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Hans-Christoph Koller, Gereon Wulftange (Hrsg.): Lebensgeschichte als Bildungsprozess?

Rezensiert von Prof. Dr. Patricia Arnold, 11.08.2015

Cover Hans-Christoph Koller, Gereon Wulftange (Hrsg.): Lebensgeschichte als Bildungsprozess? ISBN 978-3-8376-2970-5

Hans-Christoph Koller, Gereon Wulftange (Hrsg.): Lebensgeschichte als Bildungsprozess? Perspektiven bildungstheoretischer Biographieforschung. transcript (Bielefeld) 2014. 352 Seiten. ISBN 978-3-8376-2970-5. D: 39,99 EUR, A: 41,20 EUR, CH: 52,00 sFr.

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Thema

Der von Hans-Christoph Koller und Gereon Wulftange herausgegebene Sammelband widmet sich der Frage, wie sich Bildungsprozesse lebensgeschichtlich vollziehen und verbindet dabei die oftmals getrennten Bereiche von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung. Alle Autoren und Autorinnen des Sammelbandes interpretieren das gleiche Interview mit einem jungen Mann aus einer türkischen Migrantenfamilie aus der Perspektive der bildungstheoretischen Biographieforschung. Sie greifen dabei aber auch auf je unterschiedliche weitere theoretische Konzepte als heuristische Rahmen zurück. Neben der Lebensgeschichte des jungen Mannes als Bildungsprozess wird so gleichsam auch bildungstheoretische Biographieforschung aus verschiedenen Blickwinkeln diskutiert.

Herausgeber

Prof. Dr. Hans-Christoph Koller widmet sich der Bildungs- und Transformationsforschung an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg und ist seit 2014 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft.

Gereon Wulftange hat 2014 bei ihm promoviert und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät.

Entstehungshintergrund

Ein großer Teil der Einzelbeiträge des Sammelbandes ist im Kontext einer Tagung an der Universität Hamburg entstanden, die sich 2012 mit dem Verhältnis von Bildungstheorie und -empirie anhand eines biographischen Interviews mit einem jungen Mann türkischer Herkunft befasste. Das Interview lag allen auf der Tagung Vortragenden bzw. im Sammelband schreibenden Autorinnen und Autoren vor ebenso wie drei Leitfragen zur bildungstheoretischen Biographieforschung, die exemplarisch mit einer Analyse des Interviews beantwortet werden sollten.

Aufbau und Inhalt

Der Sammelband besteht neben einer Einleitung der Herausgeber aus zwölf Einzelbeiträgen, wobei die Herausgeber je auch einen Beitrag verfasst haben. Zusätzlich ist das vollständige Transkript des Interviews, auf das sich alle Beiträge beziehen, im Anhang des Buches abgedruckt. Informationen zu den vier Autorinnen und den acht Autoren runden den Band ab.

Die Beiträge gehen alle – mit unterschiedlichen Akzentuierungen – auf drei Leitfragen ein, die im Mittelpunkt des Sammelbandes stehen. Die Autorinnen und Autoren liefern weiterhin eine je eigene Interpretation des Interviewtextes, die ihre Positionierung zu den drei Leitfragen veranschaulichen soll und die Lebensgeschichte des jungen Mannes unter der Fragestellung beleuchtet, inwieweit hier ein Bildungsprozess zu erkennen ist.

Die Leitfragen, die gleichzeitig zur kritischen Reflexion des Ansatzes der bildungstheoretischen Biographieforschung und seiner Weiterentwicklung gestellt wurden, formulieren Koller & Wulftange (2014, 9) einleitend wie folgt:

  • „Wie können im Rahmen bildungstheoretisch fundierter Biographieforschung die gesellschaftlichen und diskursiven Rahmenbedingungen individueller Bildungsprozesse angemessen berücksichtigt und Bildungsprozesse als Transformationen nicht nur von Selbst-, sondern auch von Weltverhältnissen analysiert werden?
  • Wie kann es gelingen, Theorie und Empirie im Rahmen dieses Ansatzes so miteinander zu verknüpfen, dass das empirische Material nicht nur zur Illustration bereits vorliegender theoretischer Konzepte dient, sondern auch zu deren Weiterentwicklung beiträgt?
  • Wie können die normativen Implikationen des Bildungsbegriffs im Rahmen solcher Forschung angemessen berücksichtigt werden? Ist es möglich, sich dabei auf einen rein deskriptiven Begriff von Bildung(sprozessen) zu beschränken, oder sollte(n) Bildung(sprozesse) darüber hinaus auch als wünschenswerte Transformationen des Welt- und Selbstverhältnisses in einem näher zu bestimmenden Sinn qualifiziert werden?“

Auch wenn alle Beiträge grundsätzlich der bildungstheoretischen Biographieforschung zuzuordnen sind, verwenden sie oft zusätzlich je eigene Theorieansätze, die ihre Lesart und ihr methodisches Herangehen an den Interviewtext entscheidend beeinflussen: z.B. greift Rainer Kokemohr auf die Pragmalinguistik und die Interferenzanalyse zurück, Lothar Wigger nimmt Bezug auf Hegel und betrachtet den Interviewtext als „Dokument einer Bildungsgestalt“, Florian von Rosenberg bezieht sich auf Bourdieus Habitus und Feld-Konzept, Arnd-Michael Nohl führt eine neue grundlagentheoretische Kategorie des „Wissenspfades“ ein, Hans-Christoph Koller und Nadine Rose nutzen Judith Butlers Theorie der Subjektivierung, Janina Zölch greift auf Mark Terkessidis „vier Akte der Bewusstmachung von Fremdheit“ bei der Interpretation des Interviewtextes zurück und Anke Wischmann bringt zusätzlich die „Critical Race Theory“ ein.

In ihrer Mehrheit kommen die Autoren und Autorinnen zu dem Schluss, dass sich im Interviewtext der Lebensgeschichte des jungen Mannes kein vollständiger Bildungsprozess zeigt, allenfalls ein solcher angestoßen oder vorbereitet wurde. Aber es gibt auch abweichende Interpretationen wie die von Hans-Christoph Koller, der seine Argumentation für die Sichtbarkeit eines Bildungsprozesses im Datenmaterial des Interviewtextes gleichzeitig mit einem Plädoyer verbindet, für Bildungsprozesse nicht nach „dramatischen Veränderungen“ zu suchen, sondern vielmehr bewusst „minimale Verschiebungen“ in den „Selbst- und Weltverhältnissen“ der betrachteten Subjekte genauer zu untersuchen.

Diskussion

Die Interpretation des gleichen narrativen Interviews unter dem verbindenden Rahmen der bildungstheoretischen Biographieforschung, gemeinsam mit einer kritischen Reflexion und Weiterentwicklung dieses Ansatzes ist ein spannendes Projekt und im Sammelband anschaulich dokumentiert. Der vollständige Interviewtext unterstützt dabei die Nachvollziehbarkeit der Argumentationen in den einzelnen Beiträgen und macht den Band auch aus methodologischer Perspektive interessant.

Gewinnbringend ist der Sammelband besonders für zwei Zielgruppen:

  1. An der bildungstheoretischen Biographieforschung Interessierte finden in diesem Band reichhaltige Denkimpulse zu den Möglichkeiten und Grenzen dieses Ansatzes und zu den Richtungen, in die er möglicherweise weiter entwickelt werden kann.
  2. Aber auch Leserinnen und Leser, die mit einem methodischen Interesse an den Sammelband herangehen, insbesondere mit einem Interesse an qualitativer Forschung, erhalten im Sammelband reichhaltiges Anschauungsmaterial, wie „sensibilisierende Konzepte“ und methodisches Vorgehen im Detail die Lesart und die Erkenntnisse aus der Analyse eines narrativen Interviews prägen.

Viele Beiträge sind sehr voraussetzungsvoll geschrieben, wie z.B. der von Rainer Kokemohr, und bieten erst kürzlich auf den Ansatz der bildungstheoretischen Biographieforschung gestoßenen Lesenden keinen leichten Einstieg. Andere wiederum, wie z.B. der Beitrag von Heide von Felden, sind auch für weniger Erfahrene gut zugänglich.

Hervorzuheben an dem Band ist ferner die Bandbreite der für die bildungstheoretische Biographieforschung zusätzlich fruchtbar gemachten Konzepte und anerkennenswert auch, dass der Sammelband mit dem Beitrag von Anke Wischmann schließt, die den gesamten Ansatz der bildungstheoretischen Biographieforschung auf seine immanenten Verengungen hin kritisch beleuchtet.

Fazit

Der Sammelband ist für alle an bildungstheoretischer Biographieforschung Interessierten gewinnbringend. Spannend ist er auch unter methodischen Aspekten, insbesondere für mit qualitativer Auswertung narrativer Interviews Forschende. Für Neueinsteiger sind die einzelnen Beiträge nicht immer zugänglich geschrieben, aber durch Abdruck des vollständigen Interview-Transkripts als Referenzpunkt aller Einzelbeiträge stellt der Band insgesamt gut dokumentierte und nachvollziehbare Forschungs- und Diskussionsprozesse im Kontext von Bildungstheorie und -empirie zusammen.

Rezension von
Prof. Dr. Patricia Arnold
Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften | Hochschule München. Lehrgebiet Sozialinformatik, E-Learning, Erwachsenenbildung
http://patriciaarnold.wikispaces.com/Home
Website

Es gibt 4 Rezensionen von Patricia Arnold.

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Zitiervorschlag
Patricia Arnold. Rezension vom 11.08.2015 zu: Hans-Christoph Koller, Gereon Wulftange (Hrsg.): Lebensgeschichte als Bildungsprozess? Perspektiven bildungstheoretischer Biographieforschung. transcript (Bielefeld) 2014. ISBN 978-3-8376-2970-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18096.php, Datum des Zugriffs 20.03.2023.


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