Adrian Jitschin, Alexander Brechtel et al. (Hrsg.): Perspektiven der Bildungsberatung
Rezensiert von Prof. Dr. Jochen Schmerfeld, 29.09.2015

Adrian Jitschin, Alexander Brechtel, Katharina Dötzer (Hrsg.): Perspektiven der Bildungsberatung. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2014. 228 Seiten. ISBN 978-3-525-40364-8. D: 19,99 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 27,50 sFr.
Thema
Das Thema ‚Bildungsberatung‘ ist schon seit längerer Zeit immer wieder in die Diskussion innerhalb der Erwachsenenbildung gekommen, wobei die Diskussionen unter verschiedenen Vorzeichen geführt werden: Bildungsbenachteiligung und Ausgleichsmöglichkeiten ebenso wie – in diesem Buch – die EU-Strategie des ‚lebenslangen Lernens‘ und ihre Unterstützung durch Beratungsangebote.
HerausgeberInnen
- Dr. Adrian Jitschin, zertifizierter Bildungsberater und Mitglied der GIBeT (Gesellschaft für Information, Beratung und Therapie an Hochschulen), ist Leiter des Regionalzentrums Frankfurt der FernUniversität Hagen.
- Alexander Brechtel, zertifizierter Bildungsberater und Mitglied der GIBeT, ist Feedbackmanager der Hochschule RheinMain Wiesbaden Rüsselsheim.
- Katharina Dötzer, zertifizierte Bildungsberaterin und Mitglied der GIBeT, ist Studienberaterin an der Hochschule Darmstadt.
Entstehungshintergrund
Diese Publikation ist entstanden auf Initiative von Teilnehmern an einer Qualifizierungsmaßnahme des Zentrums für wissenschaftliche Weiterbildung der Universität Mainz ‚Bildungsberatung und Kompetenzentwicklung‘, die selbst Beiträge geschrieben haben, aber auch weitere Autoren gewonnen haben.
Aufbau
Das Buch besteht aus einer Sammlung von Beiträgen verschiedener Autoren, die in drei große Abschnitte gegliedert sind:
- im ersten Teil finden sich theoretische Ansätze,
- im zweiten Teil intermediäre Ansätze und
- im dritten und letzten Teil praktische Ansätze zum Thema.
Zu 1. (Theoretische Ansätze)
Verena Mager: Berufswahlreife – empirische Befunde und Implikationen für die Beratungspraxis. Das Konstrukt der Berufswahlreife in seinen verschiedenen Versionen wird in seiner Bedeutung für die Beratungspraxis diskutiert: „dem Einsatz des Konzepts der Berufswahlreife in der beraterischen Praxis kann daher ein hoher methodischer Nutzen zugeschreiben werden.“ (34f)
Alexander Brechtel: Beschwerde- und Ideenmanagement an Hochschulen – eine Konzeptidee. Ausgangspunkt ist die Vermutung, dass den Beschwerden von Studierenden ein gewisser Beratungsbedarf inhärent sein könnte, so dass es vom Autor als sinnvoll erachtet wird, ein Beschwerdemanagement einzurichten, das bei vorliegendem Beratungsbedarf weiter verweist.
Kira Nierobisch: Aktuelle gesellschaftliche Tendenzen im Bildungssystem und die Auswirkungen auf die Bildungsberatung. Als tiefgreifend angesehene Veränderungen im deutschen Bildungssystem werden benannt und in Hinblick auf ihre Konsequenzen für Bildungsberatung diskutiert: PISA und die Folgen für Lernberatungen, Veränderungen in der beruflichen Bildung, der Bologna Prozess und seine Folgen für die Hochschulen sowie das Programm des lebenslangen Lernens und seine Konsequenzen für Weiterbildungsberatung. Nierobisch kommt zu folgendem Fazit: „Wollen Bildungsberater und -beraterinnen die Beratungsprozesse im Sinne eines humanistisch verstandenen Bildungsverständnisses zusammen mit den Beratenen gestalten, müssen sie sich fragen, inwieweit Beratung im Dienste gesellschaftlicher Steuerung steht.“ (85)
Joachim Wenzel: Chancen und Risiken Neuer Medien in der Bildungsberatung. Chancen und Potenziale neuer Medien werden in fünf verschiedenen Dimensionen betrachtet: die organisationsinterne Vernetzung, die neuen Zugangswege für Beratungssuchende, mediale Kundenkommunikation und Onlineberatung, medienbasierte Informationsangebote und die Verknüpfung von Beratungsangeboten. Die neuen Medien böten vielfältige Chancen und Möglichkeiten vor allem „in Bezug auf die Erreichbarkeit (potenzieller) Ratsuchender, für die Beratungskommunikation mit ihnen, aber auch für die stelleninterne Kommunikation und Informationsverarbeitung“ (100). Risiken entstünden vor allem für die Vertraulichkeit der Beratung.
Zu 2. (Intermediäre Ansätze)
Barbara Sommer: Methoden der Selbstfürsorge in der Beratung. Sommer bezieht sich zunächst auf Foucaults Spätwerk und das darin an spätantiken Vorbildern entwickelte Konzept der Selbstsorge (verwendet allerdings Zitate aus zweiter Hand, d.h. aus der Sekundärliteratur, in diesem Fall aus einem „verfahrensübergreifenden Übungsbuch“ von Bentrup und Geupel) und verbindet dies im Folgenden mit Methoden der Selbstfürsorge, die im Kontext von Beratung eingesetzt werden könnten: Embodiment, Imaginationen und Erlebnisaktivierung.
Adrian Jitschin: Übertragung eines Qualitätsmanagements auf die fachbezogene Studienberatung. Jitschin geht davon aus, dass in Zukunft die Studienberatung eine größere Bedeutung für die Beurteilung eines Studiengangs und damit auch für das studiengangsbezogene Qualitätsmanagement bekommen werde. Bislang fehle es aber an geeigneten Kriterien zur Beurteilung der Studienberatung. „Diese Kriterien zu entwickeln, ist Ziel dieses Beitrags. Dabei sollen Ansätze aus den ökonomischen Theorien des funktionalen Managements und des Personalwesen auf die Situation der fachbezogenen Studienberatung und Studiengangskoordination angewandt werden.“ (126) Als QM-System soll das EFQM-System Verwendung finden, da es am besten zu den Kriterien passe. Dennoch bleiben dem Autor Zweifel: „Obschon das EFQM-Modell nicht der Weisheit letzter Schluss ist und sich die Frage stellt, ob nicht ein eigenes Qualitätsmanagement-Modell für den Bereich der Hochschule sinnvoll wäre, ist EFQM im Moment – wenn auch nicht ein perfektes – so doch ein brauchbares Instrument.“ (141)
Meike Missler: Studienabbruch und Bildungsberatung. Bei der Beratung von (potentiellen) Studienabbrechern sei zu beachten, dass Studienabbruch tendenziell negativ bewertet werde, was von den Beratern aktiv reflektiert werden müsse. Es müssten Alternativen zum Studium herausgearbeitet werden und es müsse eine Lösung für die aktuell belastendende Situation gefunden werden. „Die Impulse und Optionen sollten sich solange zum einen auf die Bewältigungsstrategie für die aktuelle Lebenssituation und zum anderen auf die Suche und Bewertung von alternativen Karrierewegen beziehen“ (158).
Kim Christin Moskopp: Evaluation in der Bildungsberatung – erste Annäherungen. Moskopp möchte zum einen „eine Idee der Komplexität, zum anderen eine Idee der praktikablen und sinnvollen Durchführung“ (161) geben. Evaluation könne als nachhaltiges Instrument der Qualitätsentwicklung von Beratung angesehen werden, den Ablauf der Evaluation könne man sich gut in einem Kreislaufmodell vorstellen. Abschließend wird die Frage gestellt, ob sich der Aufwand wirklich lohne, wobei die Autorin zu dem Ergebnis kommt, dass „auch die Evaluation nicht die allumfassende Lösung für alle Probleme der Praxis sein kann“ (168).
Zu 3. Praktische Ansätze
Katharina Dötzer: Spannungsfeld Information versus Beratung – ein Schulungsleitfaden für die Mitarbeiter einer Telefon-Hotline. In diesem Beitrag wird die Telefonberatung einer Hotline des Studierendenservice einer Universität im Spannungsfeld zwischen Information und Beratung positioniert und daran anschließend ein Leitfaden für die Schulung neuer Telefonagenten entwickelt. Dötzers Analyse kommt zu dem Ergebnis, dass eine strikte Trennung der Beratung von der Informationsweitergabe in diesem Kontext nicht möglich sei. Dementsprechend werden Qualitätskriterien für die Telefonberatung entwickelt und daraus ein Schulungskonzept abgeleitet, in dem verstärkt kommunikative Aspekte in das bereits vorhandene Konzept integriert werden.
Annelie Schmidt: Sich auf die Reise machen – ein Beratungskonzept für die Studienwahl in »Blanko«-Situationen. Es geht um die Frage, „wie ein Beratungsgespräch in ‚Blanko‘-Situationen der Studienwahl konzipiert sein sollte, um unter Beachtung der genannten Restriktionen (vor allem: hohe Erwartungen an die Beratung und wenige zur Verfügung stehende Zeit. J.S.) eine sinnvolle Erstorientierung für Studieninteressierte zu leisten“ (192). Dazu soll ein Konzept entwickelt und dessen Umsetzung beschrieben werden. Schmidt verwendet in diesem Zusammenhang die Reise (mit acht Etappen) als zentrales Bild. „Das Reisekonzept mit seinen acht Etappen bietet eine umfassende Hilfestellung für die Beratungssituation ‚Blanko‘ und integriert dabei zentrale berufswahltheoretische Erkenntnisse.“ (200)
Miriam Macak: Umgang mit Dritten in der Beratung – Besonderheiten und Lösungsoptionen bei der Beratung von Migrantinnen und Migranten. Im Unterschied zum klassischen Beratungsverständnis, das zwei Personen vorsehe, entstünden im Kontext interkultureller Beratungen häufig durch die Anwesenheit einer dritten Person andere Situationen. Zur Gestaltung solcher Situationen werden methodische Vorschläge gemacht.
Diskussion
Angesichts der durchaus gegebenen Wichtigkeit des Themas ist es bedauerlich, dass trotz der Vielzahl von Beitragen der einigermaßen informierte Leser nichts Neues erfährt, sondern sich mit längst bekannten und bereits anderenorts weitaus differenzierter formulierten Einsichten aus zweiter Hand konfrontiert sieht. Ein Beispiel: Im Beitrag von Macak wird behauptet: „Die klassische Beratungssituation sieht zwei Personen im Gespräch vor.“ (213) Spätestens seit den späten 1960er Jahren gibt es Konzepte für Beratung mit Mehr-Personen-Systemen, was aber von Macak anscheinend nicht zur Kenntnis genommen wurde. Zudem lassen einige Beitrage die erwartbare wissenschaftliche Qualität vermissen, was sich zum Beispiel in der Nicht-Beachtung von Minimalstandards zeigt. So bezieht sich Sommer in ihren Beitrag zur Selbstsorge in der Beratung auf die Theorie von Michel Foucault ohne offenbar die Originalliteratur gelesen zu haben, jedenfalls zitiert sie Foucault aus einem Übungsbuch. Es entsteht der Eindruck, die in diesem Buch versammelten Beiträge hätten überwiegend nicht den Stand der Diskussion zum Thema Beratung rezipiert. So werden eher Professionalitätsdefizite der Bildungsberatung demonstriert.
Fazit
Das Buch behandelt ein wichtiges Thema auf einem Niveau, das kaum den von Bachelorarbeiten entspricht und eignet sich daher allenfalls dazu, einen ersten groben Überblick über die vielfältige und anscheinend häufig nicht gut informierte Praxis der Bildungsberatung zu bekommen.
Rezension von
Prof. Dr. Jochen Schmerfeld
Professor für Pädagogik an der Katholischen Hochschule Freiburg
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