Jacques de Saint Victor, Raymond Geuss: Die Antipolitischen
Rezensiert von Prof. Dr. Klaus Hansen, 04.03.2015
Jacques de Saint Victor, Raymond Geuss: Die Antipolitischen. Mit einem Kommentar von Raymond Geuss.
Hamburger Edition
(Hamburg) 2015.
130 Seiten.
ISBN 978-3-86854-289-9.
D: 12,00 EUR,
A: 12,30 EUR,
CH: 17,30 sFr.
Kleine Reihe.
Autor
Jacques de Saint Victor ist Professor für Rechtsgeschichte und Politik an der Universität Paris VIII Vincennes-Saint Denis sowie Gastprofessor an der Università degli Studi Roma Tre. Er ist Autor zahlreicher Bücher und erscheint mit dem vorliegenden Werk erstmals in deutscher Übersetzung.
Essay
Das Buch trägt alle Merkmale eines klugen Essays. Es ist brillant geschrieben und ein Lesevergnügen. Es kommt mit 27 Fußnoten und einer übersichtlichen Literaturliste aus. Der Autor profitiert davon, sowohl in Paris als auch in Rom zu Hause zu sein. Er ist vor allem ein kluger Beobachter und Kommentator der italienischen Innenpolitik.
Grillo
Ein Name durchzieht das kleine Buch von der ersten bis zur letzten Seite: Giuseppe Piero Grillo, genannt Beppe Grillo.
Der italienische Komiker hat bei den Parlamentswahlen 2013 mit seiner „Fünf-Sterne-Bewegung“ („MoVimento 5 Stelle“, abgekürzt: „M5S“) aus dem Stand heraus 25% der Wählerstimmen gewonnen. Jetzt im Parlament vertreten, fällt die M5S-Bewegung unter anderem dadurch auf, dass sie die rund „100 rechtmäßig verurteilten Gauner unter den Abgeordneten“ (Grillo) observiert und an den Pranger stellt. „Parlamento Pulito!“, lautet eine der Forderungen der Bewegung, „Sauberes Parlament!“
Grillo ist die personifizierte Antipolitik. Ein Populist, der der etablierten Politik mit ihren Parteien und Parlamenten jedes Vertrauen entzieht und auf eine egalitaristische Gegenpolitik setzt, die auf die neuen Möglichkeiten des Internets zur unmittelbaren politischen Partizipation der Bürger baut. Grillo selbst ist der erfolgreichste Blogger in Italien.
Seine Mission ist eine direkte Internetdemokratie. Er sagt allen Vermittlungsinstanzen, die sich zwischen Volk und Macht stellen, den Kampf an. Gegen manipulierende Presse, korrupte Parteien und fremdgesteuerte Parlamente richtet sich seit 2007 seine Protestinitiative mit dem Namen „V-Day“. Das V steht für den italienischen Fluch „vaffanculo“, und der V-Day kann als „Haut-ab-ihr-Ärsche-Tag“ übersetzt werden; ein Tag im Jahr, an dem man symbolisch mafiose Politiker und verlogene Publizisten zum Teufel jagt. – Dass für solcherlei populistischen Klamauk auch in Deutschland ein gewisser Nährboden besteht, bezeugt das nationalsozialistisch belastete Wort „Lügenpresse“ aus der Pegida-Bewegung.
Wutbürger-Aufstand
Mit Hilfe des Netzes will der Wutbürger Grillo sich der versagenden Eliten entledigen, „genauso wie Wikipedia das Ende der gedruckten Enzyklopädien“ besiegelt hat. (vgl. S. 25)
Antipolitik ist also definiert als antielitärer Web-Populismus. Der Wille des Volkes soll nicht länger durch seine gewählten Vertreter bis zur Unkenntlichkeit verfälscht werden. Antipolitiker sind Direkt- oder Anarcho-Demokraten mit dem Traum von der Volksunmittelbarkeit aller gesellschaftlich relevanten Entscheidungen. Sie stellen die etablierten Mittlerinstanzen in Frage und ersetzen da, wo es noch Mandatsträger braucht, das repräsentative Mandat durch das imperative Mandat.
Direkte Demokratie im digitalen Outfit
Die alten Vorbehalte gegenüber der unmittelbaren Demokratie – u. a. Neigung zu vorschnellen Entschlüssen; Dilettantismus statt Fachlichkeit; Launenhaftigkeit der Urteilsbildung: heute wird X beschlossen, morgen das Gegenteil; Vernachlässigung unterlegener Minderheiten – haben nach wie vor ihre Berechtigung. Mit der Digitalisierung und dem Internet sind seit den 1990er Jahren neue Bedenken hinzu getreten.
Das Internet steigert die Möglichkeiten, „das Wort zu ergreifen“, ins Unermessliche. Erstmals in der Menschheitsgeschichte hat der „kleine Mann von der Straße“ die Gelegenheit, mit seiner Wortmeldung mühelos Zehntausende von „Followern“ hinter sich zu bringen. Das Versprechen, das im Wort „Demokratie“ enthalten sei, so Grillo, könne heute endlich eingelöst werden: „Volksherrschaft“ werde erst mit den Mitteln der neuen Technik möglich!
Das Buch folgt der Euphorie des Beppe Grillo nicht, sondern warnt vor den demagogischen Gefahren der „digitalen Polis“. Drei Gefahren werden besonders beschworen:
Warnung vor der Herrschaft der totalen Transparenz
Mit den neuen technischen Kommunikationsmitteln können Dunkelzonen, in denen die Macht sich unkontrollierbar eingerichtet hatte, ausgeleuchtet werden. Wikileaks und Julian Assange und Whistleblower wie Bradley Manning und Edward Snowden sind die zeitgenössischen Helden der neuen Aufklärung. Das Buch allerdings warnt vor „dem gefährlichen Traum von der Transparenz“ (S. 54), und zwar mit drei Aspekten:
Erstens, weil eine „Illusion von Kontrolle“ (S. 59) erweckt würde. Denn vor dem wachsamen „Transparency“-Auge ziehe die Politik sich „an immer geheimere, informelle Orte zurück, wo die wirklichen Entscheidungen fallen“ (S. 59)
Zweitens, weil man mit den Mitteln der „kaschierenden Transparenz“ (S. 106) eine effektive Geheimhaltungspolitik betreiben könne: Man braucht unliebsame Tatsachen heute nicht mehr zu unterdrücken, „man braucht sie nur so in den reißenden Informationsstrom einzufädeln, dass sie gar nicht auffallen, oder man lässt so viel Irrelevantes und Irreführendes miteinfließen, dass die Sinnzusammenhänge schwer erkennbar werden.“ (S. 107) Informations-Überflutung macht blind und müde. Transparenz vernichtet Transparenz.
Drittens, drohe sich der Ruf nach allseitiger Transparenz gegen den Bürger zu richten: „Diese Forderung führt dazu, unsere heiligsten Prinzipien, darunter ein Mindestmaß an Respekt vor dem Privatleben, ungeniert über den Haufen zu werfen.“ (S. 61) Viele Netzaktivisten sind der Meinung, die „Achtung der Privatsphäre sei nur noch etwas für alte Trottel“ (S. 62) Das Buch besteht darauf – unter anderem, indem es das bittere Schicksal des Peter Schlemihl von Adalbert Chamisso in Erinnerung ruft -. dass jeder Mensch ein Anrecht auf eine „Schattenseite“ hat, die unausgeleuchtet bleiben sollte. Und für den Politiker gelte, dass er den Bürgern zwar die Wahrheit zu sagen habe, wie dosiert auch immer, aber sich hüten müsse, die Praktiken seiner Diplomatie „transparent“ zu machen. (vgl. S. 66) Ministerien in „gläserne Kerker“ und die Amtsinhaber in „gläserne Politiker“ verwandeln zu wollen, diene einer „polizeilichen Vision von Demokratie“ (S. 68)
Das Buch ist ein großes Plädoyer gegen die Vergötzung der allseitigen Einsichtnahme. Der Tempel der Transparenz, betont der Autor, sei schließlich das Gefängnis: „Wer ist transparenter als der Gefangene? Seine Wärter beobachten ihn, und er kann in seiner Zelle nichts vor ihnen verbergen.“ (S. 67)
Warnung vor der Herrschaft des „Spiegeleffekts“
Dank der Anonymität des Netzes tendieren alle möglichen Rand- und Splittergruppen dazu, Strategien zur Besetzung von Diskussionsforen in den „Social Media“ zu entwickeln. Sie schreiben von zahlreichen Adressen aus, um den Eindruck zu erwecken, ihre Außenseiter-Meinung werde von der Internetgemeinde weithin geteilt. Dabei geht es um Bewusstseinslenkung: Wenn ich randständige Ansichten vertrete, schrecke ich vielleicht davor zurück, sie öffentlich zu äußern, weil mir die „sozialen Kosten“ zu hoch erscheinen. Ich vergrabe sie in meinem Inneren und vergesse sie womöglich mit der Zeit. Wenn ich jedoch feststelle, dass viele andere genau so denken wie ich, dann fühle ich mich in meinen Ideen bestärkt, denn die große Zahl macht selbst dubiose Anschauungen salonfähig. Die elektronischen Diskussionsräume ermöglichen es aufgrund ihrer Anonymität einigen wenigen gut organisierten Aktivisten, sich dieses „Spiegeleffekts“(S. 79 f) zu bedienen – und Abwegiges zum Mainstream zu machen.
Warnung vor der Herrschaft entpersönlichter Debatten
„Was passiert, wenn Menschen über die Vermittlung von Bildschirmen diskutieren, völlig losgelöst von Raum und Körperlichkeit?“ (S. 78) Ist das Netz für „aufgeklärte Diskussionen“ (S. 82) überhaupt geeignet? Der Verfasser bleibt skeptisch. Sowohl in der antiken Demokratie als auch in den modernen Demokratien seit dem 18. Jahrhundert war der Redner in einer öffentlichen Versammlung keine entkörperte Geisterstimme oder womöglich anonyme Folge von Schriftzeichen auf einem Bildschirm, sondern ein Mensch, der eine Identität, gewisse Fähigkeiten, aber auch gewisse Laster und Schwächen, eine gewisse gesellschaftliche Position und eine eigene Geschichte hatte. „Wer politisch auftrat, musste bereit sein, Rede und Antwort über seine Voten und deren Gründe zu stehen, und der Zuhörer war im Prinzip in der Lage, die Stellungnahmen eines Politikers mit dessen möglichen Interessen in Verbindung zu bringen.“ (S. 108) Die Abstraktheit und Anonymität der sich in den neuen elektronischen Medien abspielenden Mausklick-Interaktionen erschwert Analysen dieser Art, „die einen Grundbestand des politischen Denkens darstellen.“ (ebd.)
Fazit
Die Antipolitischen sind nicht die Politikabstinenten und Politikverdrossenen. Es sind vielmehr die Wutbürger, die den etablierten politischen Eliten mit Häme und Misstrauen begegnen. Seit dem Eintritt ins digitale Zeitalter wittern die Antipolitischen die Chance, der herrschenden Politik mittels unmittelbarer Internetdemokratie („Mausklick-Herrschaft“) das Wasser abzugraben.
Das Buch verteidigt im Prinzip die repräsentative Demokratie herkömmlichen Zuschnitts und ist eine Aufklärungsschrift über die Gefahren der „E-Democracy“, durch die neue Formen der Unterdrückung und Entpolitisierung ermöglicht werden.
Rezension von
Prof. Dr. Klaus Hansen
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Zitiervorschlag
Klaus Hansen. Rezension vom 04.03.2015 zu:
Jacques de Saint Victor, Raymond Geuss: Die Antipolitischen. Mit einem Kommentar von Raymond Geuss. Hamburger Edition
(Hamburg) 2015.
ISBN 978-3-86854-289-9.
Kleine Reihe.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18198.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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