Beate Letschert, Jos Letschert et al.: Ist mir doch egal! Ermutigung [...]
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 30.12.2014
Beate Letschert, Jos Letschert, Maria Clasen: Ist mir doch egal! Ermutigung. Eine pädagogische Herausforderung. Schneider Verlag Hohengehren (Baltmannsweiler) 2014. 349 Seiten. ISBN 978-3-8340-1402-3. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR, CH: 34,50 sFr.
Plädoyer für eine Bildungs- und Erziehungskultur
Bildung und Erziehung sind Menschwerdungsprozesse; weil der „unvollständige“ Mensch der Aufrichtung hin zum aufrechten Gang bedarf (Kurt Bayertz, Der aufrechte Gang. Eine Geschichte den anthropologischen Denkens, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/17706.php). In der uralten Herausforderung und Kontroverse, wie der Mensch seiner Bestimmung als homo sapiens gerecht werden kann, ob durch „Führen“ oder „Wachsen lassen“ (Theodor Litt), durch autoritäre oder antiautoritäre Erziehung – bleibt beständig die Auffassung, dass Bildung und Erziehung „den Gesamtprozess des sozialen Lebens (umfasst), innerhalb dessen Einzelpersonen und gesellschaftliche Gruppen es lernen, in ihrer eigenen Gesellschaft und im Rahmen der gesamten Weltgemeinschaft ihre persönlichen Fähigkeiten und Einstellungen, ihr Können und Wissen bewusst und bestmöglich ( ) entfalten“ sollen (Deutsche UNESCO-Kommission, Empfehlung zur „internationalen Erziehung“, 2. Aufl., Bonn 1990, S. 16). Wie wir wissen, hat es zu allen Zeiten und in allen Kulturen Versuche gegeben, idealistische und ideologische Konzepte und Werkzeuge zu entwickeln und zu etablieren, um ein Bild vom „gebildeten“ Menschen herzustellen, bis hin zu der in der „globalen Ethik“, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) proklamierten Bestimmung, dass Bildung ein Menschenrecht ist und „auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein“ soll (Art. 26). Damit wird auch deutlich, dass Bildung mehr ist als Wissenserwerb, und Erziehung sich nicht erschöpfen darf in Traditionen und Anpassung. Der zôon politikon, der nach Aristoteles als Gesellschaftswesen definierte Mensch braucht, darauf hat auch die US-amerikanische Philosophin Martha Nussbaum hingewiesen, nicht nur die Fähigkeit zum rationalen, sondern auch die zum emotionalen Denken (Martha C. Nussbaum, Politische Emotionen. Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/17720.php).
Entstehungshintergrund und Autorenteam
Damit sind wir schon bei den Fragen, wie Bildung vermittelt werden soll und Erziehung den Wert gewinnt, der eine humane Entwicklung des anthrôpos ermöglicht. Der Fokus liegt dabei auf der schulischen Bildung und Erziehung, als die institutionalisierte und gesellschaftlich legitimierte Form der Menschenbildung. Seit Jahrtausenden wird dieser Frage eine kontroverse Aufmerksamkeit gewidmet. Schüler- und Lehrerschelte zieht sich von der Antike bis heute hin und wird als Pro und Contra diskutiert (vgl. dazu: „Lehrerbeschimpfung oder Lehrerlob?“, 03.09.2007, www.socialnet.de/materialien/53.php; Gustav Keller, Die Lehrerschelte. Leidensgeschichte einer Profession, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/17973.php). Die Entdeckung, dass bei der Bildung und Erziehung vom Kind aus gedacht und gehandelt werden sollte, ist ja eine, die sich erst in der Zeit der Reformpädagogik (Maria Montessori, u.a.) durchgesetzt und mit der Ausrufung des „Jahrhunderts des Kindes“ durch Ellen Key (1901/02) einen Perspektivenwechsel vollzogen hat. Der Erkenntnis, „dass Erziehung aus einer Haltung und einer Beziehung heraus erfolgen soll“, wie dies die Schweizer Psychoanalytiker Josef Sachs und Volker Schmidt in ihrem Vorwort zum Buch „Ist mir doch egal!“ formuliert haben, liegt ja die psychologische wie didaktische Auffassung zugrunde, dass Lernen in der eigentlichen Bedeutung von Verhaltensänderung nicht den „Nürnberger Trichter“ bedarf, auch nicht methodischer Tricks, sondern einer „ermutigenden Pädagogik“.
Die Schulleiterin und Lehrbeauftragte an der Universität Hamburg, Beate Letschert, der niederländische Erziehungswissenschaftler Jos Letschert und die Hamburger Lehrerin Maria Clasen, legen ein Buch vor, das sie mit dem Tugendbegriff „Ermutigung“ untertiteln und als „pädagogische Herausforderung“ verstanden wissen wollen. Sie setzen sich dafür ein, der individualpsychologisch orientierten Pädagogik als d e r Form für Lebenslehre und -entwicklung beim schulischen Lernen, die Bedeutung zukommen zu lassen und zu erhalten, die das „Prinzip der Ermutigung“ zuvorderst stellt. Das Autorenteam teilt sich die Aufgabe dafür, indem Beate Letschert besonders die pädagogisch-individualpsychologischen Herausforderungen betont, Maria Clasen auf die schulpraktischen Perspektiven verweist und Jos Letschert die bildungspolitischen Aspekte thematisiert.
Aufbau und Inhalt
Die Gliederung des Buches orientiert sich an den oben genannten Perspektiven.
- In Teil A wird auf die Bedeutung der „Erziehung im Elternhaus“ eingegangen;
- in Teil B werden „Schule und Unterricht“ diskutiert, und
- in Teil C geht es um Fragen von „Bildungspolitik und Gesellschaft“.
Mit den Metaphern „Wärme braucht / Jahre des Wachsens“ und „Kälte von / Jahren des Frierens“ im Gedicht des Niederländers Willem Hussem drückt das Autorenteam die Spannweite und Diskrepanz von Lebens- und Lernatmosphären aus. Während „Wärme“ mit Zuwendung, Ermutigung, Aufmerksamkeit, Fürsorge, Neugier und Einbildungskraft gleichgesetzt wird, die eine gelingende und positive Entwicklung ermöglicht, stellt sich „Kälte“ als Ablehnung, Unerwünschtheit, Verzweiflung, Lebensangst, den Gefühlen von Nutzlosigkeit und Überflüssigkeit dar. Während also zum einen ein positives Menschen- und Weltbild entsteht, entwickeln sich zum anderen negative Einstellungen und Verhaltensweisen, die Lernen unmöglich machen. In zahlreichen Praxisbeispielen werden für Eltern, Lehrerinnen und Lehrer und andere, am Bildungs- und Erziehungsprozess beteiligte Erwachsene Denk- und Handlungsanregungen vermittelt, die münden in der eigentlich logischen und selbstverständlichen Erkenntnis, „Schülerinnen und Schüler anzuleiten, Verantwortung für ihr Lernen zu übernehmen“.
Im zweiten Teil werden die vielfältigen, systematischen, curricularen, didaktischen und methodischen Formen des Unterrichtens thematisiert. Ein guter, gelingender Unterricht braucht sowohl angemessene äußere Bedingungen, als auch Wertvorstellungen. Ein Beispiel, welche Begriffe ein Curriculum umfassen sollte, um einen „Dekalog“ des Lehrens und Lernens bewirken zu können: Imagination – Empathie – Ermutigung – Konzept – Autonomie – Kompetenz – Transparenz – Reflexion – Takt – Motivation. Daraus entwickeln sich Lernstrategien, die es den Lehrenden ermöglichen, Lernen zu lehren und zu lernen (vgl. dazu auch: Peter Faulstich, Hrsg., Lerndebatten. Phänomenologische, pragmatische und kritische Lerntheorien in der Diskussion,2014, www.socialnet.de/rezensionen/17373.php). Es ist die uralte und nach wie vor aktuelle Auseinandersetzung darüber, welche Bedeutung beim Lernen Theorie und Praxis haben, wie die Balance zwischen Selbstfindung und Selbstbestätigung in der kindlichen Entwicklung gefunden und ausgehalten werden kann, Distanz und Dialog in Einklang zu bringen, Anforderungen zuzumuten und Überforderungen zu vermeiden, die Lehrerinnen und Lehrern Wege für ein individuell fokussiertes, gemeinsamkeitsbestimmtes Lernen aufzeigen. Die zahlreichen Beispiele aus dem Schulalltag liefern dafür Erklärungsmuster und Erfahrungsmut.
Im dritten Teil werden bildungspolitische Fragestellungen reflektiert. Es sind die Momente und Monumente von Bildungsreformen, die im gesellschaftlichen Diskurs in unterschiedlicher, zustimmender wie kontroverser Weise diskutiert werden. Dass dabei nicht immer rationale und professionelle Argumente ins Feld geführt werden, zeigt sich in der lokal- und globalgesellschaftlichen Wirklichkeit. Am Beispiel des „Dilemmas der Inklusion“, die auf der Grundlage der globalen Garantie beruht, dass Bildung ein Menschenrecht ist, wird die zunehmende gesellschaftliche Komplexität (auch) im Bildungs- und Erziehungsbereich thematisiert und dazu ermutigt, soziales Lernen bei familiären und schulischen Bildungsprozessen erfahrbar zu machen.
Fazit
Das Autorenteam stützt sich bei seinen pädagogischen Betrachtungen über Bildungs-, Erziehungs- und Lerngelingen wie den Diskussionen über deren Misslingen überwiegend auf die Individualpsychologie Alfred Adlers, in der die „Ganzheit des Individuums, also von dessen Einmaligkeit und Unteilbarkeit“ zum Ausdruck kommt. Sie registrieren, dass gerade diese Betrachtung des Menschseins in der sich immer interdependenter, entgrenzender und (möglicherweise auch) unverbindlicher und egoistischer sich entwickelnden (Einen?) Welt notwendiger denn je sei. Das Prinzip der Ermutigung als Kern- und Leitmotiv der individualpsychologisch orientierten Pädagogik, stellt, so das Autorenteam, eine pädagogische Herausforderung im Hier und Heute dar. Das zeigen die Autorinnen und der Autor in vielfältiger, eindringlicher Weise in ihren theoretischen Reflexionen und insbesondere in ihren Praxisbeispielen auf.
Das Buch mit dem provozierenden Titel „Ist mir doch egal!“ sollte für die Lehreraus- und -fortbildung, wie auch in der Elternbildung einen herausfordernden Stellplatz einnehmen und als Handbuch zur Kenntnis genommen werden!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 30.12.2014 zu:
Beate Letschert, Jos Letschert, Maria Clasen: Ist mir doch egal! Ermutigung. Eine pädagogische Herausforderung. Schneider Verlag Hohengehren
(Baltmannsweiler) 2014.
ISBN 978-3-8340-1402-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18115.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.
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