Johanna Krapf: Augenmenschen
Rezensiert von ao. Prof. i.R. Dr. Franz Dotter, 03.03.2015
Johanna Krapf: Augenmenschen. Gehörlose erzählen aus ihrem Leben. Rotpunktverlag (Zürich) 2015. 220 Seiten. ISBN 978-3-85869-645-8. D: 26,00 EUR, A: 26,80 EUR, CH: 32,00 sFr.
Thema
Das Buch bietet die Lebensgeschichten acht gehörloser Menschen (Geburtsjahrgänge 1941-2001, Umfang jeweils etwa 20 Seiten), eines Cochlea-Implantat-Trägers und einer Gebärdensprachdolmetscherin (Umfang jeweils etwa 10 Seiten), alle SchweizerInnen.
Aufbau und Inhalt
Die Autorin hat Gespräche mit gehörloser Menschen, nach vorbereitenden Kontakten mit der Bekanntgabe verschiedener Fragestellungen mithilfe einer Gebärdensprachdolmetscherin (Ausnahmen sind die beiden letztgenannten Personen) geführt und sie danach „möglichst getreu“ ins Standarddeutsche übersetzt. Auf die Problematik der Anwesenheit einer dritten Person bei den Gesprächen – der Dolmetscherin – und der Übertragung ins „Hochdeutsche“ weist sie selbst hin.
Zwischen den einzelnen Geschichten bieten zehn Kapitel Sachinformation zum Umfeld von Gehörlosigkeit (Umfang jeweils 1-2 Seiten):
- Gebärdensprache,
- Begriffe „gehörlos“, „schwerhörig“ etc.,
- Lautsprachbegleitendes Gebärden,
- Erziehung,
- Mailänder Kongress,
- Gehörlosenkultur,
- Diskriminierung,
- Europäischer Referenzrahmen für Sprachen und die Schweizer Gebärdensprache,
- Cochlea-Implantat,
- Gebärdensprachdolmetschen.
Weitere Erläuterungen zu alphabetisch geordneten Begriffen und ein Literaturverzeichnis finden sich am Ende des Buchs.
Diskussion
Lebensgeschichten gehörloser Menschen sind ein Desiderat, weil sie – da sie in Gebärdensprache erzählt werden – kaum zugänglich sind und die Angehörigen der Gebärdensprachgemeinschaft noch seltener zum Thema gemacht werden als die sprichwörtlichen „kleinen Leute“. Durch ihre Erzählungen wird hörenden Menschen erst klar, welche Leistungen Gehörlose – oft unter widrigen sozialen Bedingungen – erbringen müssen, um als Personen zu „überleben“ und ein erfolgreiches Leben führen zu können. Die Erzählungen repräsentieren ein interessantes Spektrum an Lebensvollzügen gehörloser Menschen zu teilweise unterschiedlichen kulturellen bzw. zeitgeschichtlichen Phasen des Umgangs mit Gehörlosigkeit.
Als verarbeitete, die Person repräsentierende Lebensgeschichten und der für das Buch gewählten Textsorte stellen sie die Nachteile und Diskriminierungen, unter denen die ErzählerInnen zu leiden hatten, allermeistens sehr ruhig, sozusagen neutral dokumentarisch, dar, sodass man sich als LeserIn manche Situation erst selbst vorstellen muss, um ihre Tragweite verstehen zu können. Man kann daraus aber auch ablesen, dass die Entwicklungen besonders der jüngsten Zeit bereits Verbesserungen der allgemeinen Situation mit sich gebracht haben.
Was die Rechte gehörloser Menschen betrifft, fehlt neben dem Hinweis auf die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen leider derjenige auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Auch diese ist nämlich für ihre Sprachenrechte einschlägig, wenn sie in Artikel 2 u.a. festlegt, dass niemand aufgrund seiner Sprache benachteiligt werden darf. Die Verweigerung des Rechts auf die eigene Sprache ist daher auch eine Menschenrechtsverletzung.
Fazit
Erst durch ein Dokument wie ein Buch wird das plastisch, was uns sonst nicht oder kaum zugänglich ist. Im konkreten Fall werden sowohl enorme Alltagsleistungen gehörloser Personen plötzlich „wahr“, als auch die Diskriminierungen, denen sie oft aus Unverständnis oder Intoleranz ausgesetzt waren und zum Teil noch sind. Ein notwendiges und lesenswertes Buch.
Rezension von
ao. Prof. i.R. Dr. Franz Dotter
Sprachwissenschaftler, Universität Klagenfurt
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Zitiervorschlag
Franz Dotter. Rezension vom 03.03.2015 zu:
Johanna Krapf: Augenmenschen. Gehörlose erzählen aus ihrem Leben. Rotpunktverlag
(Zürich) 2015.
ISBN 978-3-85869-645-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18305.php, Datum des Zugriffs 10.09.2024.
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