Günter Mey, Katja Mruck (Hrsg.): Qualitative Forschung
Rezensiert von Prof. Dr. Christel Walter, 23.02.2016

Günter Mey, Katja Mruck (Hrsg.): Qualitative Forschung. Analysen und Diskussionen – 10 Jahre Berliner Methodentreffen. Springer VS (Wiesbaden) 2014. 343 Seiten. ISBN 978-3-658-05537-0. D: 39,99 EUR, A: 41,11 EUR, CH: 50,00 sFr.
Thema
Das Buch informiert über den Stand qualitativer Forschungsansätze. In den Worten der HerausgeberInnen handelt es sich um „eine konstruktive, kritische und die weitere Arbeit anregende Synopse von zehn Jahren qualitativer Forschung im deutschsprachigen Raum“ (S.10).
HerausgeberInnen
Die beiden HerausgeberInnen des Buches sind durch Veröffentlichungen zur qualitativen Forschung ausgewiesen. Den Reader leiten sie mit einem Beitrag ein, in dem sie allgemein über die Entwicklung („Phasen“) der qualitativen Forschung, über die seit 2005 stattfindenden Berliner Methodentreffen sowie über den Aufbau des Buches informieren.
Entstehungshintergrund
Das Berliner Methodentreffen ist in Verbindung mit der Open-Access-Zeitschrift „Forum für Qualitative Sozialforschung“ entstanden und hat sich „zur größten deutschsprachigen Veranstaltung zu qualitativer Forschung“ (S.9) entwickelt. Zum 10. Jahrestag des Methodentreffens wird im Buch eine (Zwischen-)Bilanz gezogen und versucht, die Bedeutung des Methodentreffens für die gewachsene Anerkennung und Etablierung der qualitativen Forschung zu dokumentieren. Eine solche Zielsetzung impliziert, dass das Buch nicht einzelne Methoden oder spezielle Methodologien qualitativer Forschung (etwa im Sinne eines Lehrbuchs) vorstellt, sondern dass methodologische oder theoretische Ansätze und Positionen innerhalb des qualitativen Forschungsfeldes thematisiert und zum Teil kontrovers diskutiert werden.
Aufbau
Das Bilanzierungsziel steht gewissermaßen Pate für den Aufbau des Buches. Nach dem einleitenden Kapitel der beiden HerausgeberInnen, in dem der Aufbau des Buches nur knapp erläutert wird, folgen in Teil 1 – mit „Analysen zum Stand Qualitative Forschung“ überschrieben – neun aktualisierte Vorträge von den Berliner Methodentreffen aus den Jahren 2006 bis 2013.
Im zweiten Teil des Buches werden fünf Podiumsdiskussionen (zum Teil mit vorausgehenden Kurzvorträgen) aus den stattgefundenen Methodentreffen abgedruckt. In sämtlichen ausgewählten Beiträgen werden relevante Themen und Probleme qualitativer Forschung angesprochen. Die Reihenfolge der Einzelbeiträge, die nur teilweise chronologisch angeordnet sind, scheint systematischen, allerdings vorab nicht mitgeteilten Gesichtspunkten zu folgen.
Wer sich vollständig über die Berliner Methodentreffen informieren will – auch über die nach 2013 stattgefundenen Veranstaltungen – kann das auf der übersichtlich gestalteten Webseite tun (www.qualitative-forschung/methodentreffen/index.html).
Inhalt
Teil 1 des Buches beginnt mit dem Abdruck des vorzüglichen Referates von Hans-Georg Soeffner aus dem Jahre 2013. Darin werden Grundzüge einer interpretativen Sozialwissenschaft dargestellt, aus denen sich auch Hinweise auf das historisch spannungsgeladene Verhältnis zwischen sich qualitativ und quantitativ definierender Forschung ergeben. Die angesprochene Thematik durchzieht wie ein roter Faden auch die Mehrzahl der anderen Beiträge des Readers, die somit in der Darstellung Soeffners implizit berücksichtigt werden bzw. sich an dessen Aussagen messen lassen. Eine etwas ausführlichere Darstellung des Referats von Soeffner ermöglicht deshalb, die übrigen Beiträge kursorisch und ergänzend zu behandeln. Nur so lässt sich das thematische Spektrum des Readers im Rahmen einer Rezension abbilden, wenngleich alle Beiträge des Buches lesenswert sind und eigene Inhalte und Akzente einbringen.
Soeffner stellt die „qualitativ“ vorgehende, interpretative Sozialwissenschaft als angewandte verstehende Soziologie auf ein anthropologisches Fundament. Die Schwächung der biologischen Instinktsteuerung führe zur Mehrdeutigkeit des menschlichen Verhaltens. Daraus ergäbe sich für das Wahrnehmen und Handeln des Alltagsmenschen die Notwendigkeit, die mitmenschlichen Aktionen und Reaktionen zu deuten, deren Sinn zu verstehen. Wissenschaftliches und vorwissenschaftliches Deuten und Verstehen beruhten somit auf ähnlicher Grundlage. Für Soeffner bedeutet das, „dass jede Form von Forschung – und damit neben bzw. mit den Geisteswissenschaften auch und gerade die Sozialforschung – auf Akten der Deutung basiert… Insofern ist jede Form der Sozialforschung in einem sehr allgemeinen Sinn interpretativ“ (S.37). Vom alltäglichen Verstehen unterscheide sich wissenschaftliches Interpretieren durch unterschiedliche „Sinnbezirke“ und „Erkenntnisstile“; ihm sei auch weiterhin auferlegt, um die Strukturen des (alltäglichen) Deutens zu wissen und diese zu kontrollieren und „naive“ Deutungen gegebenenfalls zu widerlegen.
Die Analyse der individuellen und historischen Weltbilder und Konstellationen ist nach Soeffner Aufgabe einer hermeneutischen Wissenssoziologie, die sich durch einen Pluralismus der Theorieentwürfe und Methoden auszeichne und dem Anspruch intersubjektiver Nachvollziehbarkeit und Falsifizierbarkeit genügen müsse. Als „größte Gefahr“ (S.40) der Sozialforschung sieht Soeffner die mechanische Anwendung von Theorien und Methoden; weniger dramatisch bewertet er die Differenzen zwischen dem qualitativen und quantitativen Denken und Forschen. Denn, gibt Soeffner zu bedenken, auch qualitative Forschung könne trotz des Verzichts auf standardisierte Verfahren keineswegs eine größere „Natürlichkeit“ der Daten für sich reklamieren; auch hier würden Handlungen und Lebensäußerungen in die Form von Dokumenten gebracht, spielten Selektionsentscheidungen und technische Arrangements eine Rolle. Es entstehe zudem in beiden Ansätzen das Problem der „unkontrollierten Anwendung alltäglicher Deutungsroutinen und Plausibilitätsmaximen“ (S.42). Darüber hinaus führten sozialwissenschaftliche Analysen in der Regel als Endprodukt zu einem Text, fände auch bei nichtsprachlichen Beobachtungen letztlich eine Versprachlichung des sozialen Gegenstandes statt. Weder Grafiken (die wohl zu quantitativen Auswertungen affin sind) noch Interpretationen sollten deshalb „mit dem gelebten Leben in sozialen Welten“ (S.51) verwechselt werden.
Sozialwissenschaftliches Interpretieren kann unter diesen Kautelen nach Soeffner durch extensive Fallanalysen und durch Fallvergleich die Rekonstruktion eines Idealtypus nach Max Weber, „eines objektiven Typus gesellschaftlichen Handelns“ (S.44) zu erreichen suchen, wobei mit der angestrebten „Objektivität“ sowohl die Überprüfbarkeit des Interpretationsvorgangs als auch die Rekonstruktion einer objektivierten intersubjektiv fundierten Sinnstruktur sozialen Handelns gemeint ist. Welche Forschungsanstrengungen mit einer solchen Zielsetzung verbunden sein könnten oder müssten, erläutert Arnulf Deppermann in seinem Beitrag über die Methodologie des Interviews.
Ähnlich wie Soeffner verortet Ronald Hitzler qualitative Forschung in der interpretativen Soziologie, der es „um die Rekonstruktion von subjektivem Sinn und von objektiviertem Sinn“ gehe (S.61). Allerdings würde diese disziplinäre Verortung nicht durchgehend als Basis qualitativen Forschens anerkannt. Trotz dieser Einschränkung scheint Hitzler optimistisch zu sein, dass „die dem interpretativen Paradigma verpflichtete Sozialforschung auf dem Weg zur ‚normal science‘ ist“ (S.66). Das Spannungsverhältnis zwischen „interpretativem Paradigma“ und der zunehmenden Standardisierung qualitativer Methoden thematisiert Hubert Knoblauch in seinem Beitrag. Er sieht die Gefahr eines theorielosen Empirismus, der durch die unüberschaubare Ausdifferenzierung qualitativer Methoden (im Sinne von „tools“) entstehen und durch die Automatisierung der Interpretationsarbeit durch vorhandene Software verstärkt würde, somit die Ziele qualitativer Forschung konterkarieren könnte.
Einen anderen Akzent setzt Jo Reichertz. Er hält es für unerlässlich, dass sich auch qualitative Forschung am Kriterium der Gültigkeit orientiert und Standards wissenschaftlicher Güteprüfung formuliert und einhält. Bezüglich der Diskussion um Mixed Methods-Designs, der Verschränkung qualitativer und quantitativer Forschungsmethoden, äußert sich Reichertz zurückhaltend. Die Verbindung quantitativer und qualitativer Forschung würde weniger durch die Eigenheiten der jeweiligen Methoden erschwert, sondern vor vielmehr durch eine grundlegende unterschiedliche Forschungskultur.
Auch Norbert Groeben beklagt – aus der Perspektive der Psychologie – die „amorphe Vielfalt sowohl auf der Gegenstands- als auch auf der Methodik-Seite im qualitativen Paradigma“ (S.155) und fordert „irgendeinen Konsens über die Außengrenzen des Methoden-Begriffs“ (S.159). Nicht nur damit setzt er einen anderen Akzent als Soeffner oder vor allem Knoblauch. Interessant ist der modifizierte Ausgangspunkt der Methodendiskussion aus der Psychologie heraus: Für Groeben „steht die Psychologie im Mittelpunkt mit interdisziplinären Bezügen sowohl zu den fundierenden materialen Schichten des Mentalen, die vor allem von der quantitativ-naturwissenschaftlichen Tradition thematisiert und bearbeitet werden, als auch den komplexeren sozial-sinnorientierten Schichten, auf die traditionell der qualitative Ansatz eher ausgerichtet ist.“ (S.158) Damit aber stellt sich für die Psychologie die Frage der disziplinären Basis und der Methodenintegration anders dar als etwa für die Soziologie.
Wie groß das Spektrum der im Buch verhandelten wissenschaftstheoretischen Positionen ist, zeigt sich – im Kontrast zu den bereits genannten Beiträgen mit der Verankerung der qualitativen Forschung in etablierten wissenschaftlichen Traditionen – bei Rainer Winter. Er referiert poststrukturalistisch beeinflusste amerikanische Forschungsansätze wie den interpretativen Interaktionismus oder die Autoethnographie, die eine pointiert kritisch-politische Zielsetzung verfolgen. Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, dass „Wirklichkeit … nicht von außen ‚objektiv‘ beschrieben werden“ kann (S.120). „Die traditionelle Vorstellung, es gäbe eine privilegierte Weise, auf die Welt zu schauen“ (ebd.) wird dabei ebenso aufgegeben wie übliche Auffassungen über die Validität von Forschung und wissenschaftlichen Theorien. Es ist allerdings aufgrund des referierenden, resümierenden Textes von Winter schwer zu beurteilen, inwieweit in diesen Ansätzen die etablierten Auffassungen zutreffend kritisiert werden und ob der darin favorisierten Betroffenenperspektive eine privilegierte Validierungsfunktion zukommen sollte (hierzu äußert sich Reiner Keller in seinem den ersten Teil abschließenden Beitrag).
Die Heterogenität der Ansätze und Ansichten fließt auch in die im zweiten Teil des Buches aufgenommenen Podiumsdiskussionen ein, wenngleich hier eher wissenschaftspraktische Fragestellungen fokussiert werden. In zwei der Podiumsdiskussionen werden Möglichkeiten und Ansätze der Verbindung qualitativer und quantitativer Methoden, unter anderem Formen von Triangulation diskutiert. Eine weitere Podiumsdiskussion widmet sich der nach wie vor virulenten Frage der Lehr- und Lernbarkeit qualitativer Forschung. Es werden Vor- und Nachteile unterschiedlicher Lehrmethoden wie online-Kurse oder Lehrbücher ausgelotet und hinsichtlich der notwendigen Gegenstandsadäquatheit und Flexibilität qualitativer Methoden eingeschätzt. Die mangelnde Passung von engen zeitlichen Vorgaben der methodischen Lehrmodule in der Hochschulausbildung und dem zeitlichen Aufwand seriösen qualitativen Forschens scheint jedenfalls kreative Kombinationen von verschiedenen Lehrformen und Arbeitsarrangements zu verlangen. Eng mit dieser Lehr-Lern-Thematik verbunden ist der Diskussionsbeitrag über Forschungswerkstätten. Die zahlreich existierenden Forschungswerkstätten sind Ausdruck der Erfordernisse qualitativer Forschung, Interpretationen intersubjektiv abzuklären und abzusichern. Trotz ihrer großen Verbreitung wird im Beitrag ein mangelndes Wissen über ihre Arbeitsweise und ihren Ertrag konstatiert. So gäbe es kein gesichertes Wissen darüber, ob und welche Interpretations-„Schulen“ existierten, welche gruppendynamischen Prozesse typisch wären oder welche Bedeutung sie für die Lehre und Ausbildung hätte. Eine weitere dargestellte Podiumsdiskussion (im Buch vor dem Kapitel über Forschungswerkstätten platziert) ist forschungstechnisch ausgerichtet und befasst sich mit Fragen der Datenerhebung und -verarbeitung:
- mit der Interviewmethode als dominante Erhebungsmethode in der qualitativen Forschung;
- mit Formen und methodologischen Herausforderungen, unter anderem mit Varianten der Transkription sowie mit dem Verhältnis von transkribierten Daten und Feldnotizen;
- mit dem zunehmenden Favorisieren von Mixed Methods-Studien;
- schließlich mit den Möglichkeiten von Sekundäranalysen und mit der damit verbundenen Notwendigkeit einer angemessenen Archivierung und Zugänglichkeit.
Die im Reader berücksichtigten Diskussionen sind schon von den Fragestellungen her relevant und informativ. Anders als in Lehrbüchern gewinnen sie an Lebendigkeit und Differenziertheit, weil die Diskutanten unterschiedliche, zum Teil auch kontroverse Akzente setzen.
Diskussion
Die Beiträge des Readers verdeutlichen, auf welchen unterschiedlichen bis kontroversen epistemologischen und wissenschaftstheoretischen Vorstellungen qualitative Sozialforschungsansätze beruhen. Nicht nur die – nur am Rande erwähnten – qualitativen Forschungsmethoden sind beinahe unüberschaubar geworden; Gleiches lässt sich auch für deren wissenschaftstheoretische Fundierung behaupten und weitergehend, dass sich hier zum Teil kaum vereinbare Postionen finden, etwa wenn man die kontroversen Annahmen über die Objektivierungsbemühungen vergleicht (z.B. bei Soeffner oder Reichertz versus Winter) oder wenn man die Verankerung qualitativer Forschung in der Verstehenden Soziologie betrachtet. Dieses Spektrum an Positionen und Ansätzen in einem Reader unterzubringen und hervortreten zu lassen, kann als Verdienst des Readers und seiner HerausgeberInnen angesehen werden – ungeachtet der wissenschaftspolitischen Folgen, die sich aus einer solchen Vielfalt qualitativer Forschung ergeben.
Wohl unabsichtlich deutlich wird im Reader übrigens die – von Reichertz angesprochene – nach wie vor bestehende „kulturelle“ Kluft zwischen quantitativ und qualitativ ausgerichteter Forschung. Trotz aller Bemühungen um Methodenmix oder „scheinbarer Liberalität des Methodenpluralismus“ (Groeben, S.153) fällt auf, dass zum Teil nur vage oder unzulängliche Vorstellungen von der je anderen Seite zu bestehen scheinen. So, wenn etwa Rainer Diaz-Bone die Basis der Wirtschaftwissenschaften oder der Experimentalpsychologie auf einige statistische Auswertungsmethoden reduzieren zu können glaubt (S.114) oder wenn Jürgen Rost ein schematisches qualitativ-quantitatives Spiralmodell anpreist (S.195).
Der bunte Reigen qualitativer Forschung, der im Buch aufgezeigt wird, schränkt möglicherweise den potenziellen Leserkreis ein auf Personen, die sich bereits mit qualitativer Forschung oder mit deren Lehre befasst haben. Diese Personen können durch die Lektüre an vielen Stellen des Buches zur weiteren Reflexion angeregt werden. Ob jedoch „Novizen“ qualitativer Forschung – etwa Studierende, die erst wenig mit diesen Ansätzen in Kontakt gekommen sind – ohne weitere Leseanleitung sich in dem Reader zurechtfinden, sei dahingestellt.
Fazit
Der Reader vermittelt in den Referaten und Diskussionen ein differenziertes Bild darüber, mit welchen epistemologischen, wissenschaftstheoretischen und methodologischen Argumenten qualitative Sozialforschung begründet wird und wie diese Begründungen wissenschaftspraktische Fragestellungen, etwa die Lehrbarkeit oder die Bedeutung methodischer Standards, beeinflussen. Wer sich über diese Forschungsgrundlagen und -fragen in dem begrenzten Rahmen eines Buches kundig machen oder sich zu weiterer vertiefender Lektüre anregen lassen möchte, kann von der Lektüre des Readers profitieren.
Rezension von
Prof. Dr. Christel Walter
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