Thomas Mößle, Christian Pfeiffer et al. (Hrsg.): Die Krise der Jungen
Rezensiert von Dr. Hans Hopf, 05.01.2015
Thomas Mößle, Christian Pfeiffer, Dirk Baier (Hrsg.): Die Krise der Jungen. Phänomenbeschreibung und Erklärungsansätze. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2014. 271 Seiten. ISBN 978-3-8487-1850-4. 69,00 EUR.
Herausgeber
Der vorliegende Sammelband ist eine Veröffentlichung des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen. Einer der Herausgeber, Prof. Christian Pfeiffer, ist Direktor des Institutes. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Jugendkriminalität, Jugendgewalt, Schule schwänzen sowie Gewalt an Schulen. Die zentralen Interessen des Mitherausgebers Dr. Dirk Baier gelten unter anderem der Jugenddelinquenz und dem devianten Verhalten. PD Dr. Thomas Mößle, der weitere Mitherausgeber, hat vor allem über den Medien- und Computergebrauch von Jugendlichen geforscht und darüber veröffentlicht. Beide sind ebenfalls Mitarbeiter des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen.
Thema
2006 hatte die Leistungskrise der Jungen bereits im Mittelpunkt einer ersten Publikation gestanden. Die Herausgeber heben hervor, dass die Defizite der Jungen lange von den Bildungs- und Sozialwissenschaften ignoriert wurden. Medienkonsum war ein Forschungsschwerpunkt von Kriminologen. Die Diagnose „Leistungskrise“ wurde zu allererst von Kriminologen gestellt, weil diese Defizite der Jungen im Zusammenhang mit ihrem Medienkonsum stehen, der sich offenbar negativ auf Schulleistungen auswirkt. Mit den Untersuchungen, die in diesem Buch demonstriert werden, sollte das Ausmaß der Geschlechtsunterschiede beschrieben sowie nach weiteren Erklärungen gesucht werden.
Die Herausgeber dieses Buches gehen von einer Krise der Jungen aus. Diese zeigen mehr schulische Leistungsprobleme, mehr auffälliges und gewalttätiges Sozialverhalten, mehr Drogenkonsum und Computerspielabhängigkeit als die Mädchen. Auch wird ihnen geringere Empathiefähigkeit nachgesagt. Befinden sich also die Jungen wirklich in einer Krise - oder ist alles nicht so schlimm, wie in manchen Publikationen auch geschrieben wird? Im Rückgriff auf verschiedene Forschungsprojekte des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen wurden verschiedene Fragestellungen untersucht. Drei Fragen stellten die Herausgeber gemeinsam mit den weiteren Autorinnen und Autoren in den Mittelpunkt ihrer Arbeiten:
- Gibt es Geschlechtsunterschiede hinsichtlich eines bestimmten Phänomenbereichs?
- Lassen sich die Geschlechtsunterschiede durch Hinzuziehen weiterer Faktoren erklären?
- Gibt es Hinweise, dass sich die Geschlechtsunterschiede in irgendeiner Weise in den zurückliegenden Jahren verändert haben?
Aufbau
In einem ersten Teil wird versucht, die Krise der Jungen zu beschreiben. Die Entwicklung akademischer Leistungen wurde im Geschlechtervergleich untersucht, zudem wird geprüft, wer Aufsteiger und Absteiger sind. Ausmaß und Entwicklung von Geschlechtsunterschieden im Bereich des kriminellen Verhaltens und der Kriminalitätswahrnehmung werden ebenfalls erforscht.
Im zweiten Teil wird versucht, Erklärungen zu finden. Geschlechtstypisches elterliches Verhalten gegenüber Kleinkindern wird untersucht sowie das elterliche Erziehungsverhalten im Geschlechtervergleich. In einer weiteren Untersuchung wird überprüft, ob in mehr männlichen Lehrkräften der Schlüssel zum Schulerfolg der Jungen liegen könnte. Der Einfluss der Freundesgruppe auf Schulerfolg und Delinquenz wird ebenfalls untersucht. Als weiteres wird der Rolle problematischer Mediennutzung nachgegangen, sowie der Frage, ob Jungen im Jugendalter mehr gefährdet sind, Alkohol, Zigaretten, Cannabis sowie Computerspiele zu konsumieren. Schließlich wird die Bedeutung der Moral für die Erklärung von Geschlechterunterschieden bei delinquentem Verhalten überprüft, und die „Krise der Jungen“ im Zusammenhang mit dem Triumph der Mädchen gesehen.
Ausgewählte Inhalte
Natürlich können nicht die Resultate aller Kapitel referiert werden, so soll versucht werden, einige wesentliche Ergebnisse der Untersuchungen wiederzugeben. In den ersten Untersuchungen wird die Leistungsproblematik der Jungen bestätigt. Sie zeigt sich bei der Benotung im Grundschulalter bis zu den Hochschulen. Sie zeigt sich aber auch bei differenzierten Betrachtungen von Aufsteigern und Absteigern. Sowohl die Schicht und das Bildungsniveau der Eltern spielen dabei eine Rolle, aber eben auch das Geschlecht: Männliche Jugendliche steigen häufiger auf, aber auch häufiger ab. Ein weiterer Risikofaktor ist es ganz offenkundig, nicht mehr mit beiden Eltern zusammenzuleben, weil dann oft der Einfluss des Vaters schwindet.
Im Beitrag von Sandner und Schock wurden das elterliche Verhalten und die elterliche Wahrnehmung gegenüber Jungen und Mädchen im Alter von 0 bis 3 Jahren anhand des Sozio-ökonomischen Panels untersucht. Seit 1984 werden jährlich 11 000 Haushalte befragt, 2003 wurde ein spezieller Mutter-Kind-Fragebogen eingeführt. Mit einem weiteren Fragebogen wurde noch eine Risikogruppe von gefährdeten Kindern untersucht. Schon nach einem Kindesalter von sechs Monaten waren Unterschiede festzustellen. Die Mütter der Jungen fühlten sich signifikant häufiger am Ende ihrer Kräfte als die Mütter der Mädchen, bei den Müttern der gefährdeten Kindern, war dieser Unterschied noch gravierender. Töchter wurden als fröhlicher empfunden und bereiten der Mutter mehr Freude. Mit Heranwachsen des Kindes verstärkten sich diese Unterschiede noch. Im Alter von 30 Monaten wurden die Mädchen von ihren Müttern unter anderem als fröhlicher, gesprächiger, empathischer und gesünder eingeschätzt. Mit den Mädchen wurden mehr kognitiv förderliche Tätigkeiten durchgeführt, andererseits profitierten Mädchen auch mehr davon. Diese Unterschiede manifestieren sich am stärksten in den mittleren und höheren Gesellschaftsschichten. Es wird deutlich, wie sich hier Stereotypien, also Rollenzuschreibungen, mit realen Beobachtungen mischen. Die Ambivalenz der Mütter ihren Söhnen gegenüber, wurde auch in der Psychoanalyse beschrieben.
In ihrem Kapitel zum elterlichen Erziehungsverhalten untersuchten Baier und Pfeiffer in diesem Kapitel drei weitere Fragestellungen. Werden Jungen und Mädchen von Müttern bzw. Vätern in unterschiedlicher Weise erzogen? Wie hat sich die elterliche Erziehung insgesamt und in Bezug auf Jungen bzw. Mädchen in den vergangenen Jahren verändert? Kann die elterliche Erziehung damit möglicherweise Geschlechtsunterschiede im delinquentem Verhalten oder den Schulleistungen erklären? In diesem Zusammenhang wurde auch der Einsatz körperlicher Gewalt untersucht, denn gemäß Baier und Pfeiffer unterliegen die Opfer solcher Übergriffe einem erhöhten Risiko, selbst Gewalt anzuwenden; zudem sind Beziehungen mit verschiedenen anderen delinquenten und abweichenden Verhaltensweisen aufgezeigt worden. Erfreulicherweise überwiegen die Hinweise, dass die elterliche Gewalt in Deutschland rückläufig ist. Als Datengrundlagen dienten zwei Studien des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen von 2007/2008 sowie von 1992 bzw. 2011.
- Mädchen wird mehr emotionale Zuwendung entgegengebracht als Jungen.
- Väter bringen ihren Söhnen eine geringere Zuwendung entgegen als den Töchtern.
- Mädchen werden in ihrem Verhalten stärker beaufsichtigt und kontrolliert als die Jungen. Sie üben weniger Gewalt aus und erzielen bessere Schulleistungen.
- Gewalt geht sowohl von Müttern als auch von Vätern gleichermaßen aus.
- Mütter wenden gegenüber ihren Töchtern, Väter mehr gegenüber ihren Söhnen Gewalt an.
Die vorhandenen Daten deuten darauf hin, dass es eine Scherenentwicklung im Bereich der Erziehung zu Ungunsten der Jungen gibt.
Die Befunde der Untersuchungen von Dirk Baier zu den Freundesgruppen bestätigen, dass die schlechteren Schulleistungen von Jungen sowie deren Gewaltbelastungen auch auf deren unterschiedliche Freundesgruppenkontakte zurückgehen. Darüber, ob es solche Zusammenhänge auch früher gab, existieren wenig Befunde.
Geringere Schulerfolge als auch gewalttätiges Verhalten von Jungen gehen zumindest teilweise auf höheren Gewaltmedienkonsum und längere Nutzungszeiten zurück. Jungen haben auch signifikant häufiger als Mädchen einen problematischen Alkohol-, Cannabis-, Glücksspiel und Computerspielkonsum als die Mädchen.
Diskussion
Im Rückblick auf die 50er- und 60er-Jahre kann davon ausgegangen werden, dass die Jungen einst die Position des „Stammhalters“ innehatten. Im Vergleich mit den Mädchen hatten sie überall vielerlei Vorrechte, sowohl auf den Universitäten als auch in handwerklichen Berufen. Die Berufstätigkeit der Frau ist inzwischen rundum akzeptiert. Vielleicht investieren Eltern konsequent auch mehr Zuwendung und Liebe in die Mädchen als in die Jungen, denn Mädchen sind auf dem Vormarsch und haben bessere Zukunftschancen als die Jungen.
Ein ähnlich bevorzugter Umgang mit Mädchen kann auch in Kindertagesstätten und Kindergärten beobachtet werden. Die Erzieherinnen und Erzieher halten Mädchen im Alter von dreieinhalb Jahren im Vergleich zu Jungen für signifikant weniger aggressiv, für aufmerksamer bzw. konzentrierter sowie kooperativer. Auch wurden ihnen bessere Fähigkeiten im Bereich der Sprache und Kreativität zugeschrieben (S. 10).
Dass männliche und weibliche Lehrkräfte sich bei der Notengebung bei Mädchen und Jungen kaum unterscheiden, heißt nicht, dass keine Männer in der Erziehung fehlen würden. Sie werden im Erziehungsbereich gebraucht, als Vorbilder und als Begrenzer von ausufernden Affekten der Jungen. Die Herausgeber sehen darum die Ergebnisse ihrer Untersuchungen auch als Ausgangspunkt für notwendige Präventionsmaßnahmen: Gemäß der Autoren bedarf es eines starken Appells an die Väter, die sich noch zu wenig um die eigenen Söhne kümmerten. Es braucht aber auch einen Ausbau der schulischen Ganztagsangebote (S. 13).
Fazit
Dieses Buch ist allen zu empfehlen, die sich professionell mit Psychotherapie, Psychologie und Erziehung befassen. Es enthält wichtige Daten, die deutlich machen, warum Jungen in die – von den Autorinnen und Autoren sorgfältig beschriebene – Krise geraten sind. Weitere Untersuchungen sind noch anzustreben. Gerade weil ganz unterschiedliche Bereiche untersucht wurden, wären ein zusammenfassendes Kapitel sowie ein Stichwortverzeichnis wünschenswert. Darin könnten auch die Untersuchungsergebnisse dieses Buchs mit bereits vorhandenen verglichen und neue Hypothesen gebildet werden.
Rezension von
Dr. Hans Hopf
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Es gibt 9 Rezensionen von Hans Hopf.
Zitiervorschlag
Hans Hopf. Rezension vom 05.01.2015 zu:
Thomas Mößle, Christian Pfeiffer, Dirk Baier (Hrsg.): Die Krise der Jungen. Phänomenbeschreibung und Erklärungsansätze. Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2014.
ISBN 978-3-8487-1850-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18075.php, Datum des Zugriffs 09.09.2024.
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