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Helga Cremer-Schäfer, Heinz Steinert: Straflust und Repression

Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 23.10.2015

Cover Helga Cremer-Schäfer, Heinz Steinert: Straflust und Repression ISBN 978-3-89691-680-8

Helga Cremer-Schäfer, Heinz Steinert: Straflust und Repression. Zur Kritik der populistischen Kriminologie. Verlag Westfälisches Dampfboot (Münster) 2014. 2., überarbeitete Auflage. 284 Seiten. ISBN 978-3-89691-680-8. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 35,50 sFr.

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Thema

Die Kriminologie bietet Erklärungsansätze für das Verhältnis abweichenden, strafbaren Verhaltens im Kontext sozialer Strukturen und gesellschaftlicher, auch ökonomischer Realität. Als kritische Kriminologie thematisiert sie Kontroll- und Kriminalisierungsprozesse und analysiert diese vor allem im Zusammenhang mit Macht- und Herrschaftstheorien. Als Gesellschaftskritik zielt sie auf die Praxis des Ausgrenzens und Strafens, die Verselbständigung der Straf(rechts)praxis vor dem Hintergrund sich ändernder Produktions- und Marktverhältnisse und die damit einhergehenden inszenierten Diskurse um „Sicherheit“, „Gefahr“ und „Risikopopulationen“. Die zunächst sichtbare Entwicklung ist eine stete Verschärfung und Ausweitung strafrechtlicher Sanktionsmöglichkeiten und der damit verbundenen sozialen Kontrollmöglichkeiten. Die dazugehörigen Schlagworte sind die der „Kriminellen Jugend“ der „gefährlichen Wiederholungstäter“ und -nicht zuletzt- die der gefährlichen psychisch kranken Straftäter. Kriminalität ist Ausdruck der gesellschaftlichen Bedingungen von Herrschaft und Ungleichheit und wird in ihrer Zuschreibung auf individuelle Faktoren eben den Akteuren zugeordnet, die in diesem Bedingungsgefüge eine untergeordnete oder unterlegene Rolle spielen. Kriminologisches Wissen ist, so die Kritik „der“ kritischen Kriminologie ein gesellschaftlicher Zuweisungsprozess, der den straffälligen Akteuren eine abweichende Identität zuweist und dadurch Bestrafung, Kontrolle und Unterordnung legitimiert.

Entstehungshintergrund

„Straflust und Repression“ erscheint mit dieser Ausgabe in der zweiten überarbeiteten Auflage. Der ursprüngliche Text der 1998 erschienen Erstauflage wurde von Helga Cremer-Schäfer um spätere Aufsätze und Arbeiten ergänzt, nachdem der frühere Mitautor Heinz Steinert 2011 verstorben war. Die Neuauflage belegt die Aktualität der damaligen kriminologischen Kritik und zeigt, in welche Richtung dieser Denkansatz weiterentwickelt wurde.

Autorin und Autor

Helga Cremer-Schäfer lehrte bis 2013 Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt, mit besonderem Fokus auf Ausschluss- und Kontrollwissen, Jugend, Produktion von Kategorisierungen und Etiketten, sowie ideologiekritischen Analysen von Diskursen über Kriminalität, Gewalt und Delinquenz.

Heinz Steinert (1942-2011) war Professor für Soziologie n der Goethe-Universität Frankfurt mit den Schwerpunkten in Sozialpolitik, Forschung über Disziplinierung, soziale Exklusion und zum Zusammenhang von Devianz und Herrschaft. Er war Mitbegründer und bis zum Jahr 2000 Leiter des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie in Wien.

Aufbau und Inhalt

Die zweite Auflage ist nach einem Einleitungskapitel in vier Abschnitte unterteilt:

  1. Zum Funktionswandel der Institution „Verbrechen & Strafe“;
  2. Herrschaftsverhältnisse, Politik und Moral und moralisch legitimierter Ausschluss: Strafe als Darstellung von Arbeitsmoral;
  3. Kriminalitätsdiskurse – Von der „Kultur der sozialen Probleme“ und der „Kultur der Punitivität“;
  4. Kritik der Kriminologie.

Die Publikation beinhaltet ein resümierendes Fazit „Ein Vorschlag zur Güte: Regeln reflexiver Kritik“ und ein Glossar mit zentralen Begriffen aus dem Feld der kritischen Kriminologie, sowie Belege zu Erstveröffentlichungsnachweisen.

Einleitung. Die Kriminologie leistet Beiträge zum Verständnis der Kriminalität als Element gesellschaftlichen Lebens. Damit ist sie auch an der Konstruktion von Kriminalität als Kennzeichen beteiligt, Teil der Gesellschaft die, etwa durch Etikettierungs- oder Labelingprozesse kriminelles Verhalten einzelnen Individuen zuschreibt, in Einzelpersonen oder Gruppen verortet. Als kritische Kriminologie wurden diese Zuschreibungsprozesse, die von der Realität gesellschaftlicher Praxis ablenken, aufgegriffen, hinterfragt und kritisiert. Dieser Entwicklungsprozess des (kritischen) kriminologischen Diskurses wird im Einleitungskapitel nachgezeichnet.

Verbrechen & Strafe. „Vielleicht sollten wir gar keine Kriminologie haben. Vielleicht sollten wir lieber Institute abschaffen, nicht sie eröffnen. Vielleicht sind die gesellschaftlichen Folgen der Kriminologie bedenklicher, als wir es gerne wahrhaben möchten“ (32). Dieses Zitat des norwegischen (kritischen) Kriminologen Nils Christie kennzeichnet das Dilemma der Kriminologie (die als Erfüllungsgehilfin gesellschaftlicher Ordnung diese aufrecht zu erhalten hilft, indem sie „passende“ Deutungsmuster entwirft und zur Verfügung stellt), beschreibt den Konflikt innerhalb der (kritischen) Kriminologie (die um diesen Ordnungsauftrag weiß und einen kritischen Standpunkt einzunehmen versucht) und ist Kernsatz des ersten Kapitels. Kriminologie unterstützt den Prozess, dass die Konflikte zwischen Einzelnen und Gruppen „enteignet“, oder „gestohlen“ (32) werden, durch Prozesse der moralischen Bewertung und Einordnung in ein Normsystem vergesellschaftet werden und dadurch eine Machtstruktur etabliert wird, die „den Verbrecher“ benennt, ausschließt und anschließend vor dem Hintergrund gesellschaftlich festgelegter Spielregeln wieder integriert (oder auch nicht). Die Akteure in diesem Vorgang werden auf ein einziges Merkmal reduziert: der Mensch der gegen geltendes Recht verstößt ist (zunächst) Verbrecher. Alle anderen Persönlichkeitsanteile und sozialen Rollen ordnen sich hinter das Leitmerkmal des Verbrecher-Seins. Der straffällig gewordene Mensch ist Verbrecher, Verbrecher, Verbrecher. Die „Institution Verbrechen & Strafe“ dient, so die Autoren, der Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnung, funktioniert als Moral-Darstellung der gesellschaftlichen „Moral-Unternehmer“ (36) und ist letztlich durch die Institutionalisierung des Strafapparates (Gerichte, Gefängnisse) Ausdruck der „Darstellung von Herrschaft“ (39). Vor allem der letzte Punkt wird in den weiteren Ausführungen dargestellt: die „schichtspezifische Selektivität des Strafrechts“ (45) wird als mächtiger Diskriminierungsfaktor analysiert, die Herstellung gesellschaftlicher Herrschaft als Prozess der sozialen Ausschließung beschrieben, letztlich Ausdruck eines Sortiervorgangs zwischen „Reichen und … Armen“ (48). Cremer-Schäfer und Steinert setzen den sozialen Ausschließungs- und Ordnungsprozess des staatlichen Strafens schließlich noch in Relation zu anderen Formen herrschaftlicher Praxis: Sicherheits- und Kriegspropaganda, die Struktur des kapitalistischen Produktions- und Wirtschaftsprozesses und die Institutionalisierung der Sozialpolitik, die als Zuschreibungsprozess „Schwache“ definiert („Auffällige, Abweichende, Mittellose, Wohnungslose, Elternlose, Aufsichtslose, Vernachlässigte“ etc.), denen durch Zuschreibung von Mangelzuständen eine strukturierte und strukturierende Form der Förderung und Unterstützung („Fürsorge“, 61) zu Teil wird, dadurch aber gleichzeitig eine soziale Degradierung erfolgt. „Verbrechen & Strafen“ und „Schwäche & Fürsorge“ als Ausdruck gesellschaftlicher Ordnungs- und Herrschaftspraxis werden im letzten Abschnitt dieses Kapitels als zentrale Figuren sozialer Kontrolle und sozialer Ausschließung beschrieben, welche nicht durch Reformen verändert werden können.

Strafe und Arbeitsmoral. Das Kapitel geht auf den Zusammenhang gesellschaftlicher Entwicklung vor dem Hintergrund der (kapitalistischen) Produktionsweisen und Kriminalität ein. Den unterschiedlichen Phasen wirtschaftlicher Prozesse (Krisen, Wohlstandsphasen) folgen entsprechende Verschiebungen der Machtverhältnisse („Ungleichheitsverhältnisse“) und der Sozialstruktur und in diesem Zusammenhang auch der Umgang mit Kriminalität in Politik und Strafpraxis. Die Thematik wird an der Geschichte der Bundesrepublik nachvollzogen und dargestellt, z. B. anhand der Veränderungen des Kriminalitätskonzeptes und der Kriminalisierungstendenzen im Kontext der sozio-ökonomischen Verhältnisse der Nachkriegszeit in Deutschland. Verschiedene Formen des Kriminalitätsdiskurses (der inszenierten Darstellung von Kriminalität in der Öffentlichkeit) werden als Instrumente der Deutung und Ordnung analysiert und anhand konkreter Phänomene (z. B. gewalttätige Jugendliche, Zunahme der Gewalt an den Schulen) diskutiert. Die Autoren argumentieren, dass es sich in diesen Diskursen um die Benutzung von Kriminalität und Gewalt durch den Staat handelt, indem der Fokus auf Gefährlichkeit, Probleme der Erziehungsinstitutionen oder einzelne Bevölkerungsgruppen („Die gewalttätigen Jugendlichen“, „Die Dealer“) gelenkt wird und z. B. Gewalt als Symbol für gesellschaftliche Unordnung (und damit als Gefahr für das Allgemeinwohl) interpretiert wird. Als wesentliche Elemente solcher Kriminalitätsdiskurse gelten, so Cremer-Schäfer in einem Beitrag die Mittel des Moralisierens und Skandalisierens konkreter, als empörungsfähig identifizierter Einzelmerkmale (123), z. B. die Phänomene „Häusliche Gewalt“ oder „Gewalt an Schulen“.

Kritik der Kriminologie. „In der Charakterisierung des 20. und folgend des 21. Jahrhunderts interessieren die Formen von Solidarität und sozialer Ausschließung sowie die Art und Weise, wie sie in intellektuellen Produkten … entwickelt, benützt und propagiert wurden: Kriminologie als Wissen über den Kriminellen und die Kriminalität ist eines dieser … Produkte, die sich ermöglichend bis propagierend auf reale Vorgänge der Ausschließung beziehen. Kritik der Kriminologie besteht in der Analyse dieser Wissensform, ihrer Verbindungen und der sich mit der Gesellschaftsgeschichte verändernden Inhalte des Wissens“ (173). Dieses Zitat umreißt die Programmatik des letzten Kapitels „Straflust und Repression“: Wissenschaft zielt (als biologistische „Rasse-Lehre“, als Psychiatrie, als Kriminologie) auf Abgrenzung und Ausschließung. Je nach Standpunkt und gesellschaftlicher Ordnungszughörigkeit produzieren politische Ideen und Bewegungen und eben auch Wissenschaften ihre eigene Dynamik von Ordnung, ihre eigenen (Denk)gegenstände und Feindbilder als Vehikel sozialer Ausschlussprozesse. Das gilt auch für die Kriminologie und – folgt man der Logik der AutorInnen- die Kritische Kriminologie. Diese Prozesse werden in verschiedenen Abschnitten nachgezeichnet, z. B. für die Phase der „Jahrhundertwende-Kriminologie“ (180) und die zentralen Denkfiguren (z. B. Sozialstruktur, Viktimologie) kriminologischer Theoriebildung in den vergangenen fünf Jahrzehnten.

Abschluss: Regeln reflexiver Kritik. Als Fazit der bisherigen Analysen entwerfen Cremer-Schäfer und Steinert Leitideen für eine kritisch-reflexive Kriminologie. Diese habe sich an wissenschaftlichen Grundsätzen zu orientieren (Berücksichtigung des kulturellen Kontexts, Unabhängigkeit, Nicht-Trivialität), auf die Vielgestaltigkeit der Thematik einzulassen (Einzelphänomene und ihr Verhältnis zum Gesamtrahmen) und den Blick auf Kriminalpolitische Vereinnahmungsversuche zu richten und sich gegen diese Abzugrenzen.

Zielgruppe

Interessierte die mit theoretischen Fragen und der Praxis des Strafens beschäftigt sind: Juristen, Sozialarbeiter, Kriminologen, Psychiater und Wert auf eine kritische Auseinandersetzung legen.

Diskussion

Die Kritische Kriminologie war angetreten die gesellschaftliche Praxis des Ausgrenzens durch Strafe und Repression zu hinterfragen, die Zusammenhänge zwischen kapitalistischen Produktions- und Marktstrukturen und der Realität der Sicherheits- und Sozialpolitik aufzuzeigen und Ansätze für eine „kritische Strafpraxis“ zu entwerfen, die z. B. auf eine Rückführung der Aushandlungsprozesse zwischen „Tätern“ und „Opfern“ an diese Ebene ermöglichen sollte. Dieser gesellschaftskritische Ansatz war spätestens seit dem Beginn der 1990er Jahre von deutlichen Auflösungsmerkmalen geprägt, war am „versanden“, wie Cremer-Schäfer in ihrem Vorwort feststellt. Die Wiederveröffentlichung des 1998 erschienen Originals „Straflust und Repression“ muss, kann und darf also als erneuter Versuch verstanden werden, dieses Versanden zu verhindern, den Beitrag der Kritischen Kriminologie noch einmal zu formulieren und – das wäre die Erwartung an eine überarabeitete Neuauflage- in Verbindung mit den aktuellen „modernen“ Formen des Kriminalitätsdiskurses zu bringen. Dieser Anspruch gelingt an nur wenigen Stellen, etwa in der Beschäftigung mit dem Skandal um die sog. Reformschulen.

Tatsächlich fehlt diesem Buch die Auseinandersetzung mit der deutschen Straf- und Sicherheitspolitik der letzten 15 Jahre, die Kritik an den letzten Strafrechtsreformen (z. B. der Führungsaufsicht 2007), die Umstände der Reform der Sicherungsverwahrung, die anstehenden Veränderungen im Maßregelrecht, oder wenigstens die Analyse der Zusammenhänge im gesellschaftlichen, politischen und justiziellen Umgang mit pädophilen Menschen (Stichwort: der „Fall Edathy“, der alle Merkmale der als „populistische Kriminologie“ zurecht kritisierten Deutungsmuster um „potentiell gefährliche Menschen“ beinhaltet). Nichts von dem in diesem Buch. Es erschließt sich aus der Lektüre dieses -immer noch aktuellen!- Werkes nicht, warum die Chance einer solchen Auseinandersetzung nicht aufgegriffen wurde, sondern eher eine äußerst vorsichtige Weiterformulierung bekannter Ansätze und Thesen erfolgt ist, die unter dem Strich keine neue Positionierung, keine neuen Erkenntnisse befördert. Folgt man der Ernsthaftigkeit der Kritischen Kriminologie und ihrer Analysen (vorausgesetzt man kann und mag sich darauf einlassen), wäre genau diese Form reflexiver Kritik dringend angezeigt.

Was bleibt ist die (Wieder)begegnung mit den längst eingeführten Begriffen, Denkmodellen und Theorien und der Eindruck, dass diese mit der vorliegenden Publikation, vielleicht für einen späteren Gebrauch, konserviert werden sollen.

Fazit

Eine für das Verständnis kriminologischer Diskurse relevante Textsammlung, die den Beitrag kritisch reflexiver Analysen und Theorien, deren Aktualität und Notwendigkeit dokumentiert und eine offensichtlich notwendige Selbstvergewisserung der in diesem Umfeld beheimateten Akteure.

Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Es gibt 180 Rezensionen von Gernot Hahn.

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ISSN 2190-9245