Herfried Münkler: Macht in der Mitte
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 16.03.2015
Herfried Münkler: Macht in der Mitte. Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa. Edition Körber (Hamburg) 2015. 150 Seiten. ISBN 978-3-89684-165-0. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR, CH: 25,90 sFr.
Mitte Europas?
Über die Bedeutung der Macht und Ohnmacht der „Mitte“ im gesellschaftlichen und politischen Diskurs gibt es zahlreiche wissenschaftliche Einschätzungen, Prognosen und Analysen. Mit der Frage „Ist die Mitte das gesellschaftliche Maß in den modernen (westlichen) industrialisierten Gesellschaften“ werden dabei Szenarien diskutiert, die vom „Verschwinden der Mitte“, bis hin zur „Kraft der Mitte“ reichen (vgl. dazu: Herfried Münkler, Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10350.php). Dass diese Sichtweisen nicht allein innergesellschaftliche Bedeutung haben, sondern im Zusammenhang mit der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden (Einen?) Welt auch geostrategische Bedeutung gewinnen, dürfte mittlerweile zum Denk- und Handlungsrepertoire im politischen Diskurs geworden sein. Dabei wird die Frage nach der europäischen Universalität in der janusköpfigen Entwicklung unseres Kontinents immer wichtiger (siehe dazu: Michael Gehler, Europa. Ideen – Institutionen – Vereinigung, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/13724.php); und innerhalb des aktuellen Einigungsprozesses die politische Bedeutung der einzelnen Staaten. In diesem (auf Augenhöhe angestrebtem) Kraftfeld kommt es darauf an, möglichst hegemoniale Situationen und Positionen zu vermeiden und eine Balance zu schaffen, die den Interessen und Bedürfnissen aller europäischen Länder gerecht wird.
Entstehungshintergrund und Autor
Im europäischen Einigungsprozess hat Deutschland sich von der geographischen hin zur geopolitischen Mitte hin entwickelt. Damit sich dieses geschichtliche Werden nicht (wieder) zu einem (euro-)zentristischen Machtgehabe, oder gar, innerhalb des europäischen Balance-Aktes, zu ethno- und germano-zentrierten Entwicklungen vollzieht, bedarf es einer objektiven, historischen Betrachtung, einer politischen Analyse und eines Nachdenkens über die Bedeutung von „Mitte“- Funktionen. Die Aussage, dass Deutschland im Kreis der europäischen Mächte wieder eine Macht geworden ist, und zwar in erster Linie eine ökonomische, durchaus aber auch eine strategische, sollte nicht verstanden werden als „Großmannssucht“, und schon gar nicht als nationalistische Einschätzung oder Wunschvorstellung. Der Schweizer Journalist Eric Gujer hat mit der Aufforderung, dass sich die Deutschen ihrer europäischen Verantwortung in der Mitte des Kontinents deutlicher bewusst werden und diese annehmen sollten, gewissermaßen ein Tabu gebrochen, weil er, ohne in den Verdacht zu stehen, national(istisch) gefangen zu sein, darauf hinweist, dass Macht nicht automatisch Missbrauch bedeutet, sondern, demokratisch und geopolitisch angewandt, Werte zu verteidigen vermag, die in einem globalen Friedens- und Verständigungsprozess unverzichtbar sind, nämlich "Konstanz und Beharrlichkeit". Er erinnert daran, dass es in den Zeiten der Globalisierung notwendig sei, die Unterscheidungen zwischen "Zivilmacht" und "militärischer Macht" aufzugeben (Eric Gujer, Schluss mit der Heuchelei. Deutschland ist eine Großmacht, 2007, www.socialnet.de/rezensionen/5440.php).
Der Politikwissenschaftler von der Humboldt-Universität, Herfried Münkler, nimmt diese Gedankengänge mit seinen Überlegungen zu den neuen Aufgaben Deutschlands in Europa auf, indem er darüber reflektiert, wie aus der geographischen Mitte Europas für Deutschland die Herausforderung entwickelt hat, zu einer politischen und geostrategischen Mitte im (derzeit eher abgedämpften) europäischen Einigungsprozess geworden zu sein. Dabei wird seine Mahnung deutlich, dass – angesichts des Aufkommens von rechts- wie linkspopulistischen Parteien in Europa – dringlicher denn je eine europäische und globale Integrationspolitik gefordert ist.
Aufbau und Inhalt
Herfried Münkler gliedert sein Essay in vier Kapitel. Im ersten analysiert er mit einer historischen Betrachtung die gewordene Rolle Deutschlands in Europa, indem er über „äußere Ränder, innere Trennlinien und neue Mitte“ nachdenkt. Es sind die geschichtlich gewordenen, undeutlichen Außengrenzen Europas, wie auch die innereuropäischen Trenn- und Spaltungslinien, die eine Grenzziehung eher unmöglich machen; und von daher, bei der Betrachtung der europäischen und deutschen Entwicklung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und der deutschen Wiedervereinigung, auch eine Suche nach den europäischen Grenzen (beinahe) überflüssig erscheinen lassen; wären da nicht globale, geopolitische Entwicklungen, wie sie durch das Disengagement der Weltmacht USA in Europa entstanden sind. In seiner Analyse betrachtet der Autor die im politikwissenschaftlichen Diskurs herausdifferenzierten „Machtsorten“ – politische, wirtschaftliche, militärische und kulturelle bzw. ideologische – und schließt daraus auf die Machtverschiebungen von den ursprünglich festgefügten transatlantisch angelegten Sicherheitsgemeinschaft des „Westens“ hin zur europäischen Verantwortung im Rahmen der Europäischen Union.
Im zweiten Kapitel entwirft der Autor eine „politisch-kulturelle Geographie“, indem er die Frage nach den Außengrenzen Europas stellt und das Problem der europäischen Mitte historisch und aktuell thematisiert. Es sind die historisch gewordenen, im Laufe der europäisch-asiatischen Geschichte immer wieder durch Eroberungen und hegemoniale, machtpolitische, kulturelle, weltanschauliche und ideologische Setzungen und Ausfransungen entstandenen Macht(t)räume, die zu Gewinnen und Verlusten im Machtpoker und schließlich zur Blockbildung führten, Weltkriege verursachten und schließlich mit dem westlichen Verteidigungsbündnis der Nato ein wie es scheint mächtiges Bollwerk des Westens gegen den Osten etablierte; aber auch ein Störfeuer gegen die erneut aufstrebenden Macht- und Herrschaftsgelüste im euro-asiatischen Dominanzgebilde entfachte.
Bei dieser Gemengelage wird es Zeit, die Position Deutschlands im werdenden Europa zu betrachten, was der Autor im dritten Kapitel mit der Einschätzung unternimmt: „Von der Mitte zum Rand und wieder in die Mitte zurück“. Der geschichtliche Blick ist dabei bedeutsam, angesichts der historischen Prozesse, wie sie sich in Jahrhunderten in Europa vollzogen haben: Reichsteilungen, Glaubensspaltung, Dreißigjähriger Krieg, die, wenn überhaupt, nur eine „schwache Mitte“ ermöglichten und durch die beiden Weltkriege, den sich herausgebildeten Folgen der deutschen Teilung und der Blockbildung der Ost- und Westmächte eine neue geostrategische Mitte sich nicht entwickeln konnte: „Die neue Mitte Europas machte sich erst einmal klein und schmal, um nicht als solche aufzufallen“.
Mit diesen historischen und inner- wie geopolitischen Analysen führt der Autor hin zum vierten Kapitel, indem er die neuen Herausforderungen der „Macht der Mitte“ thematisiert und auf alte Verwundbarkeiten in der deutschen Politik verweist. Es zeigt sich nämlich, dass die deutsche Rolle im anspruchsvollen, wiederum aus der Geschichte hergeleiteten Europaprojekt nicht als Anhängsel, sondern nur als „Mittel“- und „Mittler“-Macht funktionieren kann. Bezeichnend ist dabei, dass die leider bis heute nicht realisierte und vermutlich auch in nächster Zeit nicht verwirklichbare „Verfassung für Europa“ sich in der Präambel der Fassung des Entwurfs vom 20. Juni 2003 auf das Bewusstsein bezieht, „dass der Kontinent Europa ein Träger der Zivilisation ist und dass seine Bewohner, die ihn seit den Anfängen der Menschheit in immer neuen Schüben besiedelt haben, im Laufe der Jahrhunderte die Werte entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft“. Gewissermaßen mit der „Gretchen“- Frage – „Was die Deutschen aus der Geschichte gelernt haben sollten“ – kommt der Autor zu der Aufforderung, zum einen zu erkennen, dass „die Deutschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Herausforderung ihrer europäischen Mittellage als Chance … zur Errichtung einer deutschen Hegemonie in Europa missverstanden haben“; vielmehr sollten sie die aus ihrer geographischen und strategischen Position heraus (zwangsläufig) gebildete Gemengelage als Chance und Herausforderung begreifen, eine „Mittler- und Vermittlerrolle“ in Europa zu übernehmen. Zum anderen ergibt sich, als Konsequenz des Vorherigen, die Notwendigkeit, in dieser Mitte die vorhandenen und entstehenden Probleme, Entwicklungen, Krisen und Irritationen als (auch) eigene und nicht nur die von anderen zu begreifen. Im Russland-Ukraine-Konflikt wird diese Aufgabe deutlich; aus der Erkenntnis heraus, dass Kriegsbegrenzung und Krisenbewältigung mit militärischer Gewalt (allein) nicht möglich sein dürfte, sondern nur durch normorientiertes Verhandlungsgeschick und vertrauensbildende Maßnahmen ein friedliches, auf den Grundlagen des Völker- und Selbstbestimmungsrechts basiertes Miteinander von Völkern möglich ist. Um diese Balance auch realisieren zu können, bedarf es, nach Meinung des Autors, der Aufmerksamkeit, wie sich eine Rolle Deutschlands als Mittelmacht gestalten sollte. Er sieht dabei drei strategische Verwundbarkeiten, die es zu bedenken gilt: Da ist zum einen die Gefahr, dass die steigende, ökonomische Macht Deutschlands zu Egoismen und Populismen führt, die Gemeinsamkeiten reduziert auf Eigennutz und nationalistisches, hegemoniales Denken fördert; zum zweiten das Problem, dass eine Politik der Mitte diejenigen außen vor lässt, die an den Rändern der Gesellschaft leben; und zum dritten die „Last der deutschen Geschichte“, die sowohl Absenzen wie Anarchien befördert. Eine Lösung der Dilemmata könne nicht in einer autonomen Stärkung der „deutschen Macht“ liegen, sondern in der Konstruktion einer „Koalition der Mitte“, und zwar in der unabdingbaren Verbindung von Außen-, Sicherheits- und Kulturpolitik, die sich orientieren muss an der europäischen Herausforderung, lokal, regional und global integriert zu denken und zu handeln: „Die Macht in der Mitte (kursiv, JS) verfolgt ihre Interessen am besten, wenn sie als Friedensmacht handelt“.
Fazit
Mit dem Essay „Macht in der Mitte“ plädiert der Politikwissenschaftler Herfried Münkler nicht für „mehr Macht“, und schon gar nicht für „mehr Hegemon“ in der ökonomisch und demokratisch gewachsenen Bedeutung Deutschlands im europäischen Einigungsprozess. Er lenkt vielmehr den Blick zum einen auf die historischen Bedingungen beim Werden Europas und darin auf die positiven wie negativen Wechselwirkungen von Deutschlands Rolle(n) beim Projekt Europa; zum anderen leitet er in einer politischen Analyse die Situationen her, wie sie sich entwickelt haben und Hier und Heute gestalten. Natürlich bietet er keine Rezepte an, wie er es auch vermeidet, mit dem erhobenen (machtbezogenen) Zeigefinger von deutschen Interessen aus auf Entwicklungen anderswo zu verweisen. Vielmehr leistet er einen notwendigen Beitrag zum „Nachdenken über die Politik Deutschlands als dem (zeitweiligen?) Inhaber der Position einer Macht in der Mitte“, und zwar so, dass weder populistische oder gar hegemoniale Gelüste geweckt und unterstützt werden, noch dass sich Resignation oder gar „Ohne-mich“ – Einstellungen entwickeln können. Denn der Prozess um die „Macht in der Mitte“ für ein friedliches, gemeinsames Europa ist aktuell in vollem Gange. Er wird nur gelingen können, wenn jeder Deutsche Europäer ist und sich einer globalen Ethik verpflichtet weiß, wie sie sich in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte artikuliert! Auch hier wird deutlich, dass der zôon politikon, der politische Mensch (Aristoteles), nur human existieren und ein gutes, gelingendes Leben anstreben kann, wenn er sich individuell und gesellschaftlich seines geschichtlichen Gewordenseins bewusst ist. Nur dann wird es möglich sein, allzu vereinfachenden, populistischen, geschichtslosen oder -verfälschenden Parolen widerstehen zu können!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 16.03.2015 zu:
Herfried Münkler: Macht in der Mitte. Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa. Edition Körber
(Hamburg) 2015.
ISBN 978-3-89684-165-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18230.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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