Florian Arlt, Klaus Gregorz et al.: Raum und offene Jugendarbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Titus Simon, 30.06.2015

Florian Arlt, Klaus Gregorz, Arno Heimgartner: Raum und offene Jugendarbeit. Lit Verlag (Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2014. 193 Seiten. ISBN 978-3-643-50632-0.
Herausgeber
Die drei genannten Autoren sind zugleich auch die Herausgeber eines interdisziplinär konzipierten Sammelbandes.
- Florian Arlt ist Kulturpädagoge und Geschäftsführer des Steirischen Dachverbandes der Offenen Jugendarbeit.
- Klaus Gregorz hat lange mit Jugendlichen in prekären Lebenslagen gearbeitet. Seit 2007 ist er beim Steirischen Dachverband der Offenen Jugendarbeit für Organisationsentwicklung und Qualitätsmanagement verantwortlich.
- Arno Heimgartner ist Hochschullehrer und Leiter des Institutes für Erziehungs- und Bildungswissenschaft sowie des Masterstudiums für Sozialpädagogik an der Universität Graz.
Aufbau und Inhalt
Raum ist gleichermaßen eine erfahrbare, gestaltbare und umkämpfte Ressource. Sozialraumbezug, Raumaneignung und – letzteren untergeordnet – Raumgestaltung sind zentrale Kategorien, deren angemessene Berücksichtigung wichtige Beiträge für eine fachlich angemessene offene Arbeit darstellen.
Über das Verhältnis von Raum und Offener Jugendarbeit wurde in den letzten Jahrzehnten umfangreich geforscht, diskutiert und publiziert. Einem Band mit dem eng gefassten Titel „Raum und offene Jugendarbeit“ könnte man demnach mit einer gewissen Reserviertheit begegnen, verbunden mit der Frage, ob es denn immer noch Neues zu diesem alten Thema gäbe. Diese Skepsis ist unbegründet. Auch wenn einzelne Autoren an bekannten Zugängen anknüpfen, stellen die Interdisziplinarität und eine deutliche Gegenüberstellung eher analytischer und eher auf die Praxis bezogener Beiträge eine nicht nur gelungene, sondern geradezu erfrischende Mischung dar.
Lothar Böhnisch behandelt den Raum als den Ort, in dem sich Gesellschaft vergegenständlicht. Offene Arbeit hat nicht nur räumlich strukturiert zu sein, sondern muss stets Angebote unterbreiten, die – über Geschlechter- und Bildungsgrenzen hinweg – räumliche Aneignung ermöglicht. Dabei ist mit der Grundstruktur geschlechtstypischen Raumverhaltens angemessen umzugehen. Noch immer sei weibliches Raumverhalten eher beziehungsorientiert, männliches dagegen besetzend und auf Konkurrenz ausgerichtet. Er plädiert für eine „Pädagogik der Milieubildung“, die auf zwei Grundprinzipien zu basieren habe. Eine „personal-verstehenden Dimension“ unterstütze dort, wo, wo Selbstwert- und Orientierungsbezüge nicht über die klassischen gesellschaftlichen Institutionen vermittelt werden. In der „pädagogisch-interaktiven Dimension“ ist die Stellung der PädagogInnen innerhalb der jeweiligen Milieus angesprochen. Schlüsselbegriffe sind Vertrauen und Autorität, die erst über gemeinsame Milieuerfahrungen begründet werden.
Ulrich Deinet schreibt über die Entwertung des offenen Bereichs in Jugendfreizeitstätten. Was lange Zeit elementarer Bestandteil und „Marktplatz“ war, wird unter den Wirkungen von Mediennutzung und verändertem Freizeit- und Konsumverhalten zu einem „Nicht-Ort“. Mit Blick auf die Praxis formuliert er die Notwendigkeit bildungsherausfordernder Raumveränderungen im offenen Bereich. Und er nährt die Hoffnung, dass es den PädagogInnen sehr wohl gelingen kann, neue Situationen zu schaffen, die Jugendliche zur Auseinandersetzung anregen. Der öffentliche Raum als die Bühne jugendlicher Selbstinszenierung kann durch kluge, paradoxe, kreative Interventionen so gestaltet werden, dass informelle außerschulische Lern- und Bildungsorte entstehen.
Franziska Hederer sieht in der Raumaneignung einen „performativen und gestaltenden Prozess, der sich als Engagement an der Grenze vollzieht“. Notwendig ist die Ermöglichung von unterschiedlichen Formen der Kontaktaufnahme und Begegnung. Als Architektin sieht sie die Notwendigkeit von Raumkonzepten und Architekturen, die einen fließenden Übergang zwischen innen und außen ermöglichen. Zwischen- und Schwellenräume können zu Orten der Raumaneignung werden.
Arno Heimgartner beschäftigt sich damit, wie Räume sein sollen, damit sie Kindern und Jugendlichen gerecht werden. Ausgehend von jugendspezifischen Bedürfnissen plädiert er für das Vorhandensein unkontrollierten Raums. In dem Maße, wie dieser innerhalb der sozialen Umgebungen schwindet, wird er im Internet gesucht und gefunden. Anhand ausgesuchter Orte werden Raumprobleme Jugendlicher exemplarisch dargestellt. Das mündet in den alten und aus Sicht des Autors unverändert gültigen Anspruch, dass sich Kinder- und Jugendarbeit, wenn sie die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen ernst nimmt, auch adäquate – also „annehmbare“ - Räume zur Verfügung stellen muss.
Ulrike Hüllemann und Christian Reutlinger gehen der Frage nach, ob das Jugendhaus seine Funktion als Unterstützer sozialräumlicher Aneignungsprozesse noch erfüllen kann. Zumindest für die Schweiz stellen sie in einem Zwischenfazit fest, dass sich Offene Kinder- und Jugendarbeit (OKJA) in ihren „verhäuslichten Angeboten“ derzeit in einer Krise befindet. Sie kritisieren, dass der Begriff Sozialraumorientierung nicht nur auf vielfältige Weise, sondern mitunter höchst widersprüchlich Gebrauch findet. Die Geschichte der OKJA wird von ihnen als ein Prozess der Reduktion selbstgestalteter (teil)autonomer Bestrebungen und Aktivitäten beschrieben. Erkämpfte Freiräume gingen auch wieder verloren. Aus diesem Grund sollten die Jugendlichen selbst und ihre nicht immer von der Erwachsenenwelt akzeptierten Aneignungsprozesse wieder vermehrt zum Ausgangspunkt pädagogischer Überlegungen gemacht werden.
Mit Christian Kühns Aufsatz „Räumliche Settings gestalten“ wird ein zweiter Teil des Buches eröffnet, in dem bauliche, gestalterische und technische Settings bearbeitet werden. Zeitgemäße Planung von Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit berücksichtigt auf der einen Seite das „räumliche Setting“, auf der anderen die „sozialräumliche Infrastruktur“. Kühn plädiert für eine Weiterung der klassischen funktionellen Aufteilung von Jugendhäusern. Das Haus hat Stadt zu sein, Baum und Höhle, Werkstatt und Fabrik, Nische, Bühne und Burg. Es bedarf Grenzen und Brücken. Wie so ein Konzept in die Praxis umgesetzt werden kann, beschreibt er am Beispiel des Jugendhauses Liefering.
Hannes Dieterle und Maria Fellner – er Toningenieur und Musiker, sie frühere Leiterin des Projektes „Intelligente Akustische Lösungen“ – beschäftigen sich mit akustischen Optimierungen von Jugendeinrichtungen. Der technisch ausgerichtete Beitrag konfrontiert die LeserInnen mit den akustischen Eigenmoden eines Raumes und den Schwierigkeiten mit der Nachhallzeit. Man erfährt über „Absorption, Helmholtz-Resonatoren, Bassfallen“ und „Plattenschwinger“ und erhält Empfehlungen für beispielhafte Lösungen für typische Räume in Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit.
Eberhard A. Fischel beschreibt am Beispiel des Mellowpark Berlin die Prozesse partizipativer Gestaltung von Jugendfreizeitstätten. Wie er bereits im Titel seines Aufsatzes deutlich macht, entfaltet sich das dahinterstehende pädagogische Konzept als ein als Prozess, der sowohl „Raumnahme“ (durch Jugendliche) als auch „Raumgabe“ (durch Pädagogen und politisch Verantwortliche) umfasst. Der Mellowpark ist ein Jugend-, Sport- und Freizeitprojekt in Treptow-Köpenick. Er entstand nach 2001 als Zwischennutzung einer Industriebrache an einer 400 m langen Uferkante der Spree. Der Aufsatz beschreibt sowohl die zur Umsetzung gelangenden Ergebnisse der Planung als auch die vielen Einzelschritte, die bei der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen unternommen wurden.
Anhand der Offenen Jugendarbeit Steiermark stellen Klaus Gregorz und Florian Arlt eine Bestandsaufnahme der dort erreichten Ausstattungsstandards vor. Hierzu wurden die Rückmeldungen von 39 Einrichtungen herangezogen, was etwa zwei Drittel der angeschriebenen Einrichtungen repräsentiert. Der Beitrag dokumentiert das Vorhandensein von Bewilligungen, Sicherheitsvorkehrungen, Brandschutz, Barrierefreiheit, Energieeffizienz, schalltechnischen Vorkehrungen sowie die räumliche Gestaltung von Zugängen und offenem Bereich.
Hartwig Klammer – auch er Toningenieur – und Maria Fellner dokumentieren die Bestandsaufnahme sowie Optimierungsvorschläge zur Raumakustik des Jugend- und Kommunikationszentrums Köflach. Der Prozess ist exemplarisch für Projekte mit schlechter Raumakustik und unter diesen für solche, die sich in Räumlichkeiten befinden, die ursprünglich nicht für die Beherbergung eines Jugendzentrums geplant worden sind. Ziel ist dabei die Reduzierung der Lärmbelästigung für Jugendliche und MitarbeiterInnen.
Simone Kosica und Rotraut Walden befassen sich mit der Frage, was Offene Kinder- und Jugendarbeit von der Raumgestaltung in Kindertagesstätten lernen kann. Aus der Praxis von Kindertagesstätten leiten sie Tipps für den Neubau bedürfnisorientierter Raumgestaltung für Kinder- und Jugendliche ab.
Abschließend stellt Gerhard Schuster Raumkonzepte für drei Einrichtungstypen vor, die in der Praxis häufiger vorkommen: Stützpunkte für Mobile Jugendarbeit, Jugendtreffs- und -zentren.
Fazit
Wer, wie der Rezensent, im Verlauf der eigenen Berufsgeschichte etliche hundert Bücher mit Bezügen zur Offenen Kinder- und Jugendarbeit gelesen und auch (an) einige(n) (mit)geschrieben hat, ist erst einmal skeptisch, wenn erneut ein Band aufgelegt wird, in dem deren Raumbezüge vorgestellt werden. Doch die vorliegende Textsammlung überzeugt in ihrer Vielseitigkeit. Grundlegende, den Sozialraumtheorien zuzurechnende Beiträge stehen neben solchen mit Praxisbezügen, in denen auch technisches Spezialwissen sichtbar wird. Ein beschließender Aufsatz, der zusammenführt, eine Klammer bildet, hätte den Band sinnvoll abgerundet. Er weist aber auch in seiner vorliegenden Form zahlreiche Grundlegungen und praxisbezogene Empfehlungen zu Raumverständnis und Raumgestaltung Offener Kinder- und Jugendarbeit aus.
Rezension von
Prof. Dr. Titus Simon
lebt in Wolfenbrück, einem Weiler mit 140 Einwohnern; lehrt zu ausgesuchten Themen in Magdeburg und St. Gallen und schreibt kritische Heimatromane.
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