Peter Massing, Mirko Niehoff (Hrsg.): Politische Bildung in der Migrationsgesellschaft
Rezensiert von Dr. Rolf Frankenberger, 02.04.2015

Peter Massing, Mirko Niehoff (Hrsg.): Politische Bildung in der Migrationsgesellschaft. Sozialwissenschaftliche Grundlagen - politikdidaktische Ansätze - Praxisberichte.
Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2014.
205 Seiten.
ISBN 978-3-7344-0016-2.
D: 19,80 EUR,
A: 20,40 EUR,
CH: 28,50 sFr.
Reihe Politik und Bildung – Band 77.
Thema
„Die deutsche Gesellschaft ist eine Migrationsgesellschaft“ (S.7). Mit dieser Feststellung beginnen die Herausgeber Peter Massing und Mirko Niehoff die Einführung in das Thema des vorliegenden Bandes. Weil eben 18,9% der Wohnbevölkerung Deutschlands über einen Migrationshintergrund verfügten, sei dieser ein zentraler Faktor auch und gerade in der Politischen Bildung. Häufig würden damit jedoch „Problem- und Defizitperspektiven“ (S.9) verknüpft – auch und gerade vor dem Hintergrund kultureller Unterschiede und der Frage einer „Demokratietauglichkeit“ bestimmter Kulturen und Religionen. Mit Verweis auf Milieu-Studien des Sinus-Instituts zeigen die Herausgeber jedoch eindrücklich, dass sich Strukturen und Wertorientierungen von Migrantenmilieus kaum von denen der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Angesichts dieser Befunde erachten Massing und Niehoff dieser jedoch als um einen Perspektivwechsel in der politischen Bildung in der „Migrationsgesellschaft“ für dringend notwendig, welcher die „kulturalisierenden und stigmatisierenden Defizitperspektiven“ überwinden solle (S.15). Der vorliegende Band soll in diesem Sinne Handreichung und Denkanstoß für politische Bildner sein, wie politische Bildung in der Migrationsgesellschaft sein kann.
Herausgeber
Peter Massing ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Arbeitsschwerpunkt Sozialkunde und Didaktik der Politik an der Freien Universität Berlin. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift Politische Bildung und der Zeitschrift Wochenschau für den Politikunterricht sowie zahlreicher Sammelbände im Bereich der Politikdidaktik. Er ist einer der einschlägigsten Experten in diesem Fachgebiet und forscht zu zahlreichen Aspekten der Politikdidaktik.
Mirko Niehoff ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsschwerpunkt Sozialkunde und Didaktik der Politik an der Freien Universität Berlin. Er arbeitet schwerpunktmäßig zu Migration und politischer Bildung.
Aufbau
Der vorliegende Sammelband ist in drei Themenblöcke gegliedert.
- Zunächst werden in Teil I „Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf Migration“ in vier Beiträgen vorgestellt (S.23-110).
- In Teil II wird unter dem Titel „Migration politische Bildung und Schule“ (S.111-192) die Praxis politischer Bildung in weiteren vier Kapiteln näher beleuchtet.
- Drei Beiträge in Teil III „Perspektiven aus der Schule“ (S.193-204) schließen den Band ab.
Zu Teil I
Nach einer problemorientierten Einführung von Peter Massing und Mirko Niehoff widmen sich die vier Beiträge in Teil I den sozialwissenschaftlichen Hintergründen, theoretischen und methodischen Ansätzen der Analyse von Migration.
Peter Massing bearbeitet zunächst Fragen zur politischen Integration von MigrantInnen aus politikwissenschaftlicher Perspektive (S.23-45). Dabei sind für ihn insbesondere Formen und Umfang politischer Partizipation, Wertorientierungen und politisches Vertrauen zentrale Faktoren. Er kann zeigen, dass MigrantInnen zwar alle Formen von Partizipation offen stehen, sie diese aber weniger nutzen als „Einheimische“. Interessant ist aber, dass „das Vertrauen in die Demokratie als Idee“ und die „Zufriedenheit mit der Demokratie, wie sie funktioniert“ (S.42) bei MigrantInnen gleich hoch oder gar höher sei als bei den Einheimischen. Von einer gescheiterten politischen Integration könne man also nicht sprechen, so Massing.
Mit dem schwierigen Verhältnis von „Demokratietheorie, Demokratie und Migrationsgesellschaft“ setzt sich Ursula Birsl auseinander, indem sie aktuelle Befunde und unterschiedliche theoretische Ansätze mit einander kontrastiert. Das Kernproblem liegt aus ihrer Sicht in der „widerstreitenden Logik der entwickelten Demokratie zwischen universalem Anspruch und partikularem Zugang und [den] im Konzept der Bürgerschaft zwischen beliebig teilbaren Rechten und begrenzten Ressourcen, die für die demokratiepolitischen Konflikte verantwortlich gemacht werden können“ (S.56).
Mit „Migration als Forschungsthema“ beschäftigt sich Katrin Späte aus der Perspektive der Soziologie. Sie skizziert die sich stark entwickelnde Forschungslandschaft, die sich entlang der Erkenntnisinteressen hinsichtlich individueller Integration, Bildung, Migrations- und Minderheitengeschichte, Lebenslagen und Rassismus/Diskriminierung ausdifferenziere. Als problematisch erachtet sie den methodologischen Nationalismus vieler Studien – also die Beschränkung auf nationalstaatliche Konzepte bei der Untersuchung des Phänomens bei der Betonung einer vermeintlich homogenen Mehrheitsgesellschaft, einer Homogenisierung von Migranten (S.69f). Statt dieser Eingrenzung schlägt Späte die Transnationalisierung sozialer Räume vor, welche den sozialen Realitäten von Migration angemessener sei.
Verena Krobisch schließlich präsentiert Befunde zur Wirkung des deutschen Migrationsdiskurses auf die Gesellschaft. Ausgehend von einem kritischen Diskursverständnis nach Jäger skizziert sie Wirkungen und aktuelle Debatten an den Beispielen Islamdiskurs und Fachkräftediskurs, welche sich als zentrale Diskursstränge des aktuellen Migrationsdiskurses identifizieren lassen. Dabei kann sie zeigen, wie innerhalb dieser Diskurse Kämpfe um Deutungshoheiten stattfinden und die öffentliche Meinung in ganz unterschiedlicher Weise geprägt wird.
Zu Teil II
Der Beitrag von Mirko Niehoff zu „Sozialen Deutungsmustern als relevante Kategorie im Kontext einer politischen Bildung in der Migrationsgesellschaft“ eröffnet den Praxisteil II. Niehoff setzt sich zunächst mit den begrifflichen Grundlagen politischer Bildung in der Demokratie auseinander und unterscheidet einen weiten und einen engen Politikbegriff, welche jedoch beide für die Politikdidaktik relevant seien. Sodann definiert er das Konzept des sozialen Deutungsmusters als „überindividuelle Argumentationszusammenhänge“ (S.118), welche aus „unterschiedlichen, routinierten Überzeugungen und Vorstellungen“ (S.119) bestehen. Sie werden als grundlegende Deutungsmuster für das problemlösende Handeln erachtet, auf die Individuen zurückgreifen können, wenn sie auf Probleme treffen. Eine zentrale Aufgabe der Politikdidaktik sei daher auch immer die Analyse solcher Deutungsmuster, um darin enthaltene Stereotypen aufzudecken und neue Handlungsmuster zu ermöglichen.
Sabine Achour setzt sich mit der Frage der Unvereinbarkeit von Islam und Demokratie auseinander, welche als „Theorem der Unvereinbarkeit“ die politische Bildung mit dem Dilemma konfrontiere, dass sie ggf. gar keinen Beitrag zur Integration leisten könne, da der Islam als zentrales Deutungsmuster fungiere und sich dies auf die „Loyalität zur Demokratie“ auswirken könne (S.139). Gegen diese Konstruktion der Inkommensurabilität von Islam und Demokratie setzt Achour auf islamintegrative Konzepte in der politischen Bildung, welche diesem Bild entgegenwirken sollen und sich am Konzept der individuellen Sozialintegration nach Hartmut Esser orientieren.
Mit der Konstruktion von Bildungsverlierern in der Schule beschäftigt sich Karim Fereidooni. Zunächst weist er darauf hin, dass der Begriff „mit Migrationshintergrund“ irreführend sei und homogenisierend wirke, wo es empirisch Heterogenität gebe (S.153). Dies sei insbesondere für die wissenschaftliche Forschung zur Beschulung von Kindern mit Migrationshintergrund hinderlich und widmet sich fortan dem Forschungszweig der Bildungsungleichheit und der Frage der institutionellen Diskriminierung. Diese definiert er mit Mechthild Gomolla als „Ungleichbehandlung von Personen durch das organisatorische Handeln zentraler gesellschaftlicher Institutionen wie z.B. des Bildungs- und Ausbildungssektors“ (S.156). Gerade SchülerInnen mit Migrationshintergrund erfahren, so Fereidooni, „sowohl hinsichtlich ihrer Bildungsbeteiligung (denn auf der Hauptschule sind sie überproportional vertreten und auf dem Gymnasium unterrepräsentiert) als auch bezüglich ihres Bildungserfolgs“ (S.160) institutionell bedingte Diskriminierung.
Der Beitrag von Regina Piontek „Ausbilden für die Schule in der Migrationsgesellschaft“ (S.165-190) beschließt den zweiten Teil. Piontek widmet sich der Frage, wie mit Heterogenität umgegangen werden kann und welche Kompetenzen LehrerInnen für eine interkulturelle Schulentwicklung benötigen. Als zentrale erachtet sie dabei, dass in allen Fächern Sprache unterrichtet werden sollte, Mehrsprachigkeit professionell und konstruktiv bearbeitet werden müsse und Vielfalt respektiert und wertgeschätzt werde. Am Beispiel des Landesinstituts in Bremens illustriert Piontek, wie die Qualifizierung von LehrerInnen für die Migrationsgesellschaft aussehen kann.
Zu Teil III
Im abschließenden dritten Teil „Perspektiven aus der Schule“ berichten drei LehrerInnen exemplarisch von ihren Erfahrungen. Heiner Meise unterrichtet an einer Sekundarschule, an der über 90% der SchülerInnen deutsch nicht als Muttersprache gelernt haben. Er berichtet vom Namensgebungsprozess der Schule nach einer Fusion, der von den Erfahrungen in Projekten zu interkultureller Kompetenz und Aktivitäten zu Antisemitismus und Rassismus geprägt war. Dieser Prozess habe dazu geführt, die Schule nach Refik Veseli zu benennen, der – selbst Muslim – im Albanien zu Zeiten des 3.Reichs Juden vor den Nazis rettete.
Dieter Hoffmann berichtet von seinen Erfahrungen aus einer Sekundarschule in berlin-Kreuzberg, an der er Fachbereichsleiter für Gesellschaftswissenschaften ist. Er integriert sehr erfolgreich außerschulische ExpertInnen in den Unterricht, stellt aber auch fest, dass es sehr schwierig sei, „gegen verfestigte (Denk-)Strukturen zu arbeiten und sie gegebenenfalls auch aufzuweichen oder sogar zu erweitern“ (S.198).
Emine Melan berichtet von den Erfahrungen mit SchülerInnen, Eltern und KollegInnen, die sie als türkischstämmige Lehrerin macht. Ihre gemischten Erfahrungen begründen ihr Plädoyer für mehr interkulturelle Kompetenz bei allen Beteiligten.
Diskussion
Der vorliegende Band stellt eine sehr gute Grundlage für eine Diskussion über die Herausforderungen für und die Ausrichtung von Politischer Bildung in der Migrationsgesellschaft dar. Gerade die stärker theoretischen und an Forschungsergebnissen ausgerichteten Beiträge im ersten Teil sowie die an der praktischen Bildungs-Arbeit orientierten konzeptionellen Beiträge im zweiten Teil liefern wertvolle Informationen zum Stand der Forschung und Perspektiven für Politikdidaktik und politische Bildung. Dabei werden Kontroversen und strittige Befunde offen diskutiert und gegenüber gestellt, so dass sich die LeserIn selbst ein Urteil bilden kann. Bis dahin eine sehr durchdachte, ausgewogene und stimulierende Zusammenstellung. Etwas schade ist jedoch, dass die Beiträge aus der Schulpraxis mit zusammen gerade einmal elf Seiten einen nur marginalen Stellenwert einnehmen. Gerade in der Kontrastierung der theoretischen und empirischen Erkenntnisse mit ausgewählten Einzelfällen steckt ein leider nur angedeutetes Potential. Hier würde man gerne mehr erfahren.
Fazit
Peter Massing und Mirko Niehoff legen einen überaus lesenswerten Sammelband vor, der theoretische Aspekte, empirische Befunde und praktische Erfahrungen mit politischer Bildung in der Migrationsgesellschaft vor. Empfehlenswert für alle, denen eine fundierte Debatte über Migration und Integration (nicht nur) in unserer Bildungslandschaft wichtig ist.
Rezension von
Dr. Rolf Frankenberger
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Zitiervorschlag
Rolf Frankenberger. Rezension vom 02.04.2015 zu:
Peter Massing, Mirko Niehoff (Hrsg.): Politische Bildung in der Migrationsgesellschaft. Sozialwissenschaftliche Grundlagen - politikdidaktische Ansätze - Praxisberichte. Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2014.
ISBN 978-3-7344-0016-2.
Reihe Politik und Bildung – Band 77.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18071.php, Datum des Zugriffs 29.03.2023.
Urheberrecht
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