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Jana Willems, Heike Küken-Beckmann: Angehörigenarbeit in forensischen Psychiatrien

Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 29.09.2015

Cover Jana Willems, Heike Küken-Beckmann: Angehörigenarbeit in forensischen Psychiatrien ISBN 978-3-86676-382-1

Jana Willems, Heike Küken-Beckmann: Angehörigenarbeit in forensischen Psychiatrien. Verlag für Polizeiwissenschaft (Frankfurt am Main) 2014. 64 Seiten. ISBN 978-3-86676-382-1. D: 14,80 EUR, A: 15,30 EUR, CH: 21,90 sFr.

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Thema

Der Publikation liegt eine Studie zugrunde, welche den Stellenwert der Angehörigenarbeit in Institutionen der Forensischen Psychiatrie aus Sicht des dort tätigen Fachpersonals erfasst. Zustimmung fanden bei den Experten vor allem Konzepte, welche auf Informationsvermittlung, Problembewältigung, Belastungsreduktion, Verbesserung der Kommunikation zwischen Angehörigen und Institution und Austausch unter den Teilnehmern setzten. Daneben wurden Ansätze deliktorientierten Arbeitens als wesentlich eingeschätzt, vor allem in der Phase der Entlassvorbereitung. Die Studie ist im Bereich der Forensischen Psychiatrie angesiedelt, dem Ort, an dem psychisch kranke Straftäter untergebracht und mit dem Ziel der „Besserung und Sicherung“ behandelt werden. Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die Abschlussarbeit (Bachelorthesis) Jana Willems im Studiengang Psychologie an der TU Darmstadt.

Autorinnen

Jana Willems studierte Psychologie im Bachelorstudiengang an der TU Darmstadt, welches sie mit der vorliegenden Arbeit abgeschlossen hat. Die Studie wurde von der wissenschaftlichen Mitarbeiterin am Institut für Psychologie, Heike Küken-Beckmann betreut.

Aufbau

Der 64 Seiten schmale Band ist in vier Abschnitte unterteilt. Neben einer Einleitung in die Thematik findet sich ein Kapitel zur angewandten Forschungsmethodik, die Darstellung der Ergebnisse und deren Diskussion.

Im Anhang werden die Literaturquellen und auf zehn Seiten der Expertenfragebogen nebst Anschreiben präsentiert.

Zur Einleitung

Einführend nimmt Jana Willems Bezug auf die Rolle der Angehörigenarbeit in der Allgemeinpsychiatrie, welche dort längst als wesentlicher Bestandteil erkannt worden und in die Interventionen integriert ist. Angehörige werden als wichtige soziale Ressource erkannt, deren Wirksamkeit in Bezug auf die Krankheitsbewältigung von großer Bedeutung ist. Entsprechende Studien werden (in Auswahl) vorgestellt. Daneben erfahren Angehörige psychisch kranker Menschen spezifische Belastungen (ökonomische, psycho-soziale und emotionale Effekte, soziale Spannungen aufgrund des Krankheitsgeschehens), welche als Ausdruck des Krankheitsgeschehens, aber auch als gesellschaftlicher Prozess (Stigmatisierung) aufgefasst werden müssen. Auch hierzu referiert Jana Willems eine (kleine) Auswahl entsprechender Fachliteratur. Diese Belastungseffekte kommen bei Angehörigen straffällig gewordener psychisch kranker Menschen in besonderer Form zu tragen, da finanzielle Mittel für Gerichtsprozesse aufgewendet werden müssen, der/die Angehörige oft dauerhaft untergebracht und von der Familie getrennt wird und die Form der Unterbringung in hochgesicherten Spezialkliniken eine Reihe von Belastungserfahrungen (Wut, Angst, Scham, Schuld etc.) provoziert. Schließlich ergibt sich eine besondere Belastung aus dem Umstand, dass Angehörige in einem besonderen Ausmaß Opfer von Straftaten psychisch kranker Straftäter werden. Die Auswirkung der Belastung von Angehörigen auf den Krankheitsverlauf von Patienten ergibt sich daraus, ob die soziale Ressource Familie (Arbeit, Unterkunft, Beziehungen, Kontrollmöglichkeiten) für den Bewältigungsprozess zur Verfügung steht und genutzt werden kann.

Das Einleitungskapitel umfasst schließlich noch eine Darstellung unterschiedlicher Formen der Angehörigenarbeit, deren Ansätze von der familientherapeutischen Ausrichtung, Informationsvermittlung bis zu Formen der Selbsthilfegruppe kurz umrissen und mit der entsprechenden Fachliteratur verknüpft werden.

Zur Forschungsmethode

Auf sechs Seiten werden im nächsten Kapitel die angewandte Forschungsmethode (Expertenbefragung mittels Messinstrument Fragebogen), der Zugang zum Forschungsfeld und der Aufbau des Fragebogens mit seinen einzelnen Themenbereichen und Kategorien dargestellt.

Zu den Ergebnissen

In Kapitel drei erfolgt die Darstellung der Ergebnisse der Expertenbefragung, an der insgesamt 43 Personen teilgenommen haben (es bleibt offen, aus welcher Anzahl von Kliniken diese Experten stammen und welche geografische Verteilung zugrunde liegt). Für Interessierte finden sich hier demographische Angaben zu den befragten Experten, deren Funktion in den Maßregelvollzugskliniken, deren Einstellung zur Angehörigenarbeit und zu spezifischen Aspekten der Umsetzung in den Vollzugskliniken. Die Darstellung erfolgt als Fließtext oder in Tabellen und Grafiken. Demnach führen ca. zwei Drittel der befragten Experten (N=43) bereits Angehörigenarbeit durch, wobei dies eher unregelmäßig und wohl anlassbezogen erfolgt. Als förderlich wird eingeschätzt, dafür eine feste Ansprechperson in den Institutionen zur Verfügung zu stellen, wobei der Austausch der Angehörigen untereinander ebenfalls als bedeutsamer Inhalt erfasst wurde. Methodisch orientieren sich die befragten Experten eher an psychoedukativen oder emotionsentlastenden Formen der Angehörigenarbeit. Therapeutisch ausgerichtete Angebote, etwa im Rahmen der Deliktarbeit oder als Familientherapie sind in der Praxis eher die Ausnahme. Die Zielrichtung der Angehörigenarbeit fokussiert in der Einschätzung der befragten Experten eher auf die Patienten der jeweiligen Kliniken. Angehörige sollen über das Krankheitsbild ihres Angehörigen, die damit einhergehende Delinquenz, dessen Lebenssituation und die Rolle der Angehörigen dabei (Unterstützung, Kontrolle) informiert werden. Im Rahmen der Entlassplanung sollen Angehörige zudem hinsichtlich der jeweiligen Rehabiliations- und Rückfallvermeidungsaspekte aufgeklärt und einbezogen werden. Die Bearbeitung von Belastungsmerkmalen bei den Angehörigen selbst (Schuldgefühle, Resignation, Unsicherheit etc.) wird als möglicher Inhalt zwar benannt, jedoch in der Praxis der Studienteilnehmer weniger häufig bearbeitet. Insgesamt wird der Angehörigenarbeit in der Forensischen Psychiatrie ein großes Potential zugeschrieben, von dem sich die Befragten entsprechende Wirkeffekte auch auf den Behandlungsverlauf versprechen und ein insgesamt transparenteres Vorgehen der Behandlungsmaßnahmen gegenüber der Öffentlichkeit erhoffen.

Abschließend fasst Jana Willems die Ergebnisse in diesem Kapitel unter der Überschrift „Kritische Betrachtung und Ausblick“ auf einer Seite (45) zusammen. Neben der Darstellung zentraler Ergebnisse (s. o.) setzt sich die Autorin hier kritisch mit der angewandten Forschungsmethode und des selbst entwickelten Erhebungsinstruments (Fragebogen) auseinander. Die explorative Studie erfasst demnach die Einstellung von Experten zur Angehörigenarbeit in ihrem Arbeitsfeld, wobei die Antwortqualität, wohl aufgrund des verwendeten Befragungsinstruments teilweise uneindeutig („Tendenz zur Mitte“) bleibt und Vorstudien (vorbereitende qualitative Exploration, Pretest) „jedoch aufgrund der zeitlichen Beschränkung durch die Rahmenbedingungen der Bachleorthesis“ (46) nicht möglich war.

Zielgruppe

Das Buch richtet sich zunächst an Fachpersonal in Forensisch-psychiatrischen Kliniken, welche am Thema der Angehörigenarbeit interessiert sind, dürfte aber auch für Studierende in psychosozialen Studiengängen zur Vorbereitung eigener Qualifikationsarbeiten von Interesse sein.

Diskussion

Jana Willems greift mit ihrer kleinen explorativen Studie „Angehörigenarbeit in forensischen Psychiatrien“ ein wichtiges Thema in diesem Arbeitsfeld auf. Die Maßregelvollzugskliniken haben lange abgeschottet von der Öffentlichkeit gearbeitet, das Interesse an den dort untergebrachten Patienten war gering, bzw. bezog sich ausschließlich auf negative Vorkommnisse und Ereignisse. Angehörige psychisch kranker Straftäter sind oft der einzige Anknüpfungspunkt an die Gesellschaft für diese Patientengruppe, deren Zuwendung, Einstellungen, Motivation auf die Patienten und damit auf den Behandlungsprozess einwirken. Von daher ist es erstaunlich, dass es im deutschsprachigen Raum so gut wie keine wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Thema für den Bereich der Angehörigenarbeit im Maßregelvollzug gibt (vgl. Hahn 2013). Willems musste die Thematik und deren Bearbeitung für den Forschungsanlass (Bachelorthesis im Studiengang Psychologie) natürlich einschränken und für diesen Zweck handhabbar machen. Naturgemäß kommt es dabei zu methodischen Unschärfen und inhaltlichen Verkürzungen, deren sich die Autorin auch bewusst ist.

Unabhängig davon gelingt Jana Willems mit dieser Studie eine erste Annäherung an diese Thematik und sie benennt die Notwendigkeit der weiteren wissenschaftlichen Beschäftigung damit, welche nun mit ersten -vorläufigen und begrenzten- Forschungsergebnissen versehen ist. Kleinere formale Fehler oder grafische Unklarheiten (z. B. in der Tabelle Nr. 14 im Anhang) schmälern diesen Gewinn nicht, allerdings fehlen im Einleitungskapitel Hinweise auf Ansätze der Angehörigenarbeit in der Psychiatrie, wie sie z. B. von Fiedler et al. (1986) oder Dörner et al. (1987) schon frühzeitig formuliert wurden und seit Jahrzehnten erfolgreich angewandt werden. Auch fehlt dort der Hinweis auf die wichtige Arbeit der Angehörigenverbände, z. B. den Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker (BApK – www.psychiatrie.de/bapk/) in dessen Rahmen in jüngster Zeit auch Angehörige psychisch kranker Straftäter angefangen haben sich zu organisieren.

Fazit

Trotz der oben umrissenen Einschränkungen eine wichtige Studie, die eine erste Annäherung an den Themenbereich „Angehörigenarbeit in der Forensischen Psychiatrie“ ermöglicht.

Literatur

  • Dörner, K., Egetmeyer, A. & Koenning, K. (1987) (Hrsg.). Freispruch der Familie: Wie Angehörige psychiatrischer Patienten sich in Gruppen von Not und Einsamkeit, von Schuld und Last frei-sprechen. Bonn: Psychiatrie Verlag
  • Fiedler, P., Nidermeier, Th. & Mundt, Ch. (1986). Gruppenarbeit mit Angehörigen schizophrener Patienten: Materialien für die therapeutische Arbeit mit Angehörigen und Familien. München: Psychologie-Verlags-Union
  • Hahn, Gernot (2013). Bedeutung von Familien und sozialen Bindungen für die Täterarbeit. BAG-S Informationsdienst Straffälligenhilfe, 20(3), 6-8.

Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Es gibt 180 Rezensionen von Gernot Hahn.

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ISSN 2190-9245