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Gunter Schmidt: Das neue Der Die Das

Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 09.01.2015

Cover Gunter Schmidt: Das neue Der Die Das ISBN 978-3-8379-2325-4

Gunter Schmidt: Das neue Der Die Das. über die Modernisierung des Sexuellen. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2014. 153 Seiten. ISBN 978-3-8379-2325-4. 16,90 EUR.

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Lesenswerte deutlich aktualisierte Neuauflage eines Standardwerks

Auch wer bereits die Bücher „Das große Der Die Das“ (1986) oder die erste Auflage von „Das neue Der Die Das“ (2004) von Gunter Schmidt kennt, sollte auch zur überarbeiteten Neuauflage greifen. Schmidt trägt in der vorliegenden Neuauflage (2014) von „Das neue Der Die Das“ aktuellen Entwicklungen Rechnung. Er hat dazu Kapitel nachhaltig überarbeitet und neue hinzugefügt.

Überblick über den Band und die Neuerungen

„Das neue Der Die Das“ stellte schon in der ersten Auflage zentral die Forschungsergebnisse der Hamburger Sexualitätsstudien mit generationenübergreifenden Stichproben vor. Dabei werden einerseits Wandlungen deutlich, die sich insbesondere in einem deutlichen Knick in den 1960er Jahren zeigen – seit den 1960ern sind etwa vorehelicher Sex und Masturbation bei Mädchen verbreiteter geworden. Eine weitere bedeutsame Veränderung ist, dass Sexualität nun für beide Partner_innen (bzw. alle Beteiligten) befriedigend sein soll. Gleichzeitig ergibt die Empirie in gewissem Maße Konstanz: Geschlechtsverkehr findet nach wie vor weitgehend in festen Beziehungen statt (auch wenn diese in zunehmendem Maße nicht mehr ehelich sind).

Auf Basis der empirischen Ergebnisse entwickelt Gunter Schmidt eine gut lesbare Erzählung der Geschichte der Sexualität und der Sexualwissenschaft. Entsprechend greifen auch in der Neuauflage die Kapitel, die empirische Daten vorstellen und diese theoretisch fassen, und eher grundlegende theoretische Kapitel ineinander. Der grundlegende erläuternde Charakter wird dabei verstärkt, weil die im Vergleich zur ersten Auflage neu hinzugefügten Abschnitte „Abschied vom Trieb“ und „Kindersexualität und sexuelle Entwicklung“ der letzteren Zuordnung entsprechen. Diese Kapitel sind aktuell nötig, gerade vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Debatten um Geschlechterforschung und Sexualpädagogik, in denen grundlegende Erkenntnisse zur Geschlechts- und Sexualentwicklung vergessen scheinen.

„Kindersexualität und sexuelle Entwicklung“

Schon vor diesem Hintergrund ist es gut, dass Schmidt „Kindersexualität und sexuelle Entwicklung“ als Abschnitt einfügt, die sexuellen Entwicklungskonzepte – das homologe und das heterologe – vorstellt und Kindersexualität von Erwachsenensexualität abgrenzt. Er führt aus:

„Die Vertreter des homologen Modells betonen strukturelle Ähnlichkeiten von Kinder- und Erwachsenensexualität, sehen vor allem quantitative Unterschiede, interessieren sich für die erwachsenentypischen, para-adulten Formen kindlicher Sexualität als Vorformen späterer Sexualität und erforschen entsprechend sexuelle Reaktionen (Erektion, Erregung, Orgasmus), sexuelle Verhaltensweisen (Masturbation, sexuelle Handlungen mit anderen) aber auch psychosexuelle Phänomene (Phantasie, sexuelle Attraktion) und soziosexuelle Aspekte (Verlieben, Schwärmen) von Kindern. […] Die Vertreter der heterologen Sicht, vor allem Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker, bestehen dagegen auf der Besonderheit und auf der strukturellen wie qualitativen Unterschiedlichkeit der infantilen Sexualität. Sie sei polymorph sinnlich, ziemlich unersättlich und durchlaufe quasi naturhaft vorgezeichnete Phasen von den oralen Lüsten (Hautkontakt, Reizung der Mundschleimhaut, Lutschen, Saugen, Verschlingen, Zerbeißen) über die analen Lüste (Reizung der Analschleimhaut, Maximierung des Gewinns aus Zurückhalten und Loslassen) bis zu den phallischen Lüsten genitaler Stimulation.“ (S. 61f) Schmidt schließt sich der von Sigmund Freud begründeten heterologen Sicht an. Er betont: „Kinder [haben] noch nicht die sexuellen Skripte und Bedeutungszuschreibungen der Erwachsenen […]. Das Manipulieren der Genitalien, selbst wenn es zu Erregung und Orgasmus führt, ist beim Kind immer etwas anderes als die Masturbation des Erwachsenen mit erotischen Fantasien, Szenen und Geschichten. Die heterologe Position hingegen kann man, Volkmar Sigusch paraphrasierend, so kennzeichnen: Das Kind begehrt, aber nicht wie der Erwachsene – und nicht den Erwachsenen“ (S. 65).

„Abschied vom Trieb“: Vom Trieb-Modell zur Ressourcenorientierung

Neben dem Kapitel zur (frühen) sexuellen Entwicklung hat Schmidt den Abschnitt „Abschied vom Trieb“ neu hinzugefügt. Darin führt er aus, dass sich mit der Liberalisierung auch das Verständnis der ‚Ursache‘ von Sexualität gewandelt habe. „Heute verstehen und erleben wir Sexualität nicht mehr als Trieb, der wie ein Kessel auf dem Feuer funktioniert, sondern als Ressource, als eine (biologisch vorgegebene) Möglichkeit für Lust-, Erlebnis- und Intimitätssuche. Uns spätmoderne Menschen treibt nicht so sehr die Frage um, wie man sexuelle Spannungen und Druck loswerden kann, um Ruhe zu finden, sondern was man alles mit der Sexualität anstellen kann. […] Das Ressourcenmodell bringt uns in einen suchenden, experimentierenden und erfinderischen Modus gegenüber der Sexualität.“ (S.37) Es geht damit um „das elaborierte Spiel mit Erregung, Reizen und Lust, das Genießen der Erregung.“ (S.39) Eine ähnliche Feststellung macht Jürgen Dannecker in einer Untersuchung zu Cybersex in schwulen Chat-Räumen: Für diese stellt er eine „Entkopplung der sexuellen Erregung von der sexuellen Befriedigung“ (Dannecker im Buch „Cybersex: Psychoanalytische Perspektiven“, hg. von Agatha Merk, 2014: S. 168) fest, „die sexuelle Erregung beim Chatten [ist] offenbar bedeutsamer als die in den Orgasmus mündende Masturbation“ (ebd.). Diese Sicht ist interessant und wäre genauer zu untersuchen, insbesondere darauf, ob es sich hierbei um ein neues Phänomen handelt oder ob sexualwissenschaftliche Theoriebildung bisher Fantasie und Suche nach Erregung zu Gunsten funktionalistischer Konzepte der Genitalien vernachlässigt hat. So wird auch in historischen, literarischen und weiteren künstlerischen Stücken vielfach der lustvolle Charakter geschlechtlichen und sexuellen Tuns hervorgehoben.

‚Sexualität‘ seit der europäischen Moderne

Hieran schließt eine weitere Neuerung – in dieser Deutlichkeit – im neu aufgelegten Buch von Schmidt an. So erläutert er, im dem Resümee vorangehenden zehnten Kapitel, die zunehmend sich verbreitende und in immer größerem Maße fundierte Erkenntnis, dass die Etablierung von ‚Sexualität‘ seit der europäischen Moderne eine definitorische und kategorische Einengung der geschlechtlichen und sexuellen Handlungsmöglichkeiten der Menschen darstellt. Wie stets eng an empirischem Material, zeigt Schmidt, dass und wie Menschen aktuell genötigt sind, sich entweder als heterosexuell oder als homosexuell zu bekennen. „Das Gebot der Monosexualität ist die Megaregel unserer sexuellen Ordnung […]. Wenn ein Schwuler seinen Freunden erzählt, er habe lustvoll mit einer Frau geschlafen, oder ein Heteromann berichtet, er habe eine tolle Nacht mit einem Mann verbracht, dann herrscht im jeweiligen Umfeld dieser Männer Aufregung und Bestürzung. Man versichert ihnen zwar, dass man alles toleriere, aber sie müssten klarstellen, was sie sind, und wenn sie das nicht könnten, sollten sie besser einen Therapeuten konsultieren.“ (S.122f) Das und wie dieses klar kategorisierende Konzept aufkam, zeigte Michel Foucault – und formulierten zuletzt und weiterentwickelt Georg Klauda in „Die Vertreibung aus dem Serail“ (Hamburg 2008) und Thomas Bauer in „Die Kultur der Ambiguität“ (Berlin 2011). Schmidt greift auf empirisches Material zurück und verweist darauf, dass insbesondere ablesbar seit den 1990er Jahren Jugendliche durch die starren Kategorisierungen Möglichkeiten des sexuellen Ausprobierens beraubt sind. So sind gleichzeitig zur stärkeren Sichtbarkeit von Schwulen und Lesben in der Gesellschaft die gleichgeschlechtlichen sexuellen Erfahrungen von Jugendlichen (zum Beispiel gemeinsames Onanieren) deutlich zurückgegangen (S.124); hingegen können sich sowohl Jugendliche (vgl. die Merseburger Studie „Partner 4 – Jugendsexualität in Ostdeutschland“, von Konrad Weller 2013) als auch junge Erwachsene – auf letztere verweist Schmidt – lustvolle gleichgeschlechtliche sexuelle Erlebnisse vorstellen. Während Frauen dabei probierfreudiger seien und „weniger Aufhebens um die Etiketten ‚homosexuell – heterosexuell‘“ (S.132) machten, zeigten Männer mehr „monosexuelle Verbissenheit“ (ebd.).

Auch den historischen Ausgangspunkten des Wandels der Konzepte kann man nachgehen. Für das Aufkommen von ‚Sexualität‘ (und ihrer binären Ausrichtung als andersgeschlechtlich oder gleichgeschlechtlich) im ‚modernen‘ Verständnis setzt Schmidt Karl Heinrich Ulrichs im 19. Jahrhundert zentral. Das ist berechtigt, aber im Buch überzeichnet. Bei Schmidts Fokussierung auf Ulrichs geht unter, dass Ulrichs seine Ausführungen einer ‚bisexuellen‘ (also ‚weiblich-männlichen‘) Konstitution des Embryos bzgl. der psychischen Eigenschaften (wie insbesondere dem sexuellen Begehren) auf der Basis allgemeiner und weithin geteilter Erkenntnisse der Biologie und Medizin der Zeit entwickelte, die eine ‚bisexuelle Konstitution‘ in der Entwicklung der physischen Geschlechtsmerkmale beschrieben. Konkret mit Ulrichs: „In jedem Embryo schlummert bis etwa zur zwölften Woche seines Daseins ein doppelter geschlechtlicher Keim, ein männlicher und zugleich ein weiblicher. Der Keim der Geschlechtstheile ist bis dahin bei ihm fähig, zu männlichen Geschlechtstheilen entwickelt zu werden, zu Testikeln ec., und zugleich fähig, zu weiblichen Geschlechtstheilen entwickelt zu werden, zu Eierstöcken ec. […] Gleichwie nun aber in jedem Embryo ein weiblicher Keim der Geschlechtstheile vorhanden ist, […] ist in jedem Embryo […] auch ein Keim weiblicher Geschlechtsliebe vorhanden […] Im nachmaligen Urning [analog zu Homosexueller verwendet, Anm. HV] also entwickelt sich der im Embryo schlummernde Keim der Geschlechtsliebe in weiblicher Richtung, nicht correspondirend mit der Entwicklung, die der Keim der Geschlechtstheile nimmt.“ (Ulrichs, nach: Voß, „Biologie & Homosexualität“, Münster 2013: S. 13)

Fazit

Das Buch „Das neue Der Die Das“ ist auch in der neuen Auflage – 2014 – ein Muss. Es ist flüssig lesbar, gibt einen fundierten, empirisch und theoretisch unterlegten, Überblick und es regt zum Nachdenken und zu Diskussionen an. Das ist das Beste, was ein Buch machen kann.

Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
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Zitiervorschlag
Heinz-Jürgen Voß. Rezension vom 09.01.2015 zu: Gunter Schmidt: Das neue Der Die Das. über die Modernisierung des Sexuellen. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2014. ISBN 978-3-8379-2325-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18197.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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