Jörg van Norden: Geschichte ist Zeit
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 22.01.2015

Jörg van Norden: Geschichte ist Zeit. Historisches Denken zwischen Kairos und Chronos - theoretisch, pragmatisch, empirisch. Lit Verlag (Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2014. 328 Seiten. ISBN 978-3-643-12760-0. 48,80 EUR.
Ist Zeit eine Größe an sich, oder eine Konstruktion von Wirklichkeit?
„Zeit bezeichnet das Nacheinander von Naturvorgängen, das subjektiv mit unserem Erleben verbunden ist und als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wahrgenommen wird“ (Martin Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, Kröner-Verlag, Stuttgart 2009, S. 782). Diese anthropologische Betrachtung basiert auf dem Bewusstsein des anthrôpos, des Menschen, dass chronos, Zeit, als die „Zahl der Bewegung im Hinblick auf das Früher(e) und das Später(e)“ zu verstehen ist und weder Anfang noch Ende hat (A. F. Koch, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S.107ff). Es ist also chronos als das unendliche der Zeit und kairos, der richtige Augenblick (H. Busche, a.a.o., S. 293f), der die Auseinandersetzung um Zeitbegriff und -bewusstsein bestimmt, vor allem dann, wenn es darauf ankommt, die menschliche Zeit in der Endlichkeit von Entstehen und Vergehen zu begreifen. Da sind wir schon bei der Frage, wie die Kompetenz erworben werden kann, „richtig“ mit der Zeit umzugehen, also bei mathêsis, beim Lernen, und bei didaskalikos, der Belehrung und Unterweisung (T. Wagner, a.a.o., S. 336f und 127), der Didaktik und Methodik des Lernens.
Es sind die objektiven, subjektiven, absoluten und relativen Zeitvorstellungen, wie sie sich seit Jahrtausenden in immer wieder neuen, philosophischen und menschengemachten, janusköpfigen Interpretationen entwickeln, die nach „den roten Faden im Dickicht des zeitphilosophischen Labyrinthes“ suchen und immer wieder bei dem Phänomen landen, dass das Fortschreiten der Zeit Grundlage des humanen und kosmischen Geistes ist (Nora Nebel, Ideen von der Zeit. Zeitvorstellungen aus kulturphilosophischer Perspektive, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12020.php).
Entstehungshintergrund und Autor
In der Geschichtsschreibung, wie in der Geschichtswissenschaft insgesamt geht es ja um die allgemeine wie intellektuelle, sprachliche und daseinsbewusste Vermittlung von historischen Ereignissen. Der anthrôpos, der Mensch, ist auf ein individuelles und gesellschaftliches Geschichtsbewusstsein angewiesen. Die existentiellen Fragen – „Wer bin ich?“, „Wo komme ich her?“, „Was soll ich tun?“, „Was darf ich hoffen?“, „Wo gehe ich hin?“ – sind nach dem anthropologischen Verständnis notwendige Wesenseinheiten, ohne die ein Mensch zwar vegetieren, aber nicht leben kann. Es ist ein Bewusstsein, das darauf aufbaut, dass ein historisches Ereignis wahrheitsgemäß und gewissermaßen als Ganzheit wahrgenommen wird und nicht, politisch, ideologisch oder weltanschaulich „gemacht“ wird. Dieses Dilemma reicht in der Historiographie hin bis zu Geschichtsverfälschungen und -verklitterungen. Es wird aktuell deutlich in der Suche nach einer „europäischen Identität“, einer „europäischen Dimension“ und einem „europäischen Bewusstsein“, wie dies bereits im Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 8. Juni 1978, „Europa im Unterricht“, und vom Europäischen Rat und der im Rat vereinigten Minister für das Bildungswesen am 24. Mai 1988 zum Ausdruck kommt – und sich in den bis heute nicht zufriedenstellenden Bemühungen zeigt, ein „Europäisches Geschichtsbuch“ zu konzipieren.
„Es geht … um die sinnstiftende, handlungsorientierte Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ (vgl. dazu auch: Jörn Rüsen, Hrsg., Perspektiven der Humanität. Menschsein im Diskurs der Disziplinen, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10385.php), wenn die Frage relevant wird, „was Zeit- und narrative Kompetenz ausmacht, und warum sie untrennbar miteinander verbunden sind“. Der Historiker Jörg van Norden vertritt an der Universität Bielefeld den Bereich Geschichtsdidaktik. Mit der Studie will er aufzeigen, welche Sozialisations- und Lernbedingungen notwendig sind, um ein Zeitbewusstsein zu entwickeln, zu leben und an die nachfolgenden Generationen weiter zu geben.
Aufbau und Inhalt
Die didaktischen Überlegungen gliedert van Norden in elf Kapitel: Im ersten geht es um die Reflexion von „Zeit als ontologische Größe“; im zweiten um den chronologischen Gang von „Nacheinander, Folge und Ereignis“; im dritten um die Aspekte von „Dauer und Wandel“; im vierten um die „temporale Trias“; im fünften um „anthropologische Konstanten“; im sechsten um die „Entwicklung des Zeitbewusstseins“; im siebten um „Zeit und Narration“; im achten wird festgestellt: „Geschichte ist Narration“; im neunten werden „Narration und Zeitkompetenz“ miteinander verglichen; im zehnten wird „Zeitkompetenz pragmatisch“ diskutiert; und im elften Kapitel wird „Zeit empirisch“ thematisiert. Im Anhang werden die Untersuchungsinstrumente und das Methodenpotential genannt.
Die im Titel erst einmal als eher selbstverständlich formulierte Feststellung: „Geschichte ist Zeit“, wird mit der Frage nach der ontologischen Größe der Zeit in der historischen Nachschau, den philosophischen, geistesgeschichtlichen und biologischen Konzepten und kausalen Zusammenhängen diskutiert. Es werden verschiedene didaktischen Zeitlineale, -leisten, Anschauungsmodelle von McTaggart und anderen vorgestellt und die gängigen Konstruktionen untersucht: „Im Wettstreit der Konstruktionen konkurriert das singulare Ereignis erstens mit der Wiederholung… (und) zweitens … mit der Folge, weil das Einzigartige sein Alleinstellungsmerkmal verliert, wenn es sich aus einer Ursache ableiten lässt“. Weil Zeiterleben und -erfahrung immer den Wandlungsprozess inkludiert, wird die Dialektik von Dauer und Wandel. Die zu klärenden Phänomene und Imponderabilien liegen auf der Hand, denn „wer den Wandel in den Vordergrund stellt, muss konsequenterweise begründen, warum es dauerhafte Strukturen gibt, wo sich doch alles unaufhörlich ändert“. Es ist die antike Erkenntnis – panta rhei, alles fließt – die unser anthropologisches Bewusstsein beeinflusst hat und mit dem Sprichwort: „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen“ vielfältige Erkenntnisprozesse alltagstauglich zum Ausdruck bringt. Um das Problem zu umgehen, dass sich die Zeit als irreal (McTaggart) ortet, ordnet van Norden die Zeiten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als „temporale Trias“, konstruiert Kohärenz und Konsistenz der Zeitkompetenz „mit der Bindung an narrative, empirische, normative und konsensuale Triftigkeit“. Inwieweit anthropologische Konstanten oder genetische Anlagen dazu beitragen können, ein ausdifferenziertes Zeitbewusstsein zu leben, untersucht der Autor im fünften Kapitel. Weil der Mensch nicht zeit- und tatenlos leben kann (vgl. zur Thematik in einer anderen Betrachtungsweise: Frank Henning, Oblomowerei – eine Vorstufe der Sucht?, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/18191.php), kommt es darauf an, das ungeklärte Verhältnis Mensch-Natur auf den Prüfstand zu stellen und die Formen von Gedächtnis-, Vergessens- und Erinnerungskulturen in den historischen und Jetzt-Zeit-Dimensionen zu erfassen (vgl. dazu auch: Jos Schnurer, Die Zukunft hat begonnen, 14.06.2013, www.socialnet.de/materialien/151.php). Wir sind endlich angekommen bei der Frage, wie sich Zeitbewusstsein entwickelt. Die im Historismusdiskurs kontrovers dargestellten Lebensphasen, in denen sich Zeitverständnis und Zeitkompetenz bilden, machen das Dilemma deutlich: Die postmodernen Entwicklungen von Beschleunigung und Entzeitlichung zeigen die Spannweite der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten auf, bis hin zur Ausblendung von Vergangenheit und Zukunft und dem Wahrnehmen von „nowness“ als Zeitverständnis, das situationsgebunden erlebt und narrativ gestiftet wird. Wenn sich also Zeit als handelnd und erzählend konstituiert, erhält Narration als „sinnstiftende Darstellung von Dauer und Wandel“ eine für die Geschichtsdidaktik relevante Bedeutung: „Im kommunikativen Prozess bildet sich idealiter ein Konsens heraus, das heißt, die Narration gewinnt eine gewisse konsensuale Triftigkeit, so dass sie nicht mehr beliebig ist“. Diese didaktische Prämisse gilt es zu beachten, wenn im Geschichtsunterricht Zeitkompetenz vermittelt werden soll. Der Autor fasst diese didaktische und methodische Fähigkeit in dem Merksatz zusammen: „Historisches Denken stiftet erweiterte Gegenwart, indem es das hier und jetzt aus dem, was war, in das, was sein wird und soll, verlängert“. Er verbindet die beiden Fertigkeiten Denken und Erzählen zu einem narrativen Strang und formuliert daraus gewissermaßen ein Lernziel: „Geschichtsbewusstsein heißt, Geschichten, die die eigene Biographie und Handlungsverläufe versprachlichen, zu kennen, weil man sich ihrer vergewissert oder sie anderen erzählt“. Diese theoretische Markierung lässt sich für den curricularen, didaktischen und methodischen Diskurs zur Geschichtsvermittlung und zum Geschichtsunterricht pragmatisch aufzeigen, etwa mit dem „Zeitlineal“, als der traditionellen Form der Veranschaulichung von Raum und Zeit, dem „Lernplakat“, das das Lernthema, die Lernschritte, -ziele und -ergebnisse plakatiert, die „Bilderreihe“, als chronologische und exemplarische Sichtungen, die „Geschichtserzählung“, als narrative Quelle, und das „Narrativieren“, als „sinnstiftende und triftige Verknüpfung zeitdifferenten Geschehens“. Der Autor fasst im Schlusskapitel „Zeit empirisch“ ausgewählte Studien und Forschungsergebnisse zur Thematik zusammen, z. B. für die Geschichtsvermittlung in der Primarstufe, zum „Zeitbewusstsein in Ostdeutschland“, um schließlich eine eigene Studie vorzustellen, die er als Unterrichtsversuch in einer Nordrhein-Westfälischen, siebten gymnasialen Klasse zum Thema „Französische Revolution“ durchgeführt hat. Das Vorhaben hatte zum Ziel, mit den in dem Buch vorgestellten und diskutierten Theorieansätzen und Lernmethoden zu evaluieren, „indem sie Kompetenzen graduiert und mit Hilfe von Kodierungsregeln operationalisiert“. Die ermittelten Ergebnisse, die der Autor in einer siebenstufigen Liste zusammenfasst, sollten für die Aus- und Fortbildung von Geschichtslehrerinnen und -lehrern herangezogen werden.
Fazit
Die in Theorie und Praxis aufgewiesenen Bedingungen und Faktoren, wie Geschichtskompetenz in ihrer alters-, anforderungs- und sachbezogenen Vielfalt vermittelt und wirksam werden kann, verdeutlichen die didaktischen Herausforderungen für Geschichtslernen. Weil die Didaktik der Geschichte theoretisch arbeitet, bedarf es der Erkenntnis: „Geschichtsbewusstsein und Zeitbewusstsein entsprechen sich wie zwei Seiten einer Medaille. Zeitkompetenz zeigt sich in narrativer Performanz. Erzählen zu können ist eine Schlüsselkompetenz“. Weil aber die Didaktik der Geschichte auch pragmatisch arbeitet, also Geschichte Zeit ist, kommt es darauf an sich bewusst zu machen, dass „Zeitkompetenz lebensdienlich ist“. Weil die Didaktik der Geschichte auch empirisch arbeitet, zeigt die Studie des Autors auch auf, dass es möglich ist, „Zeitkompetenz zu operationalisieren und im Vergleich mit kompositorischer Kompetenz und Wissen zu aussagekräftigen Ergebnissen zu kommen“.
Die im Titel als lapidar und wenig aussagekräftig erscheinende Aussage – „Geschichte ist Zeit“ – wird im Laufe des Diskurses zu Markierungs- und Kontrapunkten geschichtsdidaktischer Reflexion über die Bedeutung von Zeitbewusstsein und -kompetenz, Hier und Heute!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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