Lothar Böhnisch: Bleibende Entwürfe (Geschichte Sozialpädagogik)
Rezensiert von Prof. Dr. Carola Kuhlmann, 22.04.2015
Lothar Böhnisch: Bleibende Entwürfe. Impulse aus der Geschichte des sozialpädagogischen Denkens. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2014. 224 Seiten. ISBN 978-3-7799-2373-2. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 27,90 sFr.
Thema
In dem Buch "Bleibende Entwürfe" geht es um die Vorstellung historischer Theorieansätze insbesondere der 1920er und 30er Jahre, die Lothar Böhnisch als Impulse für heutige Debatten würdigen möchte. Unter anderem aus sozialpolitischen, sozialwissenschaftlichen, geschlechtertheoretischen und individualpädagogischen Ansätzen arbeitet er bewältigungstheoretische Dimensionen und Perspektiven heraus.
Autor
Lothar Böhnisch war bis 2009 Professor für Sozialpädagogik und Sozialisation der Lebensalter an der Technischen Universität Dresden und lehrte danach (und lehrt bis heute) als Professor an der Freien Universität Bozen an der bildungswissenschaftlichen Fakultät. Böhnisch hat sich in seiner wissenschaftlichen Laufbahn mit Fragen von Generation und Geschlecht, mit abweichendem Verhalten sowie insbesondere mit dem Problem der Lebensbewältigung als einem zentralen Ansatzpunkt Sozialer Arbeit beschäftigt.
Entstehungshintergrund
Böhnisch berichtet einleitend von Erfahrungen mit Studierenden, die alles Vergangene schnell als zu recht Vergessenes behandelten und daher kaum ein historischen Bewusstsein hätten. Daher sah er die Notwendigkeit, systematisch heutige Herausforderungen auf bereits in der Geschichte diskutierte oder andiskutierte Probleme zu beziehen. Er möchte deutlich machen, dass es sozusagen "klassische" Widersprüche in der Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit gibt. Dabei möchte er keine Geschichte der Sozialen Arbeit vorlegen, die sei bereits gut geschrieben. Vielmehr geht es ihm darum, Personen zu würdigen, die "für ein erweitertes sozialpädagogisches Denken" (S. 13) stehen und die Modelle entwickelten, weil sie in einer "unübersichtlichen Umbruchphase" Orientierung suchten. Diese Theoriediskurse seien nicht nur durch den Nationalsozialismus unterbrochen, sondern auch später durch die "handlungswissenschaftliche Engführung" im Professionalisierungsprozess nicht ausführlich genug rezipiert worden. Ihr "epochales Potential" sei bisher nicht hinreichend genutzt (S.11). Diese Theorien könnten aber gerade in unserer heutigen "Umbruchsituation", verursacht durch einen sozial immer destruktiver wirkenden globalen Kapitalismus, gute Anregungen bieten. In Anlehnung an Karl Mannheims Methode der historisch-soziologischen Analyse von epochalen Strukturelementen sieht Böhnisch insbesondere im Zusammenhang von gesellschaftlicher "Eingrenzung, Freisetzung, Bewältigung und Integration" wichtige und konflikthafte Themen, die gestern wie heute reflektiert werden müss(t)en (S. 19). Sie setzen die Soziale Arbeit in Spannung zur Sozialpolitik, binden sie ein in Strukturen geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung und konsumgesellschaftlicher Sozialisation, zwingen sie in Position zu Fragen von Normalität, Abweichung, Hilfe und Kontrolle.
Aufbau
Das Buch beschreibt nach einem einleitenden Kapitel über Mannheims Methode in 15 Kapiteln jeweils Themen, denen mindestens zwei, höchstens sieben Theoretiker_innen im Untertitel zugeordnet werden und die jeweils sehr lang zitiert werden. Dabei kommen manche Personen mehrmals vor (z.B. Mennicke, Nohl, Salomon, Mollenhauer, Adler, Rühle-Gerstel). Neben bekannten Personen finden sich auch bislang wenig diskutierte Personen wie Franzen-Hellersberg, Busse-Wilson oder Schaidnagel.
Die Themen reichen von der "sozialpädagogischen Verlegenheit der industriekapitalistischen Modern" (Mennicke) über "Konflikt als sozialpädagogische Grundkategorie" (Heimann, Mollenhauer) und "Männerbilder – der „bedürftige“ Mann" (Gurlitt, Blüher, Rühle, Jahoda, Schaidnagel) zu "Sozialarbeit als Beruf" (Mennicke, Nohl, Bez-Mennicke - seltsamerweise nicht Salomon …). Nach einer Vorstellung der "historischen Stellungsnahmen" (S. 128) folgt jeweils ein Abschnitt, den Böhnisch "Impuls" nennt und in dem er versucht, die Aktualität und Relevanz der Thesen nachzuzeichnen.
Im abschließenden Kapitel wird noch einmal Mannheims Idee von den epochalen Strukturelementen in Bezug auf zukünftige Herausforderungen von Sozialarbeit und Sozialpädagogik diskutiert.
Inhalt
In den im Buch vorgestellten Themen spiegeln sich in der vorgestellten Diskursgeschichte die bisherigen wissenschaftlichen Schwerpunkte des Autors. Es geht um Veränderungen der Arbeits- und Konsumwelt, Sozialpolitik, Geschlecht, abweichendes Verhalten und Lebensbewältigung. Folgt man dem roten Faden des Buches, so erkennt man eine Bewegung von der Diskussion um gesellschaftliche Verursachung und Strukturierung sozialer Probleme (und Sozialer Arbeit als "gesellschaftlicher Reaktion" darauf) hin zu der subjektiven Seite, die er mit Alfred Adler als "Bewältigungsprobleme" von Menschen aus benachteiligten Milieus beschreibt, die besondere Minderwertigkeitserfahrungen kompensieren müssen. Nach Böhnisch umfasst die Theorie von Sozialarbeit/Sozialpädagogik immer "den Gesamtzusammenhang der kritischen Spannung zwischen sozialer Integration/Desintegration und Bewältigung" (S. 38) und muss daher stets deren gesellschaftliche Verursachung im Hinterkopf behalten. Mit Heimann geht er davon aus, dass Sozialpolitik "Abbau der Herrschaft zugunsten der Beherrschten "und ein "Gegenprinzip zur Kapitalherrschaft" (Heimann, S. 40) darstellt. Und mit Mollenhauer geht er davon aus, dass eben diese Kapitalherrschaft durch Sozialpolitik nicht aufgehoben wird und zudem Einfluss auf Erziehungsprozesse nimmt. Daher sei der Konflikt und seine Bewältigung pädagogisch nicht nur notwendig, sondern auch wertvoll, da hier gelernt wird, angemessen, d.h. ohne Gewalt – mit Ambivalenzen umzugehen (S. 43).
Böhnisch fordert, das Soziale dialektisch zu denken, d. h. einerseits den Konflikt zwischen "biographischer Komplexität und technologischer Verfahrenslinearität" anzuerkennen, andererseits anzuerkennen, dass das "antisoziale und selbstdestruktive Verhalten der KlientInnen" für diese eine "subjektiv positive Funktion als letztes verfügbares Mittel der Erlangung von Selbstwert und Selbstwirksamkeit" hat (S. 47). Dabei sind heute die sozialen Konflikte – so Böhnisch - "konsumtiv verdeckt" (S. 48): "Es gibt nur noch Konsumniveaus und keine Klassenunterschiede mehr, heißt die soziale Botschaft, die suggeriert wird." (S. 49)
Böhnisch verteidigt den Begriff der Integration gegen die seiner Ansicht nach linearen und "eindimensionale(n) Konzepte wie Exklusion/Inklusion" (S. 54), da er den dialektischen Prozesscharakter im ersten Begriff eher gewahrt sieht. Arme sieht er nicht als "Ausgegrenzte", dies sei irreführend. Vielmehr seien sie mehr als andere den gesellschaftlichen Zwängen ausgeliefert (S. 57). KlientInnen der Sozialen Arbeit seien in die "Zone der Desintegration" gerutscht, suchten aber nach Normalität. Hier müsste Soziale Arbeit "Übergangsmilieus" im Rahmen von Gruppenarbeit, bzw. Gemeinschaftserziehung anbieten (S. 59).
In einem anderen Kapitel thematisiert Böhnisch die Soziale Arbeit als eingebunden in einen latenten Geschlechterdualismus, was Folgen für die gesellschaftliche Position dieses Arbeitsfeldes bis heute habe. Ich fasse das mal so zusammen: Man kann nicht über Soziale Arbeit reden und über Geschlecht schweigen – obwohl viele dies tun. Weder wissenschaftlich, noch in der Alltagspraxis sei es möglich, Geschlecht zu neutralisieren: "Die Nicht-Thematisierung der Abwertung des reproduktiven Tätigkeitskerns steht … weiter in Spannung zu der angenommenen Aufwertung der Sozialen Arbeit infolge der Akademisierung und funktionsrationalen Begründung. Insofern existieren auch zwei professionssoziologische Welten nebeneinander: Eine männliche Welt, die geschlechtsneutral Sozialarbeit als Rationalitätsmodell intermediären Handelns beansprucht und eine weibliche Wissenschaftswelt, die den Abwertungstrend der sozialpädagogischen Profession im Banne der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung skandalisiert." (S. 69)
Der gegenwärtige "sozialtechnologische Methodenwandel" laufe Gefahr, "Gefühls- und Beziehungsaspekte, ja das Sorgen überhaupt, auszugrenzen" (S. 70). Sorge- und Pflegehaltungen gelten zwar diffus als notwendig, "sind aber nicht verhandelbar". Der Traum eines sozialrevolutionären Wandels, wie ihn Salomon träumte, scheint heute – so Böhnisch - ausgeträumt, da Sorge eine Ware geworden sein (S. 71). Fachpolitisch fordert er eine Aufwertung der sorgenden Tätigkeit, insbesondere auch von der "sozialmanageriellen und betriebswirtschaftlichen" Seite der Sozialen Arbeit (S. 74).
Im weiteren Verlauf des Buches nimmt Böhnisch wiederholt die Geschlechterfrage auf, u.a. wenn es um Geschlechtsidentitäten von Sozialarbeiterinnen und Klientinnen geht, die oftmals sehr verschieden sind. Hier plädiert er für die Anerkennung klassischer Geschlechterrollen als Bewältigungsmuster – auch im Bereich der Sexualpädagogik ( S. 162ff.).
Einen anderen Schwerpunkt des Buches stellt die Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen Adlers und der Fort- und Umsetzung seiner Gedanken im Wien der 1920er Jahre dar (Rühle-Gerstel, Lazarsfeld, Wronsky, Kornfeld). Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen werden in dieser Tradition als Folge einer "tiefendynamische(n) Spannung zwischen endogenem Entwicklungs- und Behauptungsvermögen und sozial ausgelöstem Bewältigungsdruck" gelesen (S. 76). Von daher reicht auch keine materielle Besserstellung allein, vielmehr bekommt Soziale Arbeit therapeutische Dimensionen im individualpsychologischem Sinne einer ermutigenden und "milieubildenden" (Lazarsfeld) Gemeinschaftserziehung. Denn ein Aufwachsen in Armut hat immer wieder besondere Minderwertigkeitserfahrungen zur Folge, besondere "Milieu-Hypotheken" (S. 103), denen von Seiten der Sozialen Arbeit offene Milieus, Räume, Beziehungen und Projekte einer "Anerkennungskultur" (S. 117) entgegen zu setzen sind. Im weiteren Verlauf des Buches greift Böhnisch den Diskurs um abweichendes Verhalten u.a. mit Bezug auf Aichhorn noch einmal auf. Er plädiert für eine Grenzsetzung in der Erziehung jenseits von Strafen sowie für eine erhöhte Selbstreflexivität in Bezug auf Machtausübung. Wo Bindungs- und Empathiefähigkeit zerstört seien, bräuchten Kinder und Jugendliche ein therapeutisches Milieu, einen "Schonraum", in dem neue "Selbstwertbezüge und Bindungswünsche" aufgebaut werden können. (S. 181). Eine auf Bindung beruhende Autorität sei notwendig. Leider werde sie heute zugunsten einer "diskursiven" Autorität vernachlässigt, was – so Böhnisch – aber oft zu Überforderungssituationen bei Jugendlichen führe, die Aushandlungsprozesse häufig nicht aushalten könnten (S. 183).
Böhnisch zitiert dann noch verschiedene historische Quellen, in denen auffällige Jugendliche um 1920 in ihren psychischen Problemen bereits s. E. treffend beschrieben wurden. Abschließend plädiert er noch einmal für eine Sozialpolitik, die "von unten" aufgeladen sein soll, indem sie die Bewältigungsprobleme der ausgegrenzten Menschen ernst nimmt. (S. 202). Neue Gefahren drohten durch die "digitale Verselbständigung des Finanzkapitals", welche nicht nur negativ auf sozialstaatliche Errungenschaften, sondern auch auf Fachlichkeit und disziplinäre Legitimation wirke (S. 205f.). Gerade neuere evidenzbasierte Strategien der Sozialen Arbeit zielten – so Böhnisch mit Bovin/Rosenstein – "eher auf regulierungs- und marktorientierte Integration …, denn auf die sozialen Verwirklichungschancen der Betroffenen" (S. 208).
Diskussion und Fazit
Insbesondere ist zu würdigen, dass Böhnisch sich in seinen historischen Impulsen sehr ausführlich der Geschlechterthematik annimmt, die tatsächlich sehr viele Bereiche der Sozialen Arbeit bis heute bestimmen, auch wenn dies oft verdeckt geschieht. Von männlicher Seite gibt es keinen mir bekannten Autoren, der sich so intensiv mit der Literatur aus und zu der ersten und zweiten deutschen Frauenbewegung auseinandersetzt und wesentliche Erkenntnisse daraus auch vertritt. Darüber hinausgehend denkt er auch über Männlichkeit in den Rollen der Sozialarbeiter und der Klienten nach. Böhnisch vertritt feministische Positionen und begründet überzeugend die Relevanz dieser Position für heutige sozialpolitische Herausforderungen.
Auch sein Anliegen, dass man theoretisch das Rad der Erkenntnis in der Sozialen Arbeit nicht immer neu erfinden muss und sich auch nicht mit unterkomplexen Theorien zufrieden geben muss, ist positiv hervorzuheben. Dabei deckt Böhnisch auch verschiedene Arbeitsfelder und die dazu gehörigen Theoriebezüge ab. Und er fängt gut das Spannungsfeld der gesellschaftlichen Problemverursachung und der trotzdem notwendigen individuellen Hilfe zur Bewältigung ein (Individualpsychologie).
Immer wieder wirbt er dabei auch für den eigenen Bewältigungsansatz, indem er aus den historischen "Entwürfen" die Nähe zu diesem Ansatz herausstellt. Er bemüht sich, der Bewältigungstheorie sozusagen auch einen historischen Ort zu verschaffen. Dabei wird auch deutlich, wie es ihm mit diesem Bewältigungsansatz gelingt, den lebensweltorientierten Ansatz von Thiersch auf konkrete Praxisfelder hin zu präzisieren. Er tut dies, indem er die konflikthafte Dialektik von Hilfeprozessen beschreibt, insbesondere gelingt dies, wenn im Hintergrund die cliquenorientierte Arbeit mit „abweichenden“ Jugendlichen als Praxisfeld aufscheint.
Kleinere Kritikpunkte seien an dieser Stelle an seiner Darstellungsmethode erlaubt: Böhnisch greift in der Menge vieles Einzelne heraus und tut dies mit sehr langen Zitaten und wenig hinleitenden Informationen. So muss man die im Hintergrund stehenden Theorien bzw. Personen schon genau kennen, um nachvollziehen zu können, was die zitierten AutorInnen genau meinen. An wenigen Stellen sind Zitate auch so aus dem Zusammenhang gelöst, dass es schwer fällt, die Gedankengänge in Gänze nachzuvollziehen (z.B. S. 140). Auch die Systematik der einzelnen Abschnitte erschließt sich nicht ganz (Geschlechter- und Erziehungsthemen gehen durcheinander).
Diese Kritik schmälert aber nicht den Wert des Buches als Anregung zur Diskussion aktueller Probleme im historischen Horizont oftmals vergessener Theorien, insbesondere in Bezug auf die Themen Geschlecht, abweichendes Verhalten, Integration und sozialpolitischer Verortung. Ein Buch, das man mit Gewinn lesen kann.
Rezension von
Prof. Dr. Carola Kuhlmann
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Zitiervorschlag
Carola Kuhlmann. Rezension vom 22.04.2015 zu:
Lothar Böhnisch: Bleibende Entwürfe. Impulse aus der Geschichte des sozialpädagogischen Denkens. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2014.
ISBN 978-3-7799-2373-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18131.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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