht-hierarchische Kooperationen, Gestaltungs- und Handlungsspielraum der Pflege, Offenheit zur Anpassung an lokale Besonderheiten, Bedarfs- und Populationsorientierung sowie Integration ehrenamtlich organisierter Hilfen.

Family Health Teams: Primärversorgung im ländlichen Kanada (Kapitel 3): Vorgestellt wird ein Modell, bei dem der Allgemeinarzt mit einem multiprofessionellen Team unter einem Dach zusammenarbeitet und die eingeschriebenen Patienten entsprechend ihrem individuellen Bedarf im gesamte Lebensverlauf ambulant versorgt werden können. Neben der Akutversorgung stehen Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung sowie zur Versorgung chronisch erkrankter und älterer Menschen im Fokus. Die Integration und Koordination intern und extern erbrachter Leistungen sind elementar, ebenso die Ausrichtung auf die regionale Bedarfslage. Mit den zwei Praxisbeispielen verdeutlichen die Autoren u.a. die regional differenzierte Ausgestaltung und Entwicklung von Lösungsansätzen, um z.B. dem Ärztemangel zu begegnen, das Praktizieren von Klientenorientierung und Kooperation sowie die Bedeutung generalistisch ausgerichteter Qualifikationen.

Nurse Practitioner-Led Clinics: Primärversorgung durch Pflegende in Kanada (Kapitel 4): Die Autoren stellen hier ein Modell zur Erweiterung des Kompetenz- und Aufgabenspektrums der professionellen Pflege und zur Kompensation des Ärztemangels in ländlichen Gebieten vor. „Nurse Practitioners“, auf Masterniveau qualifizierte Pflegende, bieten in ambulanten Primärversorgungseinrichtungen eigenverantwortlich diagnostische, therapeutische, betreuende sowie steuernde Leistungen an, ähnlich dem Allgemeinarzt der Family Health Teams (FHT). Neben der Pflege sind andere Disziplinen beschäftigt und arbeitet die Nurse Practitioners eng mit lokalen Ärzten zusammen, unterstützt durch Telematik. Das Aufgabespektrum ähnelt dem der FHT. Die Praxisbeispiele zeigen, dass anders als in Deutschland die Pflege Diagnosen stellt, Verschreibungen vornimmt und ein breites Spektrum an Behandlungen sowie steuernden Aufgaben übernimmt. Die Autoren sehen für die akademisch qualifizierte Pflege in Deutschland ein vergleichbares Wirkungsfeld, insbesondere in der Versorgung chronisch erkrankter und älterer Menschen.

Gesundheitskioske: niederschwellige Primärversorgung in Finnland (Kapitel 5): Gesundheitskioske als Strategie der kommunalen Primärversorgung sollen Gesundheitsleistungen wie z.B. Information über Angebote in der Region, Gesundheitsberatung, kleinere medizinische Versorgungsleistungen sowie themenbezogene Veranstaltungen niederschwellig anbieten. Es sind gut zugängliche Einrichtungen, die z.B. in Einkaufszentren installiert und entsprechend der dortigen Öffnungszeiten geöffnet werden. Kennzeichnend ist ein flexibles Grundkonzept, das einerseits Standards, andererseits regionale Angebotsanpassung erlaubt. Prävention und Gesundheitsförderung stehen im Fokus und auch hier bietet die Pflege die Gesundheitsleistungen an.

Eine mobile Klinik für den ländlichen Raum in Finnland (Kapitel 6): Im Mittelpunkt steht eine von Pflegenden geführte mobile Klinik als Teil der Regelversorgung in ländlichen Regionen Finnlands. Die ‚fahrende‘ Klinik ist als Ergänzung der kommunalen Gesundheitszentren konzipiert, die in Gemeinden ohne Gesundheitszentrum einen regelmäßigen Zugang zur Grundversorgung, insbesondere für ältere, chronisch erkrankte und immobile Menschen ermöglicht. Das mobile Angebot umfasst z.B. Leistungen der Prävention, Gesundheitsförderung, Beratung sowie Verlaufskontrollen und Versorgung chronisch erkrankter Menschen und ist mit dem in der Region ansässigen Gesundheitszentrum vernetzt, so dass eine Versorgungsabstimmung stattfinden kann.

Unter dem zweiten Schwerpunkt „Integrierte Gesundheitszentren“ (Kapitel 7-9) werden Modelle aufgezeigt, die eine umfassende Gesundheitserhaltung und Primärversorgung durch Bündelung der Ressourcen an einem Standort bzw. unter einem Dach ermöglichen. Über die Sicherstellung einer Primärversorgung hinaus spielen z.B. Gemeindeorientierung, Ausrichtung am Bedarf der ansässigen Bevölkerung, Integration sozialer Dienste und ehrenamtlicher Organisationen eine wichtige Rolle.

Kommunale Gesundheitszentren in Finnland (Kapitel 7): Dargestellt werden die in Finnland flächendeckend etablierten Gesundheitszentren, die ein umfassendes Spektrum an vornehmlich ambulanten, aber auch stationären und Notfallleistungen unter einem Dach anbieten. Die Versorgung ist auf den gesamten Bedarf im Lebenslauf ausgerichtet, unter besonderer Berücksichtigung chronischer und altersbedingter Erkrankungen. Umfang und Angebotsstruktur werden am Bedarf der Bevölkerung des Einzugsgebietes ausgerichtet. Gesundheitsförderung, Leistungen der Prävention, Beratung, Diagnostik, Behandlung, Therapie, Pflege oder Sozialbetreuung werden multiprofessionell erbracht, abgestimmt und koordiniert, auch an den Übergängen in die stationäre Akut- oder Langzeitversorgung. Auch hier zeigen die Autoren, dass der akademisch qualifizierten Pflege ein erweitertes Kompetenz- und Entscheidungsspektrum zukommt.

Community Health Centres in Kanada (Kapitel 8): Beschrieben wird ein Modell, das der Gesundheitsförderung und Primärversorgung vulnerabler Gruppen sowie in strukturschwachen Regionen dient. Fokussiert werden besonders ältere, sozial und gesundheitlich benachteiligte Menschen sowie die Kommune als Kontext der Gesundheit ihrer Bürger. Unter einem Dach erbringen verschiedene Professionen eine umfassende Primärversorgung. Gleichzeitig spielen präventive und gesundheitsfördernde Maßnahmen eine besondere Rolle, um die Gesundheitskompetenzen der Zielgruppen zu stärken. Neben Gesundheitsprofessionen sind soziale Dienste integriert, um sozialen Problemlagen begegnen zu können. Das gezielte Wirken in die Kommune soll Infrastrukturprobleme und gesundheitsgefährdende Bedingungen wie z.B. Luftverschmutzung mindern. Die Autoren sehen hier u.a. Anregungen in der dezidierten Gemeindeorientierung und Integration sozialer Dienste.

Local Health Hubs: räumlich integrierte Versorgung in Kanada (Kapitel 9): Das hier dargestellte Modell zielt auf eine wohnortnahe und räumlich konzentrierte, vernetzte Versorgung in ländlichen Regionen. In der Gemeinde werden um eine zentrale Gesundheitseinrichtung herum die lokalen gesundheitsbezogenen und sozialen Leistungserbringer und Einrichtungen sowie ehrenamtlich organisierte Hilfen angesiedelt. Die Autoren zeigen, dass die räumliche Konzentration den Nutzern die Zugänglichkeit zu breiter Hilfe und Information erleichtert und integrierte und abgestimmte Versorgung befördert. Auch hier gibt es definierte Rahmenrichtlinien, jedoch zugleich die Forderung einer populationsbezogenen Ausgestaltung.

Unter dem dritten Schwerpunkt „Verbesserungen für die Krankenhausversorgung“ (Kapitel 10-11) werden zwei Programme zur Sicherstellung der Krankenhausversorgung auf dem Land und zur Vermeidung von Fehlbelegungen im Krankhaus vorgestellt.

Vernetzung ländlicher Kleinkrankenhäuser in Kanada (Kapitel 10): Hier geht es um ein Förderprogramm zur flächendeckenden Sicherstellung der Krankenhaus- und Notfallversorgung in abgelegenen und bevölkerungsarmen Gebieten Kanadas. Elemente der Restrukturierung sind z.B. die Bildung von Krankhausverbünden durch Zusammenschlüsse; eine Neudefinition von Kernleistungen differenziert nach Krankenhausgröße bei gleichzeitiger Freiheit, Schwerpunkte je nach lokalem Bedarf zu setzen; Förderung einer sektorenübergreifenden Vernetzung und Konzentration externer Leistungserbringer in unmittelbarer Nähe des Krankhauses; Einsatz von Telematik zur Konsultation vor Ort nicht vorhandener Expertisen sowie Aufgabenerweiterung und Stärkung der Pflege. Die Autoren sehen interessante Anregungen für die Bewältigung wachsender ländlicher Versorgungsprobleme in Deutschland.

Home First: Überleitungsmanagement in Kanada (Kapitel 11): Dargestellt wird ein Entlassungs- und Überleitungsmanagement vom Krankenhaus in die häusliche Versorgung. Ziel ist, systematisch Patienten mit einem langfristigen und komplexen Unterstützungsbedarf zu identifizieren und ihnen eine reibungslose Überleitung und Weiterversorgung in der Häuslichkeit zu ermöglichen und zugleich Fehlbelegungen im Krankenhaus zu reduzieren. Pflegekräfte einer krankhausexternen Agentur (Community Care Access Centres) realisieren eigenständig das Überleistungsmanagement und greifen dabei auf ein ambulantes Netz von Anbietern zurück. Mit Blick auf die hiesigen Schnittstellenprobleme und Risiken von Versorgungsabbrüchen an den Übergängen zwischen stationärer und ambulanter Versorgung sehen die Autoren im Modell Home First viel Potenzial, betonen zugleich die leichtere Umsetzung in einem staatlich gesteuerten Gesundheitssystem.

Unter dem vierten Schwerpunkt „Neuorganisation der häuslichen Versorgung“ (Kapitel 12-13) werden Ansätze zur Langzeitversorgung chronisch erkrankter, behinderter und pflegebedürftiger Menschen diskutiert.

Community Care Access Centres: Zugang zur Langzeitversorgung in Kanada (Kapitel 12): Beschrieben wird das Modell regionaler Agenturen zur Verbesserung des Zugangs zur Langzeitversorgung und der Fall- und Versorgungssteuerung. Die Agenturen sind zu verorten zwischen der steuernden Gesundheitsregierung der Provinz, den lokalen Leistungserbringern und den Nutzern. Die CCAC haben Zugangs-, Steuerungs- und Budgetverantwortung und schließen qualitätsorientiert Verträge mit lokalen Anbietern. Für den Nutzer erfolgen der Zugang zur Langzeitversorgung und die Koordination des individuellen Arrangements über die CCAC. Pflegekräfte sind als „Care Coordinator“ für die individuelle Fall- und Versorgungssteuerung zuständig und übernehmen beratende, informierende, edukative, koordinierende und qualitätssichernde Aufgaben.

Häusliche Pflege und Versorgung in Finnland (Kapitel 13). Finnland strebt die Stärkung einer umfassenden, integrierten häuslichen Versorgung in den ländlichen Regionen an. Die dünne Besiedlung und weite Entfernungen sowie die wachsende Gruppe älterer Menschen mit komplexem Versorgungsbedarf stellen große Herausforderungen dar. Vorgestellt wird das Konzept von Home Care Units, die mit dezentralen ambulanten Pflegeteams arbeiten und den Organisationsrahmen bilden. Die Pflegeteams sind für ein definiertes regionales Gebiet zuständig. Kennzeichnend sind u.a. mehrdimensionales Assessment, Monitoring, gestuftes Leistungsspektrum, Fall- und Versorgungssteuerung (auch an Übergängen), Populationsorientierung und enge lokale Kooperation. Die Autoren zeigen auch hier, wie breit das Aufgaben- und Verantwortungsspektrum der Pflege in den Teams konzeptionell angelegt ist und dass entsprechende Qualifikationsstrukturen sowie ein Kooperationsverständnis zwischen den Akteuren in Finnland die Umsetzung befördern.

Ausblick (Kapitel 14)

Im letzten Kapitel werden zentrale Erkenntnisse, über die Einzelfallbeschreibung (Portrait) hinausgehend, zusammengetragen und mit Bezug auf die hiesige Situation diskutiert. Zwar ist eine direkte Übertragung aufgrund bestehender Unterschiede der Gesundheits- und Sozialsysteme im Vergleich zu Deutschland weniger sinnvoll, so die Autoren, jedoch gibt es zahlreiche Anregungen für die Bewältigung der anstehenden Herausforderungen. In gegliederten Abschnitten diskutieren die Autoren z.B. Themen wie die Stärkung einer wohnortnahen und umfassend gestalteten Primärversorgung, die dem Bedarf aller Lebensphasen und der gewandelten Morbiditätsstruktur angemessen ist, die neben kurativen Maßnahmen Prävention, Gesundheitsförderung und Rehabilitation integriert und die zugleich die Lebenslagen und somit soziale Leistungen berücksichtigt; multiprofessionelle Arbeitszusammenhänge und teambasierte Kooperationen auf der Grundlage definierter Aufgaben- und Verantwortungsbereiche; die Aufwertung, Aufgabenerweiterung und Qualifizierung der Pflege sowie weiterer Gesundheitsprofessionen; Patientenorientierung, Partizipation sowie Integration selbstorganisierter Hilfen; die Organisation sektorenübergreifender, integrierter Versorgung; Fall- und Versorgungssteuerung, die in Kanada und Finnland häufig von der akademisch qualifizierten Pflege geleistet wird; eine populationsorientierte und regional differenzierte Versorgungsgestaltung sowie die in den beiden Ländern praktizierte datengestützte, systematische Entwicklung, Implementierung und Evaluation innovativer Modelle.

Diskussion

Das Buch zeigt ein breites Spektrum an Lösungen von der ambulanten Grundversorgung über eine Bündelung und Integration der Leistungserbringer und Erhaltung flächendeckender Krankenhausstrukturen bis hin zur häuslichen Langzeitversorgung und Pflege in zersiedelten und strukturschwachen Regionen. Dabei begrenzt sich der Informationsgehalt nicht nur auf Lösungsansätze für ländliche und strukturschwache Regionen, sondern lassen sich zahlreiche Anregungen zur zukunftsfähigen Gestaltung der Versorgung chronisch erkrankter und älterer Menschen im Allgemeinen ableiten. Die Autoren haben in ihrer Studie ein offenes, qualitatives Design angewandt, das dem Gegenstand und Erkenntnisinteresse sehr angemessen erscheint. Wichtig und hilfreich sind im zweiten Kapitel die Darstellung von Kontextdaten und die Informationen über die Struktur und Organisation des jeweiligen Gesundheitssystems. Dadurch wird für den Leser besser nachvollziehbar, warum sich bestimmte Strategien im jeweiligen Gesundheitssystem leichter realisieren lassen. Neben den konzeptionellen Inhalten ist das Besondere an den Portraits, dass hier viele der bereits in Diskussionen geforderten Strategien in ihrer praktischen und nachhaltigen Umsetzung sichtbar werden, z.B. eine umfassende Primärversorgung mit Ausrichtung auf den Lebenslauf, auf die gewandelten Morbiditäts- und Altersstrukturen sowie auf die sozialen Lagen; praktizierte Patienten-, Zielgruppen-, Lebenswelt- und Ressourcenorientierung; interprofessionelle und intersektorale Kooperationen unter Einbindung kommunal und ehrenamtlich organisierter Hilfen als Grundlage gelingender Komplexversorgung; die Realisierung von Fall- und Versorgungssteuerung; die systematische Integration von Telematik und neuer Informationstechnologien oder das erweiterter Aufgaben- und Kompetenzspektrum der Pflege. Insbesondere für die Pflege und andere Gesundheitsprofessionen in Deutschland zeigen die Beispiele aus Finnland und Kanada einmal mehr, dass die bisherigen Qualifikationsprofile und rechtlichen Handlungsspielräume den gewandelten Anforderungen nicht mehr genügen und hier dringender Handlungsbedarf besteht. Im Hinblick auf eine gelingende und nachhaltige Umgestaltung ländlicher Versorgungsstrukturen ist die von den Autoren herausgearbeitete generelle Beobachtung von Bedeutung. In beiden Ländern findet die Entwicklung, Implementierung und Evaluation datengestützt, systematisch und unter Einbezug aller Akteure statt. Abschließend ist hervorzuheben, dass die Autoren eine Sprache und Darstellungsweise gewählt haben, die sich an eine breite Leserschaft richtet. Die Lektüre des Buches setzt kein Vorwissen über die Gesundheitssysteme voraus und wird durch Fußnoten zur Vermittlung von Hintergrundwissen unterstützt.

Fazit

Mit dem Buch „Versorgungsmodelle für ländliche und strukturschwache Regionen. Anregungen aus Finnland und Kanada“ greifen die Autoren das hochaktuelle, allerdings erst langsam in das öffentliche Bewusstsein gelangende Thema einer Unter- und Fehlversorgung in ländlichen Regionen auf und richten den Blick auf innovative und nachhaltige Lösungen, die über punktuelle Ansätze und Anreize hinausgehen. Damit leisten Sie einen wichtigen Beitrag zur Beförderung des Themas und zur Entwicklung von Perspektiven zur Umgestaltung ländlicher Versorgungsstrukturen in Deutschland. Mit den Beispielen zeigen die Autoren, dass es trotz unterschiedlich organisierter Gesundheitssysteme Lösungswege gibt und dass zur Konzeption und Realisierung nachhaltiger Versorgungsansätze Akteure aus Politik, Kommune, Versorgung, Wissenschaft und Zivilgesellschaft gleichermaßen zu beteiligen sind.

Literatur

  • DESTATIS Statistisches Bundesamt (2013): Anstieg der Todesfälle im Vergleich zum Vorjahr um 2%. https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2013/12/PD13_422_232.html (17.03.15)
  • Lampert, T. et al. (2013): Sozioökonomischer Status und Gesundheit. Ergebnisse der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1). In: Gesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 56 (5/6): 814-821.
  • Nowossadeck, E. (2012): Demografische Alterung und Folgen für das Gesundheitswesen. Hrsg. Robert Koch-Institut Berlin. GBE kompakt 3(2). www.rki.de/gbe-kompakt (17.03.15)
  • OECD (2013): Health at a Glance 2013: OECD Indicators. OECD Publishing. http://www.oecd-ilibrary.org/social-issues-migration-health/health-at-a-glance-2013_health_glance-2013-en (17.03.15).
  • RKI Robert Koch-Institut (2014): Daten und Fakten: Ergebnisse der Studie „Gesundheit in Deutschland aktuell 2012“. Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Berlin: Robert Koch-Institut.
  • SVR Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2014): Bedarfsgerechte Versorgung – Perspektiven für ländliche Regionen und ausgewählte Leistungsbereiche.

[1] Vgl. OECD 2013, RKI 2014, DESTATIS 2013, Nowossadeck 2012, Lampert et al. 2013, SVR 2014

[2] Nachfolgend wird nur zur besseren Lesbarkeit die maskuline Form der Substantive verwendet. Es sind beide Geschlechter gleichermaßen gemeint.

Rezension von
Prof. Dr. Stefanie Richter
Professur für Gesundheitswissenschaften Wilhelm Löhe Hochschule für Angewandte Wissenschaften Fürth
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ISSN 2190-9245