Martha Craven Nussbaum: Die neue religiöse Intoleranz
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 13.01.2015

Martha Craven Nussbaum: Die neue religiöse Intoleranz. Ein Ausweg aus der Politik der Angst. wbg Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Darmstadt) 2014. 220 Seiten. ISBN 978-3-534-26460-5. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 53,90 sFr.
Geht es in unserem Leben um uns?
Diese, aus dem Vorwort des Buches von Martha Nussbaum entnommene Frage bedarf der Erläuterung. Die US-amerikanische Philosophin schildert darin die Umstände, die sie zum Schreiben dieser aktuellen, irritierenden und konfrontierenden Fragestellung über religiöse Intoleranz, Fanatismus und Fundamentalismus veranlasste. Es war ein philosophischer Online-Kommentar in der New York Times, in dem sie über die Diskussionen zum Burka-Verbot in europäischen Ländern schrieb. Der lebhafte, zustimmende wie kontrovers geführte Diskurs darüber bildet die Grundlage für den Essay. Martha Nussbaum widmet das Buch dem 2008 verstorbenen Rabbi Arnold Jacob Wolf, einem Vertreter des Reform-Judentums. Seine Überzeugung, dass die biblischen Texte und tätiges religiöses Leben die Menschen zu tieferer Selbsterkenntnis und zur Selbstkritik führen würden, übernimmt sie in ihrem Buch und stellt fest: „Man muss ( ) die Tatsache akzeptieren, dass man die Welt mit anderen Menschen teilt und so handeln, dass es anderen zugute kommt“. Ihr Imperativ: „Erkenne dich selbst, damit du aus dir heraustreten kannst; diene der Gerechtigkeit und fördere den Frieden“.
Aufbau und Inhalt
Die Autorin gliedert das Buch in sieben Kapitel.
- Im ersten geht es um „Religion: Zeit der Angst und der Verdächtigung“;
- im zweiten um „Angst: Ein narzisstisches Gefühl“;
- im dritten um „Grundprinzipien: Gleicher Respekt für das Gewissen“;
- im vierten um den „Splitter im Auge meines Bruders: Unparteilichkeit und das selbsterforschte Leben“;
- im fünften um „Innere Augen: Respekt und mitfühlende Phantasie“.
- Im sechsten Kapitel thematisiert Martha Nussbaum als Exempel den „Fall Park51“;
- und im siebten formuliert sie Antworten „Wie man die Politik der Angst überwindet“.
Die gesetzlichen Regelungen in einigen europäischen Ländern, mit denen das Tragen der Burka und des Niqab in der Öffentlichkeit verboten, ja sogar das Tragen von Kopftüchern unter Strafe gestellt wird, der Bau von Minaretten bei Moscheen, wie etwa in der Schweiz, verhindert wurde, haben nicht zur Beruhigung der überwiegend emotional und von Ängsten bestimmten Aufgeregtheiten in der Bevölkerung geführt; vielmehr wurden Rassisten und fremdenphobische Einzeltäter und Gruppen ermutigt, gewaltsam und, wie etwa in Norwegen durch die Tat des Fanatikers Anders Breivik, mit Mord und Terror beantwortet. Fremdenfeindliche und ethnozentrierte Parteien haben in vielen europäischen Ländern Zulauf, und nationalistische, ja sogar faschistische Bewegungen sind überall auf der Erde in Vormarsch. Die Autorin setzt sich intensiv mit der Situation in ihrem Heimatland, den USA, auseinander. Sie verweist darauf, dass in der (an sich) offenen Gesellschaft in den Vereinigten Staaten zwar offiziell Gesetze gegen religiöse und andere Diskriminierungen existieren, Vorurteile und Übergriffe aber auf Andersdenkende meist lokal und regional ablaufen. Es sei – zumal im Melting Pot der US-amerikanischen Gesellschaft – besonders bemerkenswert, dass die Idee der nationalen Identität ausschließlich mit den Forderungen nach (religiöser) Homogenität und Zugehörigkeit verbunden wird und überall in der Welt Probleme bei der Immigration und Integration verursacht.
Angst sei ein „narzisstisches Gefühl“, so erläutert die Autorin die Situation, dass emotionale Ängste vielfach herhalten müssen, um Interessen und Ideologien zu verteidigen. Die Gedichtstrophe – „Lass mich Ich sein / damit Du du sein kannst“ – verdeutlicht, dass Rassismen und Fremdenfeindlichkeit immer auch darauf beruhen, dass sich das Individuum seiner selbst nicht sicher ist und in der Bedrohung durch den Fremden das Eigene gefährdet sieht. Mit der globalen Ethik, in der die Grundlagen der in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte proklamierten, allgemeingültigen Grundfreiheiten der Menschen zum Ausdruck kommen, werden Argumente geliefert, gegen irrationale Ängste gewappnet zu sein: Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt. Es ist also bedeutsam, sich mit den psychologischen, philosophischen und anthropologischen Gründen und Ursachen auseinander zu setzen, wie Ängste entstehen, aber auch politisch und ideologisch benutzt werden. Mit den historischen Reflexionen und den aktuellen Zuordnungen, wie rationale Angst Überlebensstrategien bewirken und irrationale Angst Mauern und Gefechtsstände errichten kann, leistet die Autorin ein Exempel für eine existentielle Herausforderung: „Angst ist eine ‚verdunkelnde Voreingenommenheit‘, ein intensiver Fokus auf die eigene Person, die andere Menschen in die Dunkelheit verbannt“.
Es bedarf also Grundprinzipien, die als individuelle und kollektive Tugenden bewirken, dass der Mensch ein „gutes Leben“ zu führen in der Lage ist. Es ist die Anerkennung und Achtung der Menschenwürde, die unter keinen Umständen missachtet oder außer Kraft gesetzt werden darf; es sind Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit, die jedem Menschen zustehen; und es ist die aktive Toleranz, die es jedem Menschen gebietet, in sich selbst die ganze Menschheit zu sehen. Ein Blick in die europäische und amerikanische Geschichte zeigt unmissverständlich, dass die Kriterien, wie Nationalgefühl, kulturelle und interkulturelle Identitäten entstehen, vielfältig sind und einer intellektuellen, historischen und gesellschaftspolitischen Betrachtung bedürfen. „Wir müssen sorgsam erwägen, was eine Belastung für die freie Religionsausübung eines Menschen ausmacht, und was es heißt auch zu lernen, die Welt aus der Perspektive jener Religion anzuschauen, anstatt deren Bedürfnisse als schlecht und als Beleidigung der Mehrheiten-Religion anzusehen“.
Die Frage, wie Entscheidungen entstehen, die zu Verhaltensweisen führen, diskutiert die Autorin im Zusammenhang mit der Forderung nach „Unparteilichkeit und das selbsterforschte Leben“. Es sind Phänomene, die sich als konsequentes Denken und Handeln darstellen, und durch Inkonsequenz zur Selbst- und Fremd-Isolierung führen. Am Beispiel des Burka-Verbots betrachtet Martha Nussbaum die verschiedenen Argumentationen und Antriebe, wie etwa die Behauptung, dass es das Gebot der Sicherheit erfordere, „dass Menschen ihr Gesicht zeigen, wenn sie in der Öffentlichkeit auftreten“. Aber die Forderung „Gesicht zu zeigen“, wird in diesem Fall ideologisch begründet. Dahinter stecken Angst und Unkenntnis von kulturellen und religiösen Praktiken; denn wenn etwa in Gesundheitsdiensten, in Fällen von Ansteckungsgefahren, bei Brand- oder anderen Katastrophen Menschen sich im Gesicht und ganzkörperlich verhüllen, werden diese Maßnahmen als selbstverständlich und schutzbedürftig angesehen. Die Autorin diskutiert die verschiedenen Begründungen, die bei den Auseinandersetzungen und Maßnahmen zum Burka-Verbot ins Feld geführt werden, wie z. B. den genannten Aspekt „Sicherheit“, den Forderungen nach „Transparenz und Freundschaft unter Bürgern“, und sie führt eine Reihe von bedenkenswerten Gegenargumenten an, mit dem Ziel, von vorurteilsbehafteten Einstellungen und Regelungen weg- und hinzukommen zu einem souveränen selbsterforschendem Denken und Handeln.
Mit dem Bild des „inneren Auges“ bringt die Autorin weitere Aspekte in den Diskurs: Respekt und mitfühlende Phantasie. Die Bedeutung von emotionalem Denken und Tun für ein friedliches, gesellschaftliches Zusammenleben der Menschen, hat sie bereits in ihrem Buch „Politische Emotionen“ zum Ausdruck gebracht (Martha Nussbaum, Politische Emotionen. Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/17720.php). An mehreren Beispielen erläutert sie Traditionen, Werte und Normen, wie sich Anerkennung und Freundschaften bilden, etwa bei den Narragansett-Indianern im Nordosten der USA, in der Geschichte der Judenverfolgungen im 18. Jahrhundert, die Lessing mit seinem Schauspiel „Nathan der Weise“ eindringlich darstellt; im Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts, und in Kinder- und Jugendbüchern.
Im sechsten Kapitel setzt sich die Autorin mit einem Fallbeispiel auseinander, in dem sich emotionale, rationale und irrationale Argumentationen veranschaulichen lassen: Es geht um die Planung und Errichtung eines von Muslimen initiierten multireligiösen Gemeindezentrums mit Gebetsraum in der Nähe des Ground Zero, der im öffentlichen Bewusstsein vieler New Yorker nach dem Terroranschlag 9/11 gewissermaßen zu einem „heiligen Ort“ geworden ist. Insbesondere von national-, rechts- und nationalistisch orientierten Gruppierungen wurden Angriffe und Hasstiraden gegen die „Monster-Moschee“ gerichtet, die im Schatten des World Trade Center islamischen Tod und Zerstörung vorantreibe. Die öffentlich geführten, ideologischen und parteipolitischen Auseinandersetzungen um das Für und Wider des Vorhabens, die sich sogar auf die Parlamentswahlen auswirkten, werden von Martha Nussbaum ausführlich analysiert. Die intellektuelle, rationale und emotionale Hoffnung der Philosophin bleibt: „Die Zukunft von Park51 muss noch geschrieben werden. Doch es scheint wahrscheinlich dass sie von gewöhnlichen New Yorkern geschrieben wird, nicht von nationalen Medien oder Bloggern. Die ganz gewöhnlichen New Yorker sind hartnäckig und skeptisch und dennoch nicht unfähig zur Freundschaft“.
Fazit
Angelehnt an die sokratische Aufforderung, dass Menschen, wollen sie friedlich und gerecht miteinander in der EINEN WELT leben, ein „selbsterforschtes Leben“ führen sollten. Wie dies aussehen könne, darüber reflektiert Martha Nussbaum über Sokrates hinaus – und hinein in unsere reale Welt. Sie kann human nur entwickelt werden, wenn es Allgemeingut und Selbstverständlichkeit wird, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren, mit Vernunft und Gewissen begabt und fähig sind, einander im Geiste der Brüderlichkeit zu begegnen, wie dies in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck kommt und in Artikel 18 spezifiziert wird: „Jedermann hat das Recht auf Gedanken- Gewissens- und Religionsfreiheit“. Um das zu erreichen braucht es Zuversicht und die Abkehr von Angst: „Wir brauchen ( ) den Geist der Neugier und der Freundschaft“.
Es gibt Stimmen, die die Bereitschaft und Fähigkeit des Islam infrage stellen, ja sogar die von allen monotheistischen Religionen, sich im Sinne eines inter- und transreligiösen Denkens zu verändern (vgl. dazu z. B. das Interview, das Iris Radisch mit Adonis, alias Ali Ahmed Said Esher geführt hat: „Das ist alles nur Theater“, in: DIE ZEIT, Nr. 51 vom 11.12.2014, S. 49f). Dieser Auffassung neigt Martha Nussbaum nicht zu. Ihr hoffnungsbestimmtes Denken bleibt vor (scheinbar) verschlossenen Türen nicht stehen. Um aber Ideologien doch diskutierbar und no-go Areas doch betreten zu können, bedarf es nicht eines „Indiskutabel“, sondern einer Dialogbereitschaft. Dabei ist es in diesem Sinne unerheblich, ob die Auseinandersetzung nihilistisch oder religiös geführt wird. Vielmehr könnte ein weiteres Bild den notwendigen Dialog befördern, nämlich das vom „aufrechten Gang“, den alle Menschen gehen lernen sollten, um miteinander in kultureller Vielfalt und globaler Empathie leben zu können (vgl. dazu auch: Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt. Bericht der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“, 2. erweit. Ausgabe, Bonn 1997, 76 S.)
Martha Nussbaum legt wieder ein Buch vor, das nicht mit dem erhobenen Zeigefinger geschrieben ist, sondern mit Empathie. Ihre Fähigkeit, Probleme zu benennen, und gleichzeitig nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Es macht Mut und vermittelt Kraft, gegen intolerantes Denken und Verhalten einzutreten und philosophisch und gesellschaftspolitisch sich dafür einzusetzen, dass die humanen Werte, die unser Menschsein bestimmen, auch verwirklicht werden können.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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