Agentur für Erwachsenen- und Weiterbildung (Hrsg.): Bildungsberatung - Orientierung, Offenheit, Qualität
Rezensiert von Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker, 05.06.2015

Agentur für Erwachsenen- und Weiterbildung (Hrsg.): Bildungsberatung - Orientierung, Offenheit, Qualität. Die niedersächsischen Modellprojekte. W. Bertelsmann Verlag GmbH & Co. KG (Bielefeld) 2013. 169 Seiten. ISBN 978-3-7639-5319-6. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 35,50 sFr.
Thema
Der Titel des Buches spiegelt auch die Programmatik wider: Die Beiträge widmen sich der konzeptionellen Klärung der Beratung im Kontext von Bildung, Beruf und Beschäftigung, einer theoretischen Klärung von Beratung im Lebenslauf, dem flächendeckenden Aufbau eines Netzwerks unter der Prämisse der Offenheit und größtmöglichen Erreichbarkeit für alle, der Qualitätssicherung auf institutioneller und personeller Ebene sowie des Nachweises der Wirkung.
Herausgeberin
Die Agentur für Erwachsenen- und Weiterbildung in Hannover ist die vom Land Niedersachsen mit der Novellierung des Niedersächsischen Erwachsenenbildungsgesetz 2004 geschaffene Dienstleistungs- und Anlaufstelle für die anerkannten und öffentlich geförderten Einrichtungen der Erwachsenenbildung. Sie hat vom niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur den Auftrag erhalten, „die Steuerung, Begleitung und Qualitätsentwicklung der Modellstandorte zur Bildungsberatung zu übernehmen“ (S. 11) und dokumentiert die von 2009 bis 2013 erzielten Resultate. Prof. Dr. Dirk Lange, der ehemalige Direktor der Agentur und Universitätsprofessor für Didaktik der politischen Bildung an der Universität Hannover übernahm das Vorwort. Christine Etz, projektleitende Mitarbeiterin der Servicestelle verfasste die Einführung, in der sie die Begleitung des mit zwei Millionen geförderten Projekts durch die Agentur für Erwachsenen- und Weiterbildung skizziert. Schließlich stellt die Niedersächsische Ministerin für Wissenschaft und Kultur, Dr. Gabriele Heinen-Kljajic dem Band ein Geleitwort voran, der die Zusage des Landes Niedersachsens beinhaltet, den Weg der Bildungsberatung konsequent weiterzugehen.
Entstehungshintergrund
Dieses Buch erscheint als Band 2 der Reihe „Aktuelles aus Erwachsenen- und Weiterbildung“ des wbv. Der modellhafte Aufbau von Beratungsstellen für Bildung, Beruf und Beschäftigung konnte an die noch vorhandenen Netzwerke aus dem abgeschlossenen Bundesprogramm „Lernende Regionen“ sowie an die während der Förderphase existierenden Programme „Lernen vor Ort“ und „Bildungsprämie“ strukturell anknüpfen und die trägerübergreifende Bildungsberatung in das landesspezifische Setting sowie die regionalen Ausprägungen einpassen. Das Ziel des Projekts des niedersächsischen Ministeriums bestand darin, die Zielgruppen für Bildungsberatung zu identifizieren und deren Bildungsverhalten zu eruieren, um die Daten für eine passgenaue Angebotsentwicklung nutzen zu können.
Aufbau
Nach Vorwort, Geleitwort und Einführung ist der Band in sechs Kapitel gegliedert. Die Abkürzungen und ein Autorenverzeichnis runden das Buch ab.
Ein systematischer Beitrag zur Orientierungsberatung ist der Evaluation der Projekte vorangestellt. Im anschließenden Kapitel stellen sich die acht Modellberatungsstellen in Niedersachsen mit ihrer jeweiligen Ausstattung, den Schwerpunkten und der Besucherfrequenz vor. Wie ein Qualitätsrahmen für die Bildungsberatung aussehen könnte, wird im folgenden Kapitel skizziert, bevor ein weiterer theoretisch-systematischer Beitrag zur Beratung im Lebensverlauf folgt. Welche Standards in der Beratung für Bildung, Beruf und Beschäftigung gesetzt werden können und wie sich professionelle Verbände dabei positionieren, wird im letzten Kapitel quasi als Ausblick auf die Weiterführung thematisiert.
Inhalt
Wiltrud Gieseke, Seniorprofessorin an der Humboldt-Universität zu Berlin überschreibt ihren Beitrag (S. 15-35) mit „Orientierungsberatung“ und deutet damit an, dass „Orientierung geben“ disziplin- und aufgabenspezifisch besonders sein kann und in jedem Fall auf die Mitwirkung der zu Beratenden angewiesen ist, um zum Orientiert-Sein zu führen. Dazu untersucht die Verfasserin zunächst den Orientierungsbegriff generell, danach im Kontext von Beratungstexten und definiert ihn in einem weiterem Abschnitt als „Anspruch, einen Überblick herzustellen“ (S. 21). Ein von ihr entwickeltes integratives Modell einer Orientierungsberatung stellt sie kurz vor. Wiltrud Gieseke greift zur theoretischen Grundlegung die „Philosophie der Orientierung“ von Werner Stegmaier auf und leitet daraus 15 Prämissen für die Beratungs- und Emotionsforschung ab. Neben empirischen Befunden, die wichtige Erkenntnisse für den Einstieg in die Orientierungsberatung liefern, formuliert die Verfasserin zwei Zielperspektiven für die Orientierungsphase im Beratungsverlauf: a) Anschlussfähigkeit und Übersicht herstellen (S. 31) und b) Arbeit im Modus situativer und biografischer Beratung (S. 32). Besonders wesentlich ist es für die Autorin zu betonen, dass trotz aller Anpassungserfordernisse an Arbeitsmarkt und Beschäftigungssituation das Subjekt nicht verloren gehen dürfe.
Sabine Seidel, Abteilungsleiterin des Instituts für Entwicklungsplanung und Strukturforschung (IES) stellt die wichtigsten Ergebnisse der quantitativen Befragung der Ratsuchenden in den Projekten zur Bildungsberatung (S. 37-55) vor. Die soziodemografischen Merkmale ergaben, dass Frauen zweimal so häufig wie Männer die Beratung in Anspruch nehmen, die Gruppe der älteren Personen ab 50 weniger erreicht wurden, Ratsuchende mit Migrationshintergrund und ohne allgemeinbildenden Schulabschluss dem Bevölkerungsanteil gemäß erreicht wurden und mehr als die Hälfte der Beratenen zum Zeitpunkt der Beratung arbeitete. Die Beratungsanliegen konzentrieren sich auf berufliche Weiterbildung, berufliche Orientierung und finanzielle Förderung. Die persönliche Beratung spielte eine herausragende Rolle gegenüber anderen Beratungsformen; die meisten Gespräche dauerten ca. eine Stunde oder weniger. Kollegen bzw. der eigene Familien- und Bekanntenkreis, Werbung und Internet, Bildungseinrichtungen und Jobcenter führten die Ratsuchenden zu den Beratungsstellen; die Weiterleitung zu anderen Bildungseinrichtungen hatte neben der Arbeitsagentur / dem Jobcenter die größte Bedeutung. Im Durchschnitt waren die 34 %, welche den Fragebogen ausfüllten, sehr zufrieden.
Kapitel 3 (S. 59-106) enthält eine steckbriefähnliche Beschreibung der am Modellvorhaben beteiligten Bildungsberatungsstellen. Jede Modelleinrichtung hat Angaben zur Beratungsstelle, zum Angebot, zu den Kompetenzprofilen der Berater/innen, zu den Besonderheiten, zum Standort, zu den Räumlichkeiten, zur Zielgruppe, zum Netzwerk, zu den Entwicklungen und zur Perspektive verschriftlicht. In das Projekt involviert waren die Bildungsberatungsstelle Südniedersachsen in Göttingen, die Bildungsberatung BELOS in den Landkreisen Emsland und Ostfriesland, das Bildungsberatungsnetz der Region Braunschweig, die Bildungsberatung Cloppenburg, das Verbundprojekt Bildungsberatung Vhs Heidekreis gGmbH und vhs Stade e.V., die Bildungsberatungsstellen „Gewusst wo – Gewusst wie“ der vhs Oldenburg und der vhs Wilhelmshaven, die Bildungsberatung Weserbergland und die Weiterbildungsberatung Hannover.
Damit der Aufbau und die Arbeit der zu errichtenden neutralen Beratungsstellen einheitlich stattfinden können, legte das niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur von Beginn an Bedingungen für die Qualitätsentwicklung und -sicherung fest. Beauftragt wurde die k.o.s GmbH, für die deren Geschäftsführer Frank Schröder den Qualitätsrahmen und die Standards für die Bildungsberatung schildert (S. 107-125). Auf der Grundlage der Erfahrungen mit einem für die Berliner Beratungsstellen entwickelten prozessorientierten Modells, welches nach den LQW (Lernerorientierte Qualitätstestierung in der Weiterbildung)-Kriterien erstellt wurde, definiert die Beratungsstelle ihr Leitbild und Qualitätsziele nach dem zur Verfügung gestellten Qualitätskonzept. Um die Beratungsziele überprüfbar zu machen, werden für die Kunden/-innen Indikatoren erstellt, anhand derer die Ziele gemessen werden. Im Beitrag wird der Anforderungskatalog des „Qualitätsrahmen niedersächsischer Bildungsberatung“ vorgestellt und die Formen der Unterstützung mit Angeboten und Materialien durch die k.o.s GmbH für die Einführungsphase (Workshop, Fachtagung), die Bearbeitungsphase (Netzwerke aufbauen und pflegen, Abläufe und Schnittstellen im Beratungsprozess, Methoden und Instrumente im Beratungsprozess, Instrumente zum Qualitätsrahmen) und die Reflexionsphase (Qualitätsaudits, Qualitätsauditberichte) werden nacheinander beschrieben. Der Autor zieht eine positive erste Bilanz hinsichtlich der Implementierung eines Qualitätsrahmens, nennt aber auch die Aufgabe einer weiteren Profilschärfung der Beratung und fordert von der Landespolitik strukturelle und fachliche Verbindlichkeit, um den begonnenen Aufbau von unabhängigen Bildungsberatungsstellen fortzuführen.
Eine „Theorie der Beratung im Lebenslauf“ gibt es (noch) nicht; einige Grundelemente zu entwerfen, das nimmt sich Clinton Enoch, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Berufspädagogik und Erwachsenenbildung der Leibniz Universität Hannover, vor (S. 127-144). An den Anfang stellt der Autor einige Klärungen, die im Wesentlichen darin bestehen, zu differenzieren, dass Beratung aus feldabhängigen und feldunabhängigen Elementen bestehen, erziehungswissenschaftliche und beratungspraktische Ebene getrennt betrachtet werden müssen und Beratung in den Handlungskontexten unterschiedlich „didaktisiert“ wird. Clinton Enoch stellt drei Ansätze einer „pädagogischen Beratung“ vor: den Ansatz von Klaus Mollenhauer aus dem Jahr 1965, den Ansatz von Christina Krause aus dem Jahr 2003 und den Ansatz von Wiltrud Gieseke/Karin Opelt zur „Beratung im Lebenslauf“ aus dem Jahr 2004. Daraus extrahiert der Verfasser die „Grundelemente“, die er forschungsbezogen in die Mikroebene (Verhältnis Klient und Berater/-in), in die Mesoebene (organisatorische und institutionelle Faktoren) und in die Makroebene (Legitimationsbasis, gesellschaftliche Rahmenbedingungen) unterteilt. In „den Bildungswissenschaften und im Bereich der Erwachsenenbildung/Weiterbildung“ habe sich „der Lebenslaufbezug“ (S. 138) nach Auffassung des Verfassers zu einem Paradigma entwickelt. Clinton Enoch begründet sein „Analyseprogramm einer Theorie der Beratung im Lebenslauf“ (S. 139) quer zu den Ansätzen von Beratung, die der Psychologie, Soziologie oder Pädagogik verhaftet sind und etabliert eine bildungswissenschaftlich fundierte theoretische Relevanzstruktur, die den Gegenstand „Beratung“ bestimmt. Dabei ist ihm der Begriff des Formats ein Hilfskonstrukt, denn die Beratung könne verschiedene „Formate“ annehmen, bleibe aber Beratung. Mit kritischem Blick auf die Standardisierung formuliert er, dass Beratung immer auch ein „Ort zur Hinterfragung einer allgegenwärtigen Selbstoptimierung“ (S. 142) bleiben müsse.
Karen Schober, Vorsitzende des Nationalen Forums Beratung in Bildung, Beruf und Beschäftigung e.V. (nfb), analysiert die Strukturen der Beratung in Bildung, Beruf und Beschäftigung in Deutschland (S. 145-165) und richtet danach den Blick auf internationale Entwicklungen, wohl wissend, dass „sachkundige und professionelle Beratung (…) immer mehr zum entscheidenden Erfolgsfaktor für gelingende Bildungs- und Erwerbsbiografien“ (S. 145) wird und die Übergänge zwischen den Lebensbereichen markiert. Dem Modellvorhaben misst sie in der Beratungslandschaft der Strukturen und Angebote (S. 149) eine wichtige Position zu. Hinsichtlich der Kohärenz und der Transparenz des Beratungssystems moniert sie, dass es an einer „politischen Gesamtstrategie von Bund und Ländern“ (S. 150) fehle. Im Vergleich zu zahlreichen Standards und den Qualitätstestierungsverfahren, die es in Deutschland gibt (S. 155f), sind die internationalen Verbände der Beratungswissenschaft und der Beratungspraxis als Berufsverbände mächtiger in der Durchsetzung von professionellen Standards, sie stehen aber ebenso unter dem Druck des Wirksamkeitsnachweises. Am Beispiel eines Verbundprojekts zwischen nfb und Universität Heidelberg zeigt Karen Schober den „offenen Koordinierungsprozess“ (S. 159) als Arbeitsmethode auf, wie Akteure auf freiwilliger Basis in die Erarbeitung von Qualitätsmerkmalen eingebunden werden und von unten nach oben in vielen Aushandlungs- und Verständigungsprozessen zu verbindlichen Qualitätsstandards gelangen. An den Schluss ihrer Ausführungen stellt sie professionstheoretische Überlegungen für die Bildungs- und Berufsberatung.
Diskussion
Das Buch ist zum einen ein interessantes Resümee eines Anschubförderprogramms einer Landesregierung, die Bildungsberatung „als unverzichtbaren Bestandteil des Lebenslangen Lernens“ bezeichnet und diese weiterhin jährlich fördert. Insofern lässt es alle beteiligten Akteure entsprechend zu Wort und zur Selbstdarstellung kommen. Zum anderen ist der Band selbst Teil der Evaluation des Programms und beinhaltet wesentliche Aspekte der Wirkung der Investition, d.h. der entstandenen Beratungsstellen und deren Netzwerke, des Qualitätsrahmens für die Bildungsberatung und der konzeptionellen Überlegungen. Im Anschluss an die Lektüre tauchen bei der Rezensentin Fragen zur Nachhaltigkeit auf. Laut Internetauftritt gibt es sie noch, die Beratungsstellen, aber wo bleibt der weitere Ausbau in Niedersachsen, der länderübergreifende Transfer eines erfolgreichen Modells? Wie werden die erhobenen Daten fortgeschrieben, um dem Ziel einer nachfrage- und bedarfsorientierten Angebotsgestaltung zu entsprechen oder welche Angebote sind bereits entstanden? Diese Fragen zu beantworten ist nicht Aufgabe der Herausgeberin, ihre Aufgabe ist anders bestimmt. Die wissenschaftlich-theoretischen Beiträge sind in keinen finanziellen Kostenrahmen einzuordnen und können so von der Autorin / dem Autor fortgeschrieben werden. Dagegen ist der Auftrag der übrigen Beteiligten abgeschlossen; es ist zu wünschen, dass der Prozess der Implementierung einer trägerunabhängigen Bildungsberatung und deren Qualitätssicherung damit nicht ins Stocken geraten. Dem viel erwähnten anhaltenden Beratungsbedarf in allen Feldern – dem Lebenslauf folgend – und den Personen, die ihn generieren, wäre eine Fortsetzung zu wünschen.
Fazit
Bildungsberatung bleibt in der Beschreibung häufig eher allgemein; dies ist in diesem Band absolut nicht der Fall. Die systematischen theoretischen Ausführungen sind sehr gut strukturiert, mit Schaubildern versehen und in der Darstellung anschaulich und verständlich. Insbesondere beider – der Autorin und des Autors – kritischer Blick auf die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik und ihre Anforderungen an die Subjekte, sind positiv hervorzuheben. Die Berichte der Beratungsstellen geben einen Einblick in die „verbesonderte“ Umsetzung der Bildungsberatung je nach lokalen und regionalen Gegebenheiten. Geleitet durch ein vereinheitlichendes System bleibt genug Freiraum für die Umsetzung, die in den Beiträgen auch zu spüren ist. Sehr aufschlussreich sind – neben den Ergebnissen der quantitativen Auswertung der Beratungsstellentätigkeit – der Qualitätsrahmen für die Bildungsberatung, der Überblick über die Beratungsstruktur in Deutschland sowie die professionstheoretischen Überlegungen. An Beratung mit Affinität zur Bildungsberatung Interessierten wird der Band eine Menge an Erkenntnissen bieten.
Rezension von
Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker
Lehrgebiete Sozialmanagement und Bildungsarbeit an der Fakultät Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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