Mechthild Bereswill, Stephanie Braukmann: Fürsorge und Geschlecht
Rezensiert von Dr. Barbara Stiegler, 16.03.2015
Mechthild Bereswill, Stephanie Braukmann: Fürsorge und Geschlecht. Neue und alte Geschlechterkonstellationen im freiwilligen Engagement Älterer. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2014. 200 Seiten. ISBN 978-3-7799-2307-7. D: 24,95 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 34,60 sFr.
Thema und Entstehungshintergrund
Dieser Band aus der Reihe Geschlechterforschung (Herausgeber Lothar Bönisch, Heide Funk und Karl Lenz) enthält theoretische Überlegungen und Ergebnisse einer kleinen empirischen Studie über die Fürsorgetätigkeiten von älteren Menschen in Seniorengenossenschaften. Sie wurde vom hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst (Vorstudie) und der Fritz Thyssen Stiftung gefördert.
Autorinnen
Dr. phil. habil. Mechthild Bereswill ist Professorin für Soziologie sozialer Differenzierung und Soziokultur an der Universität Kassel, Dr. Stephanie Braukmann ist Mitarbeiterin im Gender- und Frauenforschungszentrum der hessischen Fachhochschulen in Frankfurt/Main.
Aufbau und Inhalt
Nach einer Einführung in den Diskurs zum „Ehrenamt“ nehmen die Autorinnen eine geschlechtertheoretische Verortung ihrer Fragestellung vor und beschreiben das methodische Vorgehen. Der Hauptteil handelt von den Ergebnissen ihrer Interwiews und Grupendiskussionen, die in Form von themenzentrierten Fallanalysen aufgearbeitet sind. Die Studie schließt mit einem kritischen Ausblick.
Kern der Untersuchung sind die subjektiven Selbstdeutungen und konkreten Handlungsorientierungen von älteren Menschen, die sich in Seniorengenossenschaften engagieren. Diese Genossenschaften sind dem Selbsthilfegedanken verpflichtete Organisationen, die auf der Basis des Zeittausches arbeiten: geleistete Hilfe der aktiven Mitglieder wird in Form von (teils mit finanziellem Äquivalent versehenen) Zeitpunkten vergolten, die die Hilfeleister_innen später selbst bei Bedarf eintauschen können. Die passiven Mitglieder zahlen ein geringes Entgelt an die Genossenschaft, wenn sie Hilfeleistungen in Anspruch nehmen. Diese Form der Engagements gilt als Paradebeispiel für das bürgerschaftliche Engagement von Älteren. Im gesellschaftlichen Diskurs zur Krise des Gemeinwesens und zum Aktivierungspotential des Alters werden ältere Menschen oft als diejenigen benannt, die zur Bewältigung des Strukturwandels des Alters auch selbst beitragen können und sollen. Die Autorinnen sehen diese Position aber kritisch, nicht nur, weil sie die Gefahren der Deprofessionalisierung und der „Pufferfunktion“ für Defizite sozialstaatlichen Handelns außer Acht lässt, sondern auch, weil diese Debatte sehr geschlechtsneutral geführt wird. Sie kritisieren ferner die geschlechtstypisierende Interpretation der Ergebnisse der großen empirischen Untersuchungen zum freiwilligen Engagement ( Freiwilligensurvey und Fragen aus dem Sozioökonomischen Panel). In ihrer eigenen, geschlechtertheoretischen Perspektive gilt es eher, Geschlecht als Zuschreibungskategorie nicht zu verfestigen, Männer und Frauen nicht als homogene Gruppen zu konstruieren und zu prüfen, ob in der ehrenamtlichen Arbeit nicht bisher verdeckte Spielräume liegen, gerade traditionelle Geschlechterzuschreibungen zu überschreiten.
Welche Bedeutung messen nun die älteren Freiwilligen in den Seniorengenossenschaften dem eigenen Tun zu? Unter folgenden Themen werden Fallstudien vorgestellt, kontrastiert und verglichen:
- „Verantwortungsvoll arbeiten“,
- „Zur Ruhe kommen“
- „Persönliche Beziehungen gestalten“ und
- „Neue Erfahrungen machen“
Daraus entsteht ein lebendiges Bild der Vielfältigkeit, das die stets auch eigensinnigen Erzählungen der Interviewten auszeichnet. Hier seien nur zwei Beispiele herausgehoben: die Ergebnisse zu den Interpretationen des eigenen Führungsamtes und die Beziehungsgestaltung.
Es wird deutlich, dass bei der Deutung der eigenen Führungsaufgabe explizite Konstruktionen von Geschlechterdifferenzen zurücktreten und Männer wie Frauen eine sachlich neutral wirkende Repräsentation einer einflussreichen und verantwortungsvollen Führungsrolle bieten. Ebenso gibt es bei Männern und Frauen vergleichbare Erfahrungen mit Autonomie, Bindung und Abhängigkeit, wenn es um die Gestaltung der sozialen Beziehungen zu den Hilfebedürftigen geht.
Die Bedeutungszuschreibungen an das Alter sind sehr unterschiedlich: Für die Menschen, die in Seniorengenossenschaften arbeiten, gewinnt das Alter seine Bedeutung über die konkreten Tätigkeitserfahrungen in Unterstützungsbeziehungen, bei denen die üblichen, wechselseitigen Zuschreibungen wie „aktive Alte tun etwas für vulnerable betreuungsbedürftige Alte“ in Bewegung geraten: die Fürsorgebeziehung besteht auch in einem Geben und Nehmen von beiden Seiten. Eindeutiger wird die Demenzerkrankung von allen als das „andere“ Alter konstruiert, für das das Gemeinwesen jenseits der Genossenschaften neue Lösungen finden sollte.
In ihrem Ausblick diskutieren die Autorinnen ihre Ergebnisse und stellen fest: Die Organisation der Genossenschaften bietet genügend Raum, um die eigene Arbeit sowohl als traditionelles Ehrenamt, als freiwillige Arbeit oder als zivilgesellschaftliches Engagement zu verstehen und damit einen je selbstbestimmten, eigenwilligen Beitrag zu einer Kultur des Sorgens zu leisten. Während die einen auf den Tausch der Punkte ganz verzichten, ist für andere die auch mögliche Umwandlung der Zeitpunkte in Geldleistung von hoher Bedeutung. Gemeinsam ist ihnen, dass sie ihr Tun von der Logik der Erwerbsarbeit stark abgrenzen und es ihnen darum geht, Nützliches zu tun aber dabei selbstbestimmt zu bleiben. Hier zeichnen sich deutlich die Grenzen des Aktivierungsparadigmas ab: freiwillige Arbeit wird eben nicht um jeden Preis geleistet. Die älteren Freiwilligen lehnen auch jede Vereinnahmung durch die Organisation oder das Gemeinwesen ab. Auch wenn die gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern in der Arbeitsteilung der Seniorengenossenschaften zu erkennen ist, gibt es jedoch eine große Bandbreite: Frauen wie Männer übernehmen Führungsaufgaben und versorgen pflegebedürftige Menschen. So wird auch die Verknüpfung von Weiblichkeit und Fürsorge deutlich loser und die Inkongruenz von Männlichkeit und Fürsorge brüchiger.
Diskussion
Diese Studie zeigt die Potentiale einer geschlechtertheoretisch fundierten empirischen Arbeit: durch eine theoriegeleitete Interpretation von Interviewdaten bietet sie einen tieferen Blick in die Welt der ehrenamtlichen Arbeit, als es mit einer großen repräsentativen Stichprobe möglich ist. Die Ergebnisse verweisen darauf, dass die große Hoffnung, dem Pflegedefizit durch eine Ermunterung und „Aktivierung“ der Älteren entgegen zu wirken, sehr schnell an die Grenzen der Wirklichkeit stößt. Der Eigensinn der Älteren bei ihrem Engagement wird dabei genauso vergessen wie die Vielfalt ihrer Motivationen, die Grenzen des Engagements werden unterschätzt. Die Studie stellt auch die einfachen, den Geschlechterstereotypen folgenden Zuschreibungen und Annahmen über die Freiwilligenarbeit infrage: Eine zunächst durchaus sichtbare Arbeitsteilung zwischen den Männern und Frauen steht in einem ganz anderen Kontext, fragt man nach der Bedeutung für die Subjekte. Hier geht es um freiwillige Leistungen, die an den eigenen Erfahrungen anknüpfen können, so etwa, wenn Frauen Aufgaben in der Küche übernehmen, aber nicht müssen, so etwa, wenn Männer erstmals in ihrem Leben eine fürsorgliche Beziehungsarbeit übernehmen.
Fazit
Alle, die im Bereich des bürgerschaftliches Engagement, der freiwilligen Arbeit oder des Ehrenamtes tätig sind, werden diese Studie mit Gewinn lesen. Alle, die den Diskurs um diesen Bereich führen, sei sie besonders empfohlen, werden doch die einfachen und liebgewonnenen Annahmen über die älteren Engagierten infrage gestellt: das Engagement ist facettenreicher und komplizierter, keinesfalls so einfach verwertbar, wie es manche vielleicht gerne hätten.
Rezension von
Dr. Barbara Stiegler
Bis zu ihrer Pensionierung Leiterin des Arbeitsbereiches Frauen- und Geschlechterforschung
Friedrich Ebert Stiftung, Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik
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Zitiervorschlag
Barbara Stiegler. Rezension vom 16.03.2015 zu:
Mechthild Bereswill, Stephanie Braukmann: Fürsorge und Geschlecht. Neue und alte Geschlechterkonstellationen im freiwilligen Engagement Älterer. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2014.
ISBN 978-3-7799-2307-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18059.php, Datum des Zugriffs 06.11.2024.
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