Margherita Zander: Laut gegen Armut - leise für Resilienz
Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Liebel, 23.02.2015

Margherita Zander: Laut gegen Armut - leise für Resilienz. Was gegen Kinderarmut hilft. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2014. 240 Seiten. ISBN 978-3-7799-2981-9. D: 24,95 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 34,60 sFr.
Thema und Entstehungshintergrund
Wenn erwachsene Menschen in Armut leben müssen, sind fast immer auch Kinder betroffen. Sie sind sogar in besonderem Maße betroffen, weil die Armut besonders oft Mütter trifft, zumal wenn sie alleinerziehend sind, mehrere Kinder und/oder einen Migrationshintergrund haben, und weil Kinder von Erwachsenen versorgt werden und von ihnen abhängig sind. In Deutschland ist trotz des im Land vorhandenen materiellen Reichtums jeder fünfte junge Mensch unter 18 Jahren, in manchen Regionen und Stadtteilen sogar jeder dritte von Armut betroffen. Mehr als 1,65 Millionen der unter 15-Jährigen sind auf Transferleistungen nach Hartz IV angewiesen, weil ihre Eltern sonst ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten könnten, mit allen Einschränkungen und Demütigungen, die damit verbunden sind. Unter Armut wird hier verstanden, dass Kinder in einer Familie leben, die mit weniger als 50 Prozent des mittleren Einkommens auskommen muss.
Seit den 1990er Jahren ist Armut von Kindern zu einem speziellen Thema der Sozialforschung geworden. Haben zunächst noch eher die mit der Armut einhergehenden sozialen Benachteiligungen und Entwicklungsschäden im Vordergrund gestanden, sind im Laufe der Jahre auch die subjektiven Wahrnehmungen der Kinder und ihre Weisen, mit Armut umzugehen, erforscht worden. Auch der Frage, wie Kinder dabei unterstützt werden können, den negativen Folgen der Armut zu begegnen und sie möglichst gering zu halten, und welche Aufgaben und Möglichkeiten (aber auch Grenzen) die Soziale Arbeit dabei hat, ist zunehmend Aufmerksamkeit gewidmet worden.
Besonderes Gewicht haben in diesem Zusammenhang Forschungen erlangt, die Armut nicht nur am Geldeinkommen messen, sondern als eine komplexe Lebenslage in den Blick nehmen, und die sich an theoretischen Konzepten der Resilienz orientieren. Unter Resilienz wird verstanden, wie und unter welchen Voraussetzungen es Menschen gelingt, extrem belastende Lebenssituationen relativ unbeschadet zu überstehen und ihnen unter Umständen aktiv entgegenzuwirken. Wenn solche Konzepte auf Armutserfahrungen bezogen werden, stehen sie in der Gefahr, von deren strukturellen Ursachen abzulenken und den betroffenen Menschen allein die Verantwortung für ihre Bewältigung aufzubürden. Sie können jedoch auch wichtige Hinweise ergeben, wie extrem belastete Menschen dabei unterstützt und ermutigt werden können, sich nicht aufzugeben und sich nicht alles gefallen zu lassen. Auf diese Weise können auch die tieferen Gründe der erfahrenen Misere anvisiert und auf die Notwendigkeit verwiesen werden, politische Lösungen anzustreben. In diesem Sinne jedenfalls wird Resilienzförderung mit Blick auf Kinder und „was gegen Kinderarmut hilft“ in dem hier zu besprechenden Buch verstanden.
Aufbau und Inhalt
In dem Buch sind Vorträge, Artikel und Interviews von Margherita Zander aus den Jahren 1997 bis 2014 versammelt. Sie vermitteln einen Überblick über die verschiedenen Stadien ihrer Forschungen und fachpolitischen Interventionen zu Kinderarmut und Resilienzförderung. Einige Beiträge wurden für die vorliegende Buchausgabe überarbeitet und aktualisiert, jedem Kapitel wurde eine aktuelle Einleitung vorangestellt.
Die Beiträge der Autorin werden ergänzt durch eine Vorbemerkung von C. Wolfgang Müller, in der er auf die Zusammenhänge ihrer Forschungen mit der eigenen Kindheitsbiografie hinweist, und einem Nachwort ihres langjährigen Arbeitskollegen Karl August Chassé, der die politische Relevanz der Forschungen der Autorin unterstreicht.
Das Buch ist in fünf Kapitel untergliedert.
Im ersten Kapitel („Kinderarmut als gesellschaftliches Problem“) werden die Lebensbedingungen von Kindern und Familien, die in Armut leben, dargestellt. Dabei werden auch die verschiedenen Armutskonzepte erläutert, die den Forschungen zur Kinderarmut in Deutschland seit den 1990er Jahren zugrunde lagen.
Das zweite Kapitel („Subjektive Auswirkungen und Bewältigung von Armut“) nähert sich den Armutserfahrungen der Kinder aus deren eigener Sicht und geht der Frage nach, was Armut für Kinder bedeutet und wie sie diese zu bewältigen versuchen. Bei einer so angelegten Untersuchung ergab sich, dass sogar schon Kinder im Grundschulalter „über Gegenkonzepte von Gemeinschaft und Solidarität nach[dachten]“ (S. 28). Dieses Kapitel, das Beiträge seit der Jahrtausendwende umfasst, spiegelt die Akzentverlagerung der Forschungen hin zu den subjektiven Aspekten der Kinderarmut und zum Handlungsvermögen der Kinder.
Im dritten Kapitel („Von der Theorie zur Praxis – Handlungsperspektiven für die Soziale Arbeit“) wird der Blick auf das Handlungsfeld der Sozialen Arbeit gerichtet und es werden deren Möglichkeiten, Fallstricke und Grenzen erörtert, zur Lösung des Problems Kinderarmut beizutragen. Dabei setzt sich die Autorin auch mit verschiedenen Handlungskonzepten der Sozialen Arbeit auseinander.
Im vierten Kapitel („Resilienzförderung – ein neuer Weg?“) werden einige Grundfragen der Resilienzforschung diskutiert und Überlegungen angestellt, wie das Konzept der Resilienz in der sozialen Praxis mit Kindern nutzbar gemacht werden kann. In diesem Kapitel werden auch verschiedene kommunale Projekte vorgestellt, in denen der Gedanke der Resilienzförderung erprobt wurde und die die Autorin als Forscherin begleitet hat. Sie versteht dabei Resilienzförderung als eine spezifische Form „sekundärer Armutsprävention“, d.h. einer Prävention, die erst eingreift, wenn die Armut bereits eingetreten ist und ihr weiterer Verlauf beeinflusst und im besten Fall rückgängig gemacht werden soll. In diesem Zusammenhang misst die Autorin „kommunalen Präventionsketten“ besondere Bedeutung zu.
Im fünften Kapitel („Anforderungen an die Politik“) macht die Autorin deutlich, warum noch die beste Resilienzförderung darauf angewiesen ist, dass sich auch im politischen Bereich etwas bewegt. Sie kritisiert, dass die Regierungen der letzten drei Legislaturperioden (von der rot-grünen über die schwarz-gelbe bis zur schwarz-roten Bundesregierung) die Prekarisierung des Lebens vieler Familien und die wachsende Kinderarmut nicht genügend ernst genommen, sie verharmlost und sogar mit verursacht hätten. Im Besonderen plädiert sie für die Einführung einer bedarfsgerechten Kindergrundsicherung, um neue Handlungsräume für die Kommunalpolitik und die Soziale Arbeit zu eröffnen. Auf ihr aufbauend – so schließt sie ihr Buch – „müssten allerdings auch alle für die kindliche Entwicklung zentralen Bereiche chancengerecht ausgebaut werden, Das hätte zur Voraussetzung, dass wir im Bildungswesen unseren Drang, Kinder als künftige Leistungsträger im globalen Wettbewerb zu trainieren, etwas zügeln und damit auch der Eigenständigkeit dieser Lebensphase mehr Respekt bezeugen. Auf diese Weise könnte tatsächlich die Chance gegeben sein, der Kindheit ein Stück unbefangenen Glücks zurückzugeben.“ (S. 287)
Diskussion
Das Buch liest sich als beeindruckende Bilanz einer engagierten Kindheits- und Armutsforscherin, die mit ihren Untersuchungen zur Kinderarmut die Kinder selbst mit ihren eigenen Sichtweisen und Bewältigungsversuchen ins Zentrum gerückt hat. Wie dankenswerter Weise aus der Vorbemerkung von C. Wolfgang Müller hervorgeht, hat das sensible und empathische Herangehen von Margherita Zander an die gelebte Realität der von Armut betroffenen Kinder biografische Wurzeln. Die Autorin wuchs selbst unter prekären Lebensbedingungen auf und hat es zu einem guten Teil ihrer selbst in Armut lebenden Pflegemutter zu verdanken, dass sich in ihr die resilienten Eigenschaften entwickeln konnten, die sie alle Bildungsbarrieren überwinden ließ. Es ist tatsächlich zu vermuten, dass das handlungsleitende Credo ihrer Forschungen, „die von Armut betroffenen Kinder zu stärken, ihr Selbstbewusstsein zu fördern, ihre Stärken und Fähigkeiten herauszustellen“ (S. 40), hier bereits entscheidende Impulse erfuhr. Ihre Forschungen durchzieht jedenfalls die Überzeugung, dass Armut von Kindern nicht schicksalhaft hingenommen werden muss, sondern für sie zur individuellen Herausforderung werden kann. Ihre Darstellungen des Kinderlebens sind meist sehr konkret und spüren den Biografien einzelner Kinder nach, um die (tatsächlichen und möglichen) Bewältigungsweisen besser zu verstehen und wohl auch anderen verständlich zu machen.
Im Laufe des Forscherinnenlebens von Margherita Zander gewinnt eine emphatische Subjektorientierung immer stärkeres Gewicht, ohne sich freilich zu subjektivistischen Kurzschlüssen verleiten zu lassen. Sie ist zwar von der Nützlichkeit der vorliegenden Ansätze der Resilienzforschung überzeugt, die sie als „neues Paradigma“ der Sozialforschung wertet, aber sie hinterfragt auch ihre möglichen Risiken und vor allem ihren Missbrauch. So müsse das Resilienzkonzept in Ratgebern und Schulungen für Angehörige des Managementbereichs dazu herhalten, die Durchsetzungsfähigkeit im Konkurrenzkampf zu steigern. Ob es demgegenüber, wie die Autorin annimmt, ein „ursprüngliches“ Resilienzkonzept gibt, das zur Stärkung der Schwachen gedacht ist, mag bezweifelt werden. Allerdings macht die Autorin auch deutlich, dass in dem Resilienzkonzept selbst auch Probleme stecken, die von der Resilienzforschung oft übersehen werden. So drohe die Subjektperspektive und die aktive Rolle der Kinder bei der Herstellung der Resilienz „vernachlässigt zu werden, wenn man Resilienz nur abstrakt als Ergebnis eines komplexen Zusammenwirkens von Risiko- und Schutzfaktoren deutet“ (S. 130). Dies sei eine „kindferne Sichtweise“ (ebd.).
Resilienzförderung sieht die Autorin „als Spezialfall der Ressourcenorientierung“ (S. 238), die allgemein statt auf Defizite der Individuen auf deren Stärken fokussiert. Von Resilienz will sie nur dann sprechen, „wenn es um die Bewältigung eines existenziellen Risikos geht“ (S. 236). Dann sei es Aufgabe der Resilienzförderung, „situationsbezogen jene Schutzfaktoren zu mobilisieren, die ein Mensch braucht, um seine Resilienzfähigkeit voll zu entfalten“ (ebd.).
Dass in dem Buch der Sozialen Arbeit viel Raum eingeräumt wird, hängt damit zusammen, dass die Autorin als Professorin an den Fachhochschulen Jena und Münster vorwiegend mit diesem Berufsfeld befasst war. Sie misst ihr erhebliches Handlungspotenzial zu, betont aber auch ihre Grenzen und Fallstricke. So könne sie „mit ihrem sozialpädagogischen Instrumentarium nur auf der zweiten und dritten Stufe von Prävention wirksam werden, also lediglich negative Folgewirkungen von Armut begrenzen oder bereits eingetretene Schäden abpuffern“ (S. 142). Um sich nicht als Lückenbüßerin missbrauchen zu lassen, müsse Soziale Arbeit deshalb „zweigleisig“ vorgehen, indem sie sowohl auf der individuellen Ebene die Kinder entlaste und stärke, als auch auf der strukturellen Ebene für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Kinder und ihrer Familien eintrete. Entscheidend dabei sei, dass die in diesem Berufsfeld Tätigen „für die Betroffenen Partei ergreifen“ (S. 143). Die Risiken, die in Präventionskonzepten stecken, etwa die Ausweitung von Kontrollmechanismen, die das Leben der gefährdeten Kinder flächendeckend unter Aufsicht stellen, werden von der Autorin nur knapp am Rande erörtert.
Der Autorin ist bewusst, dass Soziale Arbeit immer unter bestimmten Bedingungen stattfindet, die die in diesem Bereich Tätigen in Widersprüche verstricken und ihre Wirkungsmöglichkeiten beschränken. Deshalb betont sie die Notwendigkeit, auch politische Entscheidungen herbeizuführen, die generell die Lebensbedingungen der Menschen verbessern und ihre Menschenwürde gewährleisten. Wenn der politische Wille da sei, könnte nach Überzeugung der Autorin in einem reichen Land wie Deutschland Armut weitgehend vermieden werden. Zu Recht kritisiert sie die bisherige Politik verschiedener Bundesregierungen scharf, dass sie dieser Verantwortung nicht nachgekommen seien. Es zeichne sich leider auch nicht ab, dass dies in naher Zukunft der Fall sein werde.
Die in dem Buch versammelten Beiträge stammen aus einem Zeitraum von fast 20 Jahren. Deshalb ist es nicht verwunderlich und überaus interessant zu verfolgen, wie sich die Akzente in den Beiträgen verschieben. Mindestens in einer Hinsicht widersprechen sie sich aber auch. Während die Autorin in den 1990er Jahren noch dazu neigte, die Kinder als „Zukunftspotenzial“ der Gesellschaft zu betrachten, in deren „kindgerechte Lebensbedingungen investiert“ werden müsse (S. 25), betont sie heute, der Kindheit müsse „ein Stück unbefangenen Glücks“ zurückgegeben werden (S. 287). Ich frage mich, ob damit die einzig denkbaren Alternativen von Kinderpolitik erfasst sind. So sympathisch der Wunsch nach dem unbefangenen Glück der Kindheit sein mag, so lässt sich doch fragen, ob die darin zum Ausdruck kommende Vorstellung von Kindheit einem romantischen Mythos verhaftet bleibt. Wenn der Gedanke der Resilienz ernst genommen und diese auch als widerständiges Handeln verstanden wird, ließe sich doch eher ein befriedigendes Kinderleben vorstellen, in dem die aktive Auseinandersetzung mit den eigenen Existenzbedingungen mitgedacht wird.
Fazit
Das Buch gibt einen anschaulichen Einblick in die Erkenntnispotenziale und -gewinne einer subjektorientierten Kindheits- und Armutsforschung, die sich im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte entwickelt und der die Autorin bemerkenswerte Impulse vermittelt hat. Ein Buch mit Beiträgen, die zu verschiedenen Anlässen und Zeitpunkten entstanden sind, bringt notgedrungen manche Wiederholungen mit sich, hilft aber auch zu verstehen, das eine Forschung, die den Kindern gerecht werden will, auch auf Lernprozesse der Forschenden angewiesen ist. Die Lektüre lädt die Leserinnen und Leser auf äußerst lebendige Weise dazu ein, selbst die Herausforderungen nachzuvollziehen, vor denen eine anspruchsvolle Forschung steht, für die der Bezug auf die Sichtweisen und das Handlungsvermögen von Kindern kein Lippenbekenntnis bleiben.
Rezension von
Prof. Dr. Manfred Liebel
Prof. a.D. für Soziologie an der Technischen Universität Berlin, Unabhängiger Kindheits- und Kinderrechtsforscher
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