Susanne Schoppmann, Matthias Herrmann u.a.: Borderline begegnen
Rezensiert von Ilja Ruhl, 28.01.2015

Susanne Schoppmann, Matthias Herrmann, Christiane Tilly: Borderline begegnen. Miteinander umgehen lernen. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2015. 143 Seiten. ISBN 978-3-88414-580-7. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 28,50 sFr.
AutorInnen
- Dr. Susanne Schoppmann promovierte als Pflegewissenschaftlerin zum Thema „Dann habe ich einfach meine Arme hingehalten“ Selbstverletzendes Verhalten aus der Perspektive der Betroffenen.“ Sie ist psychiatrische Fachkrankenschwester und Mitherausgeberin von „Praxiswissen: Psychosozial“.
- Dr. Matthias Herrmann leitet ein Wohnheim für psychisch erkrankte Jugendliche und junge Erwachsene in Duisburg und promovierte zum Thema „Computersimulationen und sozialpädagogische Praxis. Falldarstellungen, Modellierungen und methodologische Reflexionen.
- Christiane Tilly ist Ergotherapeutin und diplomierte Erziehungswissenschaftlerin und arbeitet in einer allgemeinpsychiatrischen Klinik mit dem Schwerpunkt auf der beruflichen Perspektivplanung. Sie ist Mitautorin mehrerer Bücher zur Borderline-Erkrankung und maßgeblich am Aufbau des Borderline-Trialogs beteiligt.
Aufbau und Inhalt
„Borderline begegnen“ beginnt mit einer Einführung und unterteilt sich dann in mehrere Hauptkapitel (mit Literaturverzeichnis) und ein Kapitel mit Buch-, Film- und Linktipps.
Einführung: Annäherung von verschiedenen Seiten. In der Einführung liegt der Schwerpunkt auf der Darstellung unterschiedlicher Beispiele aus der Praxis aus Sicht einer Mitarbeiterin und einer Betroffenen. Außerdem werden die AutorInnen und die Grundidee des Buches – die Schaffung einer Verbindung zwischen dem Faktenwissen und dem subjektiven Erleben der Betroffenen – vorgestellt. In diesem Sinne verstehen die AutorInnen ihr Werk als dialogbasiertes Buch, das Mut zur Begegnung zwischen Betroffenen und Profis machen möchte.
Was man auf jeden Fall wissen sollte. Dieses Kapitel gibt einen ersten Überblick über die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung, wobei zunächst das Spezifische jeder Persönlichkeitsstörung gegenüber anderen psychischen Erkrankungen erläutert wird. Die Genese der Erkrankung, die Verbreitung, die Diagnosestellung und Symptomatik sind weitere Themen dieses Kapitels. Ein Unterkapitel befasst sich mit den typischen Therapieverfahren, die bei der Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung angewendet werden. Hier wird außerdem z.B. auf das Stepps-Training eingegangen, das sich explizit nicht als Therapieverfahren versteht. Raum bekommt auch der Borderline-Trialog, der sich in Anlehnung an die Psychose-Seminare von Dorothea Buck und Thomas Bock etabliert hat. Es folgt die Vorstellung des Eisberg-Modells, das ein Instrument für die Arbeit mit Betroffenen darstellt und auf das im späteren Verlauf des Buches immer wieder zurückgegriffen wird.
„An denen kommst Du nicht vorbei“. In diesem Kapitel geht es um die Rolle von Menschen mit einer Borderline-Störung in den verschiedenen Hilfesystemen. Die AutorInnen weisen darauf hin, dass Betroffene häufig nur in Teilbereichen Hilfe erfahren, weil Schwierigkeiten von MitarbeiterInnen des jeweiligen Hilfeangebots isoliert betrachtet werden und der mögliche Zusammenhang mit der Erkrankung nicht erkannt wird. Dies sei ein Grund für die häufigen Wechsel der Betroffenen von einer Hilfeeinrichtung zur nächsten.
Interview mit Tim: „Das ist so’n Identitätsding“. Dieses Kapitel fokussiert auf eine Gruppe von Betroffenen, die häufig aus dem Blickfeld von professionellen Helfern gerät und es gibt ein Gespräch zwischen einem jungen Mann mit einer Borderline-Erkrankung und Matthias Hermann wieder. Tim erzählt in diesem Gespräch davon, wie er sich durch professionelle Helfer in der Vergangenheit wahrgenommen fühlte und welche Schwierigkeiten er hat, eine konsistente Identität aufzubauen. In diesen Schwierigkeiten liege auch einer der Gründe für die Faszination, die für ihn von einer gewaltbereiten Gruppe von Jugendlichen ausging. Das Gespräch dient an späterer Stelle auch als Grundlage zur weiteren Reflexion über den Zusammenhang von abweichendem Verhalten junger Männer mit einer Borderline-Diagnose.
Das Persönlichkeitskaleidoskop. Zu Beginn des Kapitels wird zunächst darauf eingegangen, inwieweit die Diagnose „Borderline“ für die Betroffenen identitätsstiftend sein kann und welche Schwierigkeiten sich hieraus ergeben könnten. Außerdem knüpft diese Kapitel an das Gespräch zwischen Tim und Matthias Herrmann an und geht der Frage nach zum Zusammenhang zwischen Identitätsbildungsstörung mit einer brüchigen Persönlichkeit und der Attraktion von Gruppen in denen die Ausübung von Gewalt das verbindende Element darstellt. Dass dieses Phänomen – abweichendes Verhalten tritt erst in bestimmten Gruppenkonstellationen auf – auch auf den beruflichen Alltag mit Betroffenen übertragbar ist, belegen die vielen genannten Beispielen in Wohneinrichtungen und psychiatrischen Stationen. In diesem Kapitel wird außerdem auf eine weitere Problematik bei der Wahrnehmung der Betroffenen durch ihre Umwelt eingegangen. Da die KlientInnen bzw. PatientInnen in vielen Situationen eine hohe Funktionalität zeigen, fällt Helfenden mitunter das Wahrnehmen und Anerkennen des zweifellos vorhandenen Leids schwer.
Borderline: Erlebens- und Verhaltensweisen. Dieses Kapitel befasst sich mit den verschiedenen Erlebens- und Verhaltensweisen, wie sie sie professionelle Helfer im Rahmen ihrer Zusammenarbeit mit den Betroffenen häufig kennen. Zunächst gehen die AutorInnen auf das selbstverletzende Verhalten ein. Sie nennen einige epidemiologische Eckdaten, um dann die hinter dem selbstverletzenden Verhalten liegenden Motive, wie z.B. das Beenden dissoziativer Zustände, zu erläutern. Weitere Erlebens- und Verhaltensweisen, die anhand praktischer Beispiele aus dem Berufsalltag erläutert werden, sind die starken Stimmungsschwankungen und die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit Nähe und Distanz. Dabei beschränken sich die AutorInnen nicht auf eine deskriptive Darstellung dieser Phänomene, sondern analysieren einzelne Situationen, in denen Mitarbeiter mit Betroffenen interagieren und geben hierzu Verhaltenstipps. Es schließt sich das Thema „Grenzen“ an. Auch hier wird eine Begebenheit aus dem beruflichen Alltag geschildert, analysiert und es werden Hinweise gegeben, wie sich solche konfliktträchtigen Situationen für alle Beteiligten entschärfen lassen. Das Kapitel endet mit einem Abschnitt zur Suizidalität, die sowohl für die Betroffenen als auch für Mitarbeitende häufig sehr belastend ist. Auch hier greifen die AutorInnen auf eine beispielhafte Szene zurück, um dann die einzelnen Kommunikationsabläufe und -ebenen zu untersuchen. Dabei werden sowohl die Gedanken- und Handlungsebene des Mitarbeiters als auch die der Klientin berücksichtigt. Außerdem erfahren die LeserInnen etwas über die der Suizidalität zugrundeliegenden Gedanken. Den AutorInnen ist dabei wichtig, dass die Suizidalität von Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung „nicht weniger echt oder schmerzvoll als die eines depressiven Menschen[s]“ sei (S. 115). Das Kapitel endet mit Statements zur Frage, was Betroffenen bei Suizidalität geholfen hat. Hier findet auch wieder das Eisbergmodell Verwendung, um die unter der Oberfläche liegenden Aspekte des selbstverletzenden Verhaltens zu illustrieren.
Selbstfürsorge für Helfende. In diesem Kapitel geben die AutorInnen einen kurzen Überblick über Methoden und Techniken zur Selbstfürsorge für psychiatrisch Tätige, die mit Menschen arbeiten, die an einer Borderline-Persönlichkeitsstörungen leiden. Dabei wird nicht verschweigen, dass diese Arbeit mitunter auch zu ungesunden Verhaltensweisen bei den Profis führen kann (z.B. übermäßiger Kaffee- oder Nikotinkonsum). Das Kapitel untergliedert sich in Abschnitte zu Übungen auf körperlicher, emotionaler, kognitiver und spiritueller Ebene. Diese Übungen gehen überwiegend auf Luise Reddemann und ihre Texte zur Psychohygiene für TraumatherapeutInnen zurück.
Diskussion
„Borderline begegnen“ tritt an, um „eine Verbindung zwischen Regel- oder Faktenwissen und einen verstehenden Zugang zum subjektiven Erleben der Betroffenen herzustellen“ (S. 15). So viel sei schon an dieser Stelle verraten, dieses Versprechen lösen die AutorInnen ein.
In „Borderline begegnen“ erhalten die sogenannten Profis eine Vielzahl praxisrelevanter Hinweise für die Zusammenarbeit mit KlientInnen bzw. PatientInnen, die erfreulicherweise überwiegend aus wissenschaftlichen Erkenntnissen gespeist sind. So wird z.B. unter Berufung auf Studien empfohlen, in Gestik und Mimik authentisch zu bleiben, weil eine neutrale Haltung für die Betroffenen sehr schwer zu interpretieren ist. Gleichzeitig sollen Profis mehr auf die verbalen als auf die nonverbalen Signale achten (S. 26). Die KlientInnen oder PatientInnen danach zu fragen, wie man aus ihrer Sicht angemessen auf Selbstverletzungen reagieren soll, ist ein weiterer, für den Rezensenten ermutigender Ratschlag für die Praxis.
Die AutorInnen greifen in den einzelnen Kapiteln immer wieder auf das anschauliche Eisbergmodell zurück, das sich einsetzen lässt um Gespräche mit den Patient-/KlientInnen zu strukturieren. Es besteht die Möglichkeit, die Grafik von der Homepage des Psychiatrie-Verlags als Druckvorlage herunterzuladen. Sehr hilfreich sind auch die konkreten Anregungen zur Reflexion, die gleichzeitig die LeserInnen mit einem Rüstzeug für das nächste KlientInnengespräch ausstatten.
Gut gefallen hat auch der selbstkritische Umgang mit der Sprache der Mitarbeitenden im psychiatrischen Kontext, wenn es um Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung geht („Wenn es anstrengend wird, muss es ein Borderliner sein“, S. 23). Die AutorInnen mahnen zu einer sensiblen Sprache, ohne dabei den möglichen identitätsstiftenden Aspekt der Diagnose, die anders als z.B. bei der Schizophrenie häufig für die Betroffenen auch entlastend ist. Dienlich für das Verständnis gegenüber den Betroffenen ist der Hinweis auf deren tiefes Leid, das nicht unbedingt so offensichtlich zu Tage tritt wie bei anderen psychischen Erkrankungen (S. 59). Gleichzeitig wird immer wieder auch betont, wie viel Spaß die Arbeit mit der Klientel macht und welchen hohen Stellenwert der Humor dabei hat bzw. haben sollte.
Etwas aus dem Rahmen fällt zunächst das Kapitel zu den gewaltbereiten Klienten, das zunächst wie ein Exkurs anmutet, sich aber beim weiteren Lesen logisch in den Gesamttext einfügt und dabei den in der Fachliteratur meist weniger beachteten männlichen Boderline-Patienten Aufmerksamkeit schenkt.
Thematisch greift „Borderline begegenen“ die wichtigsten Aspekte auf, insbesondere jene Themenbereiche, die Profis nicht selten an ihre persönliche Grenzen bringen (z.B. Suizidaliät). Insofern ist es auch konsequent und richtig, der Selbstsorge von MitarbeiterInnen ein eigenes Kapitel zu widmen.
Auch sprachlich kann das – im Übrigen hervorragend redigierte – Buch überzeugen. Fakten werden anschaulich und praxisnah vermittelt, die AutorInnen verlieren dabei nie aus dem Blick, dass hinter der Erkrankung individuelle, interessante Persönlichkeiten stehen, die es lohnt kennenzulernen. Lediglich an einer Stelle findet sich ein sprachlicher Schnitzer, bei dem der Text suggeriert, eine wissenschaftliche These könne Gewaltbereitschaft begünstigen (S. 58).
Fazit
„Borderline begegenen“ ist ein wichtiges Buch, denn es ergänzt die Fachliteratur zur Borderline-Persönlichkeitsstörung um den Aspekt des subjektiven Erlebens der Betroffenen.
Die dialogische Besetzung des AutorInnenteams erweist sich dabei als Glücksfall, weil ihm der Spagat gelingt zwischen dem Werben um Verständnis für die Menschen hinter der Diagnose „Borderline“, ohne mögliche auftretende Probleme und Schwierigkeiten in der Arbeit mit den Betroffenen zu beschönigen. Die Szenen aus dem beruflichen Alltag mit Menschen, die an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden, führen diese nicht vor, sondern dienen der Analyse und sind beispielgebend für praktische Hinweise und Tipps. Die die vielen Statements von Betroffenen ermöglichen dabei den Blick unter die Oberfläche der Handlungsebene und erweitern den Blick und damit den Spielraum in der Zusammenarbeit
Der zweite rote Faden des Buches – neben dem Werben für ein subjektives Verstehen – ist die Ermutigung der LeserInnen, Hoffnung auf Besserung für die Betroffenen zu schaffen. Die mitunter kritische Selbstironie der AutorInnen und der immer wieder aufblitzende Humor macht „Borderline begegnen“ zusätzlich zu einem Lesevergnügen.
Die Herangehensweise der AutorInnen an das Thema ist so erfrischend, dass man sich wünscht, irgendwann noch einen zweiten Teil dieser Publikation lesen zu dürfen.
Rezension von
Ilja Ruhl
Soziologe M.A.
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Es gibt 24 Rezensionen von Ilja Ruhl.
Zitiervorschlag
Ilja Ruhl. Rezension vom 28.01.2015 zu:
Susanne Schoppmann, Matthias Herrmann, Christiane Tilly: Borderline begegnen. Miteinander umgehen lernen. Psychiatrie Verlag GmbH
(Köln) 2015.
ISBN 978-3-88414-580-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18053.php, Datum des Zugriffs 20.03.2023.
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