Barbara E. Meyer, Tobias Tretter et al. (Hrsg.): Praxisleitfaden auffällige Schüler und Schülerinnen
Rezensiert von Dr. Kirsten Oleimeulen, 08.10.2015

Barbara E. Meyer, Tobias Tretter, Uta Englisch (Hrsg.): Praxisleitfaden auffällige Schüler und Schülerinnen. Basiswissen und Handlungsmöglichkeiten. Beltz Verlag (Weinheim, Basel) 2015. 200 Seiten. ISBN 978-3-407-62943-2. D: 24,95 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 34,60 sFr.
Thema: Wie können sich Probleme im schulischen Alltag zeigen?
Der Schüler/die Schülerin zieht sich zurück, ist auffallend schweigsam und kapselt sich ab, ist unkonzentriert, wirkt lustlos, müde, abwesend, ist vergesslich und unorganisiert, sucht ständig nach den Schulsachen, klopft, singt, murmelt vor sich hin; kaut, zupft, hantiert an allem, was greifbar ist; steht auf, geht herum, streift, schubst, rempelt andere Kinder, wirkt vernachlässigt in der Kleidung, ist ungepflegt, bettelt um Pause, ist verbal oder körperlich aggressiv gegenüber Mitschülern/Mitschülerinnen und Lehrpersonen, verweigert die aktive Teilnahme am Unterricht, fehlt auffallend oft, kann das eigene Leistungsvermögen und das eigene Verhalten nicht richtig einschätzen, fällt auf durch einen plötzlichen Leistungsabfall, reagiert sehr impulsiv bei Kritik, Misserfolg oder in Konfliktsituationen, versucht ständig die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, missachtet Vereinbarungen und Regeln, stellt Anweisungen in Frage oder hört nicht zu.
Helfersysteme im Kontext Schule
Mit § 1 des Schulgesetzes vom 15. Februar 2005 haben alle Schülerinnen und Schüler in Nordrhein-Westfalen Anspruch auf eine ihren Stärken und Begabungen sowie auch den persönlichen Bedarfen entsprechende individuelle Förderung. Dies gilt an allen Schulformen und Lernorten für alle Kinder und Jugendliche, unabhängig davon, ob eine Behinderung, chronische Erkrankung oder ein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung vorliegt. D.h. auch Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen und/oder einem Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung erhalten zunächst eine ihren Bedarfen entsprechende individuelle Förderung.
Sowohl Schule als auch Jugendhilfe tragen Verantwortung für Kinder und Jugendliche, die aus sozial problematischen Verhältnissen kommen, individuell oder sozial benachteiligt sind, Verhaltensauffälligkeiten zeigen oder mit Entwicklungsproblemen belastet sind. Beide Sys? teme verfügen über differenzierte Instrumentarien im Umgang mit diesen Kindern und Ju? gendlichen und haben das gemeinsame Problem, dass die Entscheidungen über geeignete Hilfen und Unterstützungsmaßnahmen einen hohen Grad an Prognoseunsicherheiten auf? weisen.
Autoren/-innen
Dr. Barbara E. Meyer schloss vor ihrem Studium der Sprechwissenschaft & Psycholinguistik, Psychologie und Pädagogik an der LMU München eine Ausbildung zur Bankkaufrau ab. Als Lehrbeauftrage an der LMU München nahm sie an einer Fortbildung zur Zertifizierte Trainerin für den kommunikationspädagogischen Ansatz „Synergetische Unterrichtskommunikation®“ statt. Es folgte ihre Promotion zum Dr. phil bei Herrn Prof. Dr. Kiel am Institut für Schulpädagogik an der LMU München. Frau Dr. Barbara E. Meyer verfügt über langjährige Erfahrung als Dozentin, Tutorenbetreuerin, Trainerin und Moderatorin.
Dr. Tobias Tretter, promoviert 2008 am Lehrstuhl für Sonderpädagogik der LMU München (bei Prof. Dr. Kiel). Seit 2010 absolviert er eine berufsbegleitende Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, neben seiner Tätigkeit am Lehrstuhl für Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik der Universität Augsburg.
Uta Englisch ist Schulpsychologin, Seminarlehrerin und Mitarbeiterin am Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB) München.
Aufbau und Inhalt
Das Buch „Praxisleitfaden auffällige Schüler und Schülerinnen. Basiswissen und Handlungsmöglichkeiten“ setzt sich aus sechs Kapiteln zusammen.
1. Einleitung. Der Aufbau und die Intension des Praxisleitfadens hängen sehr eng mit seiner Entstehungsgeschichte zusammen, die einige Besonderheiten des Buches erklärt. Der Ausgangspunkt waren Fragen von Studierenden nach einer verständlichen Darstellung von für Lehrkräfte relevanten Fakten über Auffälligkeiten, mit denen sie später zu tun haben könnten.
Der Aufbau des Buches basiert auf den Diskussionen und der Expertise des Beraterkreises sowie den Ergebnissen einer online-Befragung nach den Wünschen und Erfahrungen von Regelschullehrenden in ganz Bayern. Im vorderen Teil des Buches wird der grundsätzliche Umgang mit Auffälligkeiten thematisiert. Im hinteren Teil werden Informationen über verschiedene Auffälligkeiten dargestellt.
2. Förderliche Haltung im Umgang mit Auffälligkeiten (Robert Roedern). Menschen, die in der Schule arbeiten, machen etwas, das funktioniert. Mündige, selbstbewusste, selbst denkende, leistungsbereite, mitfühlende Schülerinnen und Schüler mit Wissen und Fähigkeiten verlassen die Institution Schule. Trotz medialer Katastrophenmeldungen scheinen Bildungsprozesse in der Mehrzahl zu gelingen. Diesem einseitigen negativen Blick unterliegen auch Lehrkräfte im Unterricht.
3. Von der Haltung zum gesunden Handeln (Jürgen Bader). Das vorangegangene Kapitel hat verdeutlicht, dass es hilfreich sein kann, wenn Lehrkräfte eine bestimmte Einstellung Schülern/-innen gegenüber einnehmen. Natürlich belastet diese Haltung auch insofern, dass sie Handlungskonsequenzen nach sich zieht. Das benötigt Zeit und Energie. Beides steht nur begrenzt zur Verfügung und Mangel daran bedeutet Stress für die Lehrenden. Daher behandelt dieses Kapitel Wege, dem möglicherweise entstehenden Stress und dabei auch sich selbst konstruktiv zu begegnen.
4. Dokumentation, Informations- und Schweigepflicht (Uta Englisch). Damit die Grundvoraussetzungen von Einstellungen und wünschenswerter Haltung in konkrete positive Handlungen umgesetzt werden können, ist eine weitere Gelingensbedingung, die Chance und Befähigung der einzelnen Lehrkraft zur Kooperation.
Kooperation im schulischen Miteinander beinhaltet die Auseinandersetzung mit den drei Kerngedanken: Dokumentation, Informations- und Schweigepflicht.
5. Vorgehen in sechs Schritten (Uta Englisch). In sechs Schritten, die Bewegung auf ein Ziel hin implizieren, wird ein Leitfaden angeboten, wie Lehrkräfte schwierigen pädagogischen Herausforderungen achtsam begegnen können und welche Handlungsmöglichkeiten, aber auch Handlungsverpflichtungen sich im Umgang mit auffälligen Schülerinnen und Schülern eröffnen.
- Schritt 1: Schüler/-innen beobachten (Barbara E. Meyer, Robert Roedern, Stephan Schickart, Tobias Tretter) (5.1)
- Schritt 2: Gespräch führen (5.2)
- Schritt 3: Trotzdem unterrichten (Ingrid Karlitschek) (5.3)
- Schritt 4: Hilfe aktivieren (Uwe Schuckert, Silvia Fratton-Meusel, Tobias Tretter, Barbara E. Meyer) (5.4)
- Schritt 5: Einen Förderplan erstellen (Sarah Seeger) (5.5)
- Schritt 6: Bewerten und Nachsteuern (Barbara Meyer, Heinz Schlegel) (5.6)
6. Spezifische Auffälligkeiten, Störungen und Behinderungen (Tobias Tretter). Das nun folgende Kapitel beinhaltet Kurzzusammenfassungen über relevante Störungen, Behinderungen oder Auffälligkeiten im schulischen Kontext. Sie dienen der schnelleren Information, um als Lehrkraft Ideen zu gewinnen, wie man handeln könnte oder wo weitere Informationen zugänglich sind. Die einzelnen vorgestellten Störungen stehen immer in einem gemeinsamen Zusammenhang:
6.2 Externalisierende Störungen
- ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung) (Svenja Deringer)
- Störungen des Sozialverhaltens (Janina Täschner)
- Gesteigerte Gewaltbereitschaft (Juliane Wagner)
- Deliquenz im Jugendalter (Juliane Weyh)
- Amoklauf (Anna Maria Engl)
6.3 Internalisierende Störungen
- Trennungsangst (Barbara Reichhart)
- Somatisierung (körperliche Beschwerden trotz Negativbefund beim Arzt) (Annette Tempfli)
- (Selektiver) Mutismus (Julia Eichmüller)
- Zwangsgedanken und Zwangshandlungen (Tobias Mirlach)
- Depressive Störungen bei Kindern und Jugendlichen (Miriam Majora)
- Manie (Felicitas Buder)
6.4 Süchte und selbstgefährdendes Verhalten
- Alkoholmissbrauch im Jugendalter (Jessica Heger)
- Illegaler Drogenmissbrauch bei Kindern und Jugendlichen in der Schule (Rafael W. Marks)
- Computerspielsucht (Nadja Eckl)
- Anorexia Nervosa (Magersucht) (Stephan Schickart)
- Bulimie (Ess-Brech-Sucht) (Juliane Lahner)
- Selbstverletzendes Verhalten (Daniela Robl)
- Suizidales Verhalten bei Kindern und Jugendlichen (Miriam Majora)
6.5 Leistungs- und schulspezifische Auffälligkeiten
- Prüfungsangst (Sonja Grözinger)
- Schulangst (Sonja Grözinger)
- Legasthenie und Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) (Jeanette Schröder, Monika Schwede)
- Dyskalkulie (Rechenstörung, Rechenschwäche) (Stefanie Brünsteiner)
- Hochbegabung (Nicolas Majora)
6.6 Zerrüttung des Umfelds
- Mobbing/Bullying (Miriam Schweiger, Patrick Kenzel)
- Elterliche Trennung/Scheidung (Melina Irlbacher)
- Tod eines Familienmitglieds (Michaela Völker)
- Verwahrlosung (Janina Täschner)
- Häusliche Gewalt gegen Kinder (Ann-Kathrin Huber)
- Sexuelle Gewalt (Alexandra Bednara)
6.7 Körperliche Beeinträchtigungen und Entwicklungsstörungen
- Hörschädigung (Severin Furtmayr)
- Sehbehinderung (Severin Furtmayr)
- Geistige Behinderung (Julian Frederic Stauß)
- Epilepsie (Julia Seeliger)
- Stottern und Stammeln (Nadine-Yasemin Harter)
- Tic-Störungen (Miriam Majora)
- Die Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) (Nicolas Majora)
6.8 Merkmale einer Persönlichkeitsstörung
- Borderline-Störung (Annemarie V. Rutkowski)
- Schizophrenie und Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis (Alexandra Bednara)
Zielgruppe
Das Buch richtet sich an Lehramtsanwärter/-innen sowie Lehrende.
Fazit
Der „Praxisleitfaden auffällige Schüler und Schülerinnen“ versucht eine Lücke in Ausbildung und Literatur zum guten Umgang mit Auffälligkeiten zu schließen mit dem Ziel, Lehrkräften den konstruktiven Umgang zu erleichtern. Die Autoren und Autorinnen hatten den Anspruch, wissenschaftlich gut fundiertes und gleichzeitig im Schulalltag umsetzbares, praktisch erprobtes Überblickswissen darzubieten. Wer auf der Suche nach Literatur für einen guten Umgang mit Schülerinnen und Schülern ist, die Lehrenden auffallen, der kann hier fündig werden. Vor dem aktuellen Hintergrund der Inklusion ist dieses Buch eine Pflichtlektüre in jedem Lehrerzimmer.
Rezension von
Dr. Kirsten Oleimeulen
Psychologin – Familienberaterin, akkreditierte Psychologin für Gesundheitspsychologie und Prävention (BDP), systemische Familientherapeutin und Supervisorin, online-Beraterin
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