Christine Feil, Regina Decker u.a.: Wie entdecken Kinder das Internet?
Rezensiert von Michael Kobbeloer, 01.02.2005

Christine Feil, Regina Decker, Christoph Gieger: Wie entdecken Kinder das Internet? Qualitative Studie zum Erwerb von Internetkompetenzen.
VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2004.
200 Seiten.
ISBN 978-3-8100-4227-9.
22,90 EUR.
CH: 40,10 sFr.
Schriften des Deutschen Jugendinstituts.
Einführung in das Thema
Kinder und Internet - das gibt es nicht! Nicht selten höre ich derartige Aussagen von Eltern und PädagogInnen. Deutlich mehr als ein Drittel der 6-7jährigen und inzwischen wohl zwei Drittel der 6-13jährigen nutzen das Internet zumindest selten. Soweit die Tatsachen. Die genannte und auch in diesem Buch zum Teil deutlich werdende permanente Fehleinschätzung von PädagogInnen zur Nutzung von Medien macht eine umfassende Internetkompetenz notwendiger den je. Das Buch geht u.a. den Fragen nach: Was interessiert Kinder am und im Internet? Was bereitet ihnen Spaß, was Probleme? Wie gehen sie bei der Suche und Selektion vor? Was bedeutet Internetkompetenz im Kindesalter? Der kinderspezifische Internetumgang ist der zentrale Aspekt der Studie "Wie entdecken Kinder das Internet?". Präsentiert werden Ergebnisse aus teilnehmenden Beobachtungen von Internetbesuchen 5- bis 12-jähriger Kinder. Die Befragung von Eltern und ErzieherInnen zur Bedeutung des Internets im Alltag ordnen die Internetaktivitäten der Kinder in ihr je spezifisches Erfahrungsspektrum ein. Das weit verbreitete Bild vom "medienkompetenten Kind" wird vor dem Hintergrund des Internetumgangs der Kinder zur Disposition gestellt. Schließlich wird Internetkompetenz altersspezifisch differenziert, um medienpädagogische Handlungspotenziale aufzuzeigen, die Kinder befähigen, das Internet für sich selbst "gewinnbringend" zu nutzen.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in ein Vorwort und 6 Kapitel gegliedert und wird durch einen ausführlichen Anhang ergänzt. Jedes Kapitel wird am Ende kurz zusammengefasst.
1. Vorwort
2. Kinder online: Nutzungsdaten, Webangebote, Entwicklungstrends. Sehr interessante, umfangreiche und umfassende Darstellung der verfügbaren quantitativen Daten zur Internetausstattung und Internetnutzung der Haushalte, Kinder und Schulen. Neue inhaltliche und ökonomische Erweiterungen im deutschen Kinderweb und aktuelle Veränderungen im Kinder- und Jugendschutz werden umfassend dargestellt. Abschließend findet eine Verortung der auf die Kinder bezogenen Begriffe Internetkompetenz und Internetpädagogik in den Bereich der Medienkompetenz und Medienpädagogik statt, der die Besonderheiten dieses Anforderungsprofils für Kinder deutlich macht.
3. Wie entdecken Kinder das Internet? - Informationen zur empirischen Studie. Umfangreiche Informationen zur Fragestellung, dem Untersuchungsziel und -design sowie dem methodischen Vorgehen. Kurze Beschreibung der Erhebungsinstrumente Leitfadeninterview (die Leitfäden für die Gespräche mit den Erzieherinnen und Eltern befinden sich im Anhang), technikgestützte teilnehmende Beobachtung und CFT (Culture Fair Intelligence Test). Weitere Informationen zur Strukturierung und dem Ablauf der Beobachtung, zur Auswahl der Kinder, der Zusammensetzung des Samples und zur Datenauswertung und der anschließenden Darstellung der Ergebnisse.
4. Die Rolle der digitalen Welt im Alltag der Kinder: Ergebnisse aus der Eltern- und Erzieherinnenbefragung. Zunächst wird die Internetumgebung in Familien und Horten an Hand der Fragen, wie und warum der Internetzugang überhaupt eingerichtet wurde, wie Infrastruktur des Internets in den Institutionen und Familien aussieht, wo der PC steht und welchen Zugriff die Kinder auf das Internet haben, erläutert. An die Darstellung von Häufigkeit und Dauer der Nutzung der Kinder schließt sich die Beschreibung der pädagogischen Begleitung und Kontrolle der internetnutzenden Kinder im Bezug auf Nutzungszeit, Kosten, jugendgefährdende Inhalte, Beaufsichtigung, Werbung, Schutzmaßnahmen an. Interessant ist wie so oft die Frage, was wissen eigentlich die Eltern und Erzieherinnen über den Umgang der Kinder mit dem Internet deren Ergebnisse hier dargelegt werden. Im folgenden Abschnitt wird beschrieben, wie Kinder überhaupt von Webseiten erfahren, welche sie favorisieren, was sie im Netz tun, wie sie die Seiten wieder finden und mit welcher Neugier, Experimentierfreudigkeit und Selbstständigkeit sie sich im Netz bewegen. Der im Allgemeinen häufig genannte Aspekt des Lernens mit dem Internet wird sehr kurz thematisiert. In diesem letzten Teil des 3.Kapitels geht es zu dem noch um mögliche Unterstützungsleistungen von Eltern und ErzieherInnen, deren eigenen Erfahrungen mit dem Medium und den Internetkompetenzen ihrer Kinder.
5. Die beobachteten Kinder: Kurzporträts und typisierende Beschreibung. Zum Verständnis des Internetumgangs der Kinder ist es wichtig, auch etwas mehr über sie zu wissen. Dieser Notwendigkeit wird hier genüge getan, in dem anonymisiert und in Kurzform etwas über die lesekundigen Vorschulkinder, die unsicheren, aber lernbegierigen Mädchen, die lese- und entdeckungsfreudigen Mädchen, die spontan-experimentierfreudigen Kinder, die engagierten und ambitionierten "Internet-Spieler" und die männlichen, schon jugendlichen Computerspieler berichtet wird.
6. Beobachtungen zum Internetumgang der Kinder: Ergebnisse. Das Kernkapitel des Buches in dem es um die Ergebnisse der Beobachtungen geht. Zunächst wird hier auf die Anfänger- und kinderspezifischen Probleme (Lesen, Schreiben, Internetsprache) beim Umgang mit dem Internet und anschließend auf das Informationsverhalten der Kinder im Internet Bezug genommen. Es folgen Auswertungen bezüglich der Selektionsstrategien beim Spielen im Netz (Vorerfahrungen, Spielvorlieben, geschlechtstypisches Verhalten), des Kommunikationsverhaltens (eMail, Chatten, Interaktion, kommunikationsfördernde Aspekte) und zum Orientierungsverhalten, also der Navigation in Hypertexten der Kinder (Umgang mit Maus, Tastatur, Browser, Orientierungspunkte), also auch darum wie Kinder Orientierungsprobleme bewältigen. Mit Trial and Error überschrieben ist das folgende Unterkapitel zu den Suchstrategien der Kinder (Vorerfahrungen, Wissen über Suchtechniken, Suchmotivation, Suchbegriffe und deren Auswahl, Suchen lernen) an dem sich der letzte Abschnitt dieses Kapitels zur Werbung und den Datenabfragen anschließt.
7. Pädagogische Konsequenzen. Die letzten acht Seiten des Buchs widmen sich den aus der Studie resultierenden Konsequenzen. Die Autoren vertreten hier die Ansicht, dass die öffentlichen Erwartungen im Bezug auf den Bildungswert zu hoch angesetzt werden, dass Kinder bei ihrer Internetnutzung umfangreicher pädagogischer Begleitung bedürfen und dass Eltern und Erzieherinnen dann um den Erwerb eigener "internetpädagogischer Kompetenzen" nicht vorbei kommen. Andere technische Medien wie z.B. der Gameboy können von Kindern autodidaktisch erschlossen werden, dies geht beim Internet nicht. Es werden hier auch Hinweise für Websiteanbieter gegeben.
Literatur, Verzeichnis der Abbildungen, Tabellen, Websites
Anhang
AutorInnen
Dr. Christine Feil, Regina Decker und Christoph Gieger sind wissenschaftliche MitarbeiterInnen in der Abteilung Kinder und Kinderbetreuung des Deutschen Jugendinstituts in München.
Zielgruppe
DozentInnen und Studierende der Erziehungswissenschaft und Medienpädagogik, LehrerInnen und SozialarbeiteInnen, Eltern
Bewertung
Das Buch ist nicht nur das aktuellste und interessanteste zum Thema Kinder und Internet, sondern meines Wissens auch die einzige derart umfangreiche wissenschaftliche Abhandlung hierzu. Die Autoren stellen äußert umfangreich den aktuellen Forschungsstand auf diesem Gebiet dar und entwickeln eigene Forschungsfragen zum Thema, deren Ergebnisse eine hohe aktuelle Relevanz für die Praxis haben. Aus den Ergebnissen wird deutlich und am Ende auch resümiert, dass das Internethandeln der Kinder an die Hilfen durch Eltern und Pädagogen gebunden ist. Die weiteren Resümees fallen moderat aus, es gibt keine Patentrezepte sondern Anregungen für einen konstruktiven Umgang mit dem Thema. Zu Erwarten war und dies wird hier auch deutlich herausgearbeitet, dass die Internetkompetenz der Eltern und ErzieherInnen nicht ausreicht, um die Kinder kompetent pädagogisch in diesem Bereich zu begleiten. Vielen Eltern und ErzieherInnen sind die Lernpotentiale des Internets noch nicht deutlich geworden - hier besteht nach wie vor großer Handlungsbedarf, vor allem im Hinblick auf die parallel verlaufende Entwicklung in der Bildungslandschaft.
Fazit
Das Buch "Wie entdecken Kinder das Internet?" von Christine Feil, Regina Decker und Christoph Gieger ist nicht nur zu empfehlen, es sollte Pflichtlektüre für alle PädagogInnen werden, die in Kindergarten, Hort und Grundschule arbeiten bzw. in Zukunft dort arbeiten werden - also ebenfalls zum Thema in der Ausbildung von ErzieherInnen und GrundschullehrerInnen werden. Und eben diese Zielgruppe hat dann auch die Aufgabe, dieses Thema den Eltern näher zu bringen.
Rezension von
Michael Kobbeloer
ist Autor, Trainer und Vortragsredner. Er erlebte das Bildungssystem aus allen Perspektiven und gab zuletzt seinen Beruf als Studiendirektor und Leiter einer Fachschule auf. Mit "emodaktik® - lernen erLeben" hat er sein Konzept der "Emotionalen Didaktik" umgesetzt und begleitet Lehrende auf dem Weg in ein zukunftsorientiertes Bildungssystem. Er ist unter anderem zertifizierter Trainer für emotionale und erfahrungsorientierte Lernmethoden sowie LernPROzess-Trainer
Website
Mailformular
Es gibt 24 Rezensionen von Michael Kobbeloer.
Zitiervorschlag
Michael Kobbeloer. Rezension vom 01.02.2005 zu:
Christine Feil, Regina Decker, Christoph Gieger: Wie entdecken Kinder das Internet? Qualitative Studie zum Erwerb von Internetkompetenzen. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2004.
ISBN 978-3-8100-4227-9.
Schriften des Deutschen Jugendinstituts.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/1829.php, Datum des Zugriffs 03.10.2023.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.