Christiane Gottschalk: Die Verletzlichkeit der Menschenwürde am Beispiel sexualisierter Gewalt gegen Frauen
Rezensiert von Dr. Miriam Damrow, 13.01.2016

Christiane Gottschalk: Die Verletzlichkeit der Menschenwürde am Beispiel sexualisierter Gewalt gegen Frauen. Lit Verlag (Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2014. 244 Seiten. ISBN 978-3-643-12631-3. 24,90 EUR.
Thema
Christiane Gottschalk zeigt im vorliegenden Band das moralische Problem der Verurteilung sexualisierter Gewalt gegen Frauen auf und liefert zudem eine theoretische Fundierung des Urteils, nachdem Menschenwürde als Recht nicht erniedrigt zu werden hat.
Aufbau
Das Werk ist in sechs Kapitel gegliedert.
Nach einer kurzen Einleitung (S. 13-16) wird im ersten Kapitel die verletzliche Menschenwürde skizziert (S. 17-52), im 2. Kapitel sexualisierte Gewalt im Kontext bewaffneter Konflikte diskutiert (S. 53-107) und im dritten Kapitel Folgen für die Opfer sexualisierter Gewalt dargestellt (S. 109-156), Das vierte Kapitel akzentuiert Aspekte einer Vergewaltigung außerhalb des Kriegskontextes (S. 157-183), während das fünfte Kapitel sexualisierte Gewalt als Verletzung der Menschenwürde konturiert (S. 185-220). Im sechsten Kapitel erfolgt eine Abschlussbetrachtung (S. 221-232). Ein Verzeichnis verwendeter Literatur beschließt den Band.
Inhalt
Christiane Gottschalk entwirft im ersten Kapitel unter dem Titel „Die verletzliche Menschenwürde“ eine Herleitung der Idee der Menschenwürde als Rechtsgut. In mehreren Unterkapiteln entfaltet sie einen kursorischen Überblick und stellt ihre Version einer Minimalkonzeption als philosophisches Fundament vor.
Das zweite Kapitel diskutiert zunächst sexualisierte Gewalt im Kontext von Konflikten, die mit Waffengewalt ausgetragen werden. Nach einer Begriffsklärung und -annäherung erörtert sie Beispiele sexualisierter Gewalt und greift dazu 3 Beispiele geographisch und historisch differenter Herkunft auf, konturiert daran anschließend die Strafverfolgung sexualisierter Kriegsgewalt und unternimmt den Versuch einer Typisierung von Kriegsvergewaltigungen. So werden 3 Typen von Gottschalk identifiziert: der ökonomische Typ sexualisierter Kriegsgewalt, der politisch-kriegsstrategische Typ sexualisierter Kriegsgewalt und der symbolisch–kulturzerstörerische Typ sexualisierter Kriegsgewalt.
Das dritte Kapitel benennt und analysiert Folgen für die Opfer sexualisierter Gewalt. Gottschalk differenziert dabei potentielle Folgen in körperliche, psychische und soziale Folgen und liefert einen Exkurs in spezifische Folgen sexualisierter Kriegsgewalt.
Im vierten Kapitel werden Aspekte einer Vergewaltigung außerhalb des Kriegskontextes akzentuiert. In 2 Unterkapitel werden zum einen Profil und Motive eines potentiellen Vergewaltigers skizziert, zum anderen wird Vergewaltigung als soziokulturelles Problem gerahmt.
Das fünfte Kapitel greift sexualisierte Gewalt als Verletzung der Menschenwürde erneut auf. In 3 Unterkapiteln wird im Rückgriff auf Gottschalks vorgestellte Minimalkonzeption die Dynamik des Zwangs, die Beschädigung des Selbst und die Erniedrigung als kommunikativer Akt diskursiv konturiert.
Das sechste Kapitel fungiert als Abschlussbetrachtung und nimmt z.B. paradigmatische Verletzungsfälle genauer in den Blick.
Diskussion
Christiane Gottschalk entwirft in ihrer Studie (die zunächst als Dissertation an der Universität Bielefeld eingereicht wurde) eine Konzeption der verletzlichen Menschenwürde, um „… die Idee der Menschenwürde im Sinne unseres modernen Verständnisses und für die Verwendung in gegenwärtigen philosophischen Diskussionen zu entschlüsseln“ (S. 28). In einem Zweischritt wird dafür von ihr eine kontextgebundene Konzeption verletzlicher Menschenwürde entworfen und daran anschließend eine allgemeine Konzeption verletzlicher Menschenwürde entwickelt. Sexualisierte Gewalt gegen Frauen vorrangig unter dem Blickwinkel bewaffneter Konflikte erscheint auf den ersten Blick zwingend logisch, auf den zweiten Blick eröffnen sich damit mehr Fragen als Antworten. Ausgehend von Gottschalks gewählten Beispielen bleiben sehr viele bewaffnete Konflikte unzureichend berücksichtigt bzw. exkludiert, ohne dass eine Begründung für deren Exklusion gegeben wird. Erinnert sei hier nur an die zahllosen Konflikte im asiatischen Raum. Aber auch im sich anschließenden Absatz, der sexualisierte Gewalt gegen Frauen außerhalb bewaffneter Konflikte thematisiert, bleiben mehr Fragen offen als Antworten gegeben werden. Auch hier sind zahlreiche (sehr unrühmliche) Beispiele ausgeklammert, ohne deren Exklusion zu begründen – erinnert sei im aktuellen Fall an die Trostfrauen im asiatischen Raum, an die indischen Vergewaltigungsfälle, an die Verschleppungsfälle terroristischer Einheiten… Zudem bleibt die Autorin eine Erklärung schuldig, warum sexualisierte Gewalt gegen Frauen eine Menschenrechtsverletzung (intuitiv) darstellt, sexualisierte Gewalt gegen Männer jedoch undiskutiert bleibt.
Die von Gottschalk diskursiv gerahmte Behandlung der Erniedrigungs- und Beschädigungsfrage aus philosophischer Perspektive bezieht dabei sowohl eine personelle wie kollektive Ebene ein. Der Erkenntnisgewinn, sexuelle (und sexualisierte) Gewalt setze eben nicht eine sexuelle Präferenzstörung oder eine pathologische Täterpersönlichkeit voraus, ist hier jedoch marginal: diese Erkenntnis wird von Seiten benachbarter Disziplinen schon eine Weile vertreten.
Gottschalks großes Verdienst hingegen bleibt es, die Rechtsgüter Menschenwürde und Selbstbestimmung (im Falle sexualisierter Gewalt) zusammenzubringen: „Das Opfer wird in seinen Entscheidungsmöglichkeiten manipuliert und insofern in der Möglichkeit beschnitten, frei zu handeln und zu wollen. Dies stellt im Rahmen einer Erniedrigung eine schwerwiegende (sic!) Einschränkung der grundlegenden Interessen, Ansprüche und Rechte dar. Insofern ist es weit mehr als nur eine Einschränkung der situativen Handlungsfreiheit. Es betrifft die Möglichkeit der eigenen Selbstbestimmung, auf die jede Person ein grundlegendes Recht hat. Diese verlorene Selbstbestimmung offenbart sich besonders deutlich in den Folgen einer Erniedrigung in Form sexualisierter Gewalt. Das bedeutet: Der sexualisierte Gewaltakt ist gewiss die notwendige Bedingung, damit es überhaupt zu einer Erniedrigung respektive einer Einschränkung der Möglichkeit der grundlegenden Selbstbestimmung kommen kann. Eine Erniedrigung ist ein Angriff auf eben diese Selbstbestimmung eines Menschen. Gleichzeitig müssen die spezifischen Folgeerscheinungen unbedingt Berücksichtigung finden. Sie verdeutlichen, dass ein solcher Angriff in der Regel auch zum Ziel führt“ (S. 218).
Fazit
Christiane Gottschalk legt mit ihrem Buch ein Werk zur Verletzlichkeit von Menschenwürde vor. Am konkreten Anwendungsfall sexualisierter Gewalt gegen Frauen entwirft sie eine Konzeption, nach der das Kernelement einer Menschenwürdeverletzung die Erniedrigung ist, welche mit einem Verlust der Selbstachtung einhergeht. Inwieweit jedoch Menschenwürdeverletzung auch im Falle sexualisierter Gewalt ausschließlich Frauen als Opfer vorsieht und Männer als Täter, wird nicht begründet. Diese unbegründete Exklusion schmälert den vorliegenden Band.
Rezension von
Dr. Miriam Damrow
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