Wolfgang Hantel-Quitmann: Klinische Familienpsychologie
Rezensiert von Prof. Dr. phil. habil. Barbara Bräutigam, 01.04.2015
Wolfgang Hantel-Quitmann: Klinische Familienpsychologie. Familien verstehen und helfen. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2015. 312 Seiten. ISBN 978-3-608-94727-4. D: 34,95 EUR, A: 36,00 EUR, CH: 46,90 sFr.
Thema
Dieses Buch beschreibt verschiedene Störungen, Krankheiten und klinische Phänomene im Kontext von Familienbeziehungen und deren Auswirkungen auf das familiäre Klima und die einzelnen Familienmitglieder. Anhand von Fallbeispielen wird zunächst die praktisch psychotherapeutische und beraterische Arbeit mit den Familien vorgestellt, daran schließen sich dann aktuelle Befunde sowie allgemeine Überlegungen zu dem jeweiligen Störungsbild an. Das Buch schließt mit einem Kapitel über die Zusammenhänge zwischen Familienbeziehungen und psychischen Erkrankungen ab.
Autor und Entstehungshintergrund
Wolfgang Hantel-Quitmann ist Professor für Klinische Psychologie und Familienpsycholigie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. Er ist u. a. Autor des ebenfalls bei Klett-Cotta erschienen Buches „Basiswissen Familienpsychologie“. Er arbeitet als systemischer Paar- und Familientherapeut in eigener Praxis und leitet den Masterstudiengang „Angewandte Familienwissenschaften“.
Aufbau
Das Buch ist nach einer Einführung in die Thematik der klinischen Familienpsychologie in zehn Kapitel gegliedert.
Das zweite Kapitel widmet sich dem Thema der Gewalt in nahen Beziehungen, das dritte beschäftigt sich vorrangig mit psychosomatischen Familienmustern. Das vierte und fünfte Kapitel nehmen die Störungsbilder Anorexie und Schizophrenie in den Blick, das sechste und siebte Kapitel thematisieren die Auswirkungen von elterlichen psychischen Störungen und Suchterkrankungen auf die Familie. Das siebte Kapitel erörtert die Bedeutung von Stress in Hochkonfliktfamilien, das achte und neunte Kapitel beschäftigen sich mit Vernachlässigung, Misshandlung und sexuellem Missbrauch in Familien. Das zehnte Kapitel bildet das Schlusskapitel und widmet sich dem emotionalen Familienklima als einem wahlweise zentralen Resilienz- bzw. Risikofaktor.
Inhalt
Bereits in der Einleitung macht der Autor deutlich, dass Familienbeziehungen die ganze Bandbreite zwischen „Fluch und Segen“ abdecken. Er verwendet das, „Bild eines Kaleidoskop als Metapher für Entwicklungen in Familien“ (11). Ein zentraler Gedanke, der sich durch das gesamte Buch zieht, ist die These, dass die individuelle Betrachtung von klinischen Störungen zu kurz greift und dass es notwendig ist, diese im familiären und mehrgenerationellen Kontext zu verstehen. Die Auswahl der dargestellten Störungsbilder begründet Wolfgang Hantel-Quitmann so, dass er diejenigen beschrieben hat, die im Rahmen der klinischen Familienpsychologie besser verstanden und behandelt werden können.
Das Buch beginnt mit einem eindrucksvollen Beispiel von partnerschaftlicher Gewalt, in der eine Frau ihren Partner körperlich attackiert und der Therapeut – zugleich Autor des Buches – sehr plastisch seine diesbezüglichen Gefühle und Gegenübertragungsphänomene erläutert. Ausgehend von diesem Fallbeispiel werden verschiedene Facetten des Phänomens von Gewalt in intimen Beziehungen beleuchtet – Besitz- und Tötungsphantasien, verschiedene Formen von Gewalt in unterschiedlichen familiären Konstellationen und die relevanten innerpsychischen Dynamiken, wie z. B. der Verlust von Empathie, die dabei eine Rolle spielen. Das Kapitel endet wie alle folgenden Kapitel mit vertiefenden Fragen zum Thema – daran wird der Lehrbuchcharakter des Buches deutlich.
Die weiteren Kapitel sind in der gleichen Weise konzipiert, alle beginnen mit einem thematisch hinführenden Fallbeispiel, auf das zumeist am Ende des Buches, nochmal Bezug genommen wird. In allen Kapiteln werden familiendynamische Muster, transgenerationelle Mechanismen, theoretische störungsbezogene Erklärungen und Behandlungsansätze beschrieben. In den Kapiteln über Suchterkrankungen sowie Vernachlässigung und Misshandlung werden zusätzlich Risiko- und Schutzfaktoren für die Familien bzw. für die seelische Gesundheit von Kindern erörtert. Im letzten Kapitel legt der Autor ein besonderes Augenmerk auf den Umgang mit Emotionen in Familien und beleuchtet den Zusammenhang zwischen Gefühlen und sozialen Erwartungen sowie zwischen Gefühlen und Konflikthaftigkeit und dem allgemeinen familiären Klima. Er schließt mit Überlegungen zu einem herzlichen familiären Klima als bedeutsamem Resilienzfaktor, der auch wesentlich zur individuellen „Herzensbildung“ beitragen könne.
Diskussion
Das Buch gibt einen sehr interessanten und ausgesprochen gut und verständlich geschriebenen Überblick über klinisch relevante Phänomene und Störungsbilder, die gravierende Auswirkungen auf Familien haben. Besonders eindrucksvoll sind die Kapitel über Gewalt, Konflikte, Misshandlung und Missbrauch sowie das Schlusskapitel über die besondere Bedeutung des emotionalen Familienklimas für die Entwicklung von Kindern. Sehr gelungen ist die Verknüpfung von sehr lebendig und anschaulich beschriebenen Fallbeispielen, in deren Prozess der Therapeut und Autor sich auf sehr angenehm zu lesende Weise mit einbezieht, mit den theoretischen und behandlungsrelevanten Überlegungen.
Ein wenig kritisch zu hinterfragen ist die Auswahl der klinischen Störungsbilder – so ist beispielsweise nicht einsichtig, warum z. B. die Angsterkranungen kein eigenes Kapitel erhalten haben, und warum der kindliche Kopfschmerz und nicht der kindliche Bauchschmerz thematisiert wird – da hätte man sich eine etwas klarere Begründung gewünscht. Das Kapitel über Schizophrenie berücksichtigt zu wenig neuere ätiologische Theorien, die rein gar nichts mit dem familiären Klima zu tun haben und gerät auf diese Weise etwas tendenziös. Das ändert aber nichts daran, dass die Konzeption des Buches insgesamt sehr überzeugt und das Buch eine Fülle von Informationen, aktuellen Befunden und therapeutisch hoch relevanten Überlegungen enthält.
Fazit
Ein sehr lesenswertes, hervorragend geschriebenes und sehr informatives Fachbuch mit kleinen Schwächen in einzelnen Kapiteln. Es ist für alle Fachkräfte, die mit Familien arbeiten, zu empfehlen, da es unschätzbares Wissen insbesondere zu der Bedeutung von Emotionen und Konflikten in Familien bereithält. Das Buch ist Praktiker_innen aber auch im Hochschulkontext als Lehrbuch sehr zu empfehlen!
Rezension von
Prof. Dr. phil. habil. Barbara Bräutigam
Professorin für Psychologie, Beratung, Psychotherapie an der Hochschule Neubrandenburg, E-Mail braeutigam@hs-nb.de; Homepage: http://www.hs-nb.de/ppages/braeutigam/
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Es gibt 19 Rezensionen von Barbara Bräutigam.
Zitiervorschlag
Barbara Bräutigam. Rezension vom 01.04.2015 zu:
Wolfgang Hantel-Quitmann: Klinische Familienpsychologie. Familien verstehen und helfen. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2015.
ISBN 978-3-608-94727-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18267.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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