Günter Mey, Hartmut Günter (Hrsg.): The Life Space of the Urban Child
Rezensiert von Prof. Dr. Detlef Baum, 24.07.2015

Günter Mey, Hartmut Günter (Hrsg.): The Life Space of the Urban Child. Perspectives on Martha Muchow’s Classic Study. Transaction Publishers (Piscataway, NJ 08854) 2015. 328 Seiten. ISBN 978-1-4128-5491-7. 79,18 EUR.
Thema
Die klassische Studie der Geschwister Muchow „Der Lebensraum des Großstadtkindes“ erfährt angesichts der veränderten Lebensbedingungen und der Bedingungen des Aufwachsens von Kindern in der Stadt eine neue Bedeutung. Nicht nur, dass das Aufwachsen in modernen Gesellschaften schwieriger geworden ist und Kindheit in der Stadt durch die veränderten sozialräumlichen Strukturen und Bedingungen urbanen Zusammenlebens in der Stadt eine neue Qualität erreicht hat. Vielmehr erfordert das Aufwachsen in großstädtischen Kontexten eine Reihe individueller Kompetenzen der Auseinandersetzung mit Unerwartetem, Widersprüchlichem, Überraschendem und Ambivalentem wie es die Stadt in Maßen schon immer kannte, wie es aber in den letzten Jahrzehnten durch kulturelle Heterogenität, Pluralität von Lebensstilen und Verhaltensweisen im öffentlichen Raum auch noch nie so konfliktträchtig war und zur Auseinandersetzung mit dem Anderen herausforderte. Kompetenzen, die das Dorfkind nicht braucht, dafür aber andere hat, die dem Stadtkind wiederum fremd sind.
Wie also erobert das Großstadtkind unter diesen veränderten Bedingungen seinen Lebensraum, seine sozialräumlich geprägte Lebenswelt und wie prägen diese sozialräumlichen Kontexte die Erfahrungsmöglichkeiten und die Lebenswelt des Großstadtkindes? Diese Frage beschäftigt die Forschung nicht erst seit dem „spatial turn“, was mit M. Muchows Studie gezeigt werden kann.
Herausgeber
- Günter Mey ist Professor für Entwicklungspsychologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal und Direktor des Instituts für Qualitative Forschung an der Internationalen Akademie Berlin.
- Hartmut Günter ist Professor für Entwicklungspsychologie und Direktor des Psychologischen Instituts der Universität Brasilia, Brasilien.
- Jaan Valsiner (Vorwort) ist Professor für Psychologie an der Alborg Universität, Dänemark.
Autorinnen und Autoren
Die übrigen Autorinnen und Autoren kommen aus den Bereichen der Psychologie, der Erziehungswissenschaften, der Kindheitsforschung und den Humanwissenschaften.
Aufbau
Das englischsprachige Buch gliedert sich nach einem Vorwort von Jaan Valsiner und einer Einleitung der Herausgeber in vier große Teile mit mehreren Kapiteln, wobei die Titel der Teile und der Kapitel in der Rezension in der Originalsprache beibehalten werden:
- Background
- The Study
- Theoretical Foundations
- Perspectives
Zum Vorwort
Observation Phenomenology in the Making: Learning from Martha Muchow (Jaan Valsiner)
Zunächst wird die schicksalhafte Entwicklung von Martha Muchows Werk beschrieben, das zunächst in Vergessenheit geriet und das jetzt auch der englischsprachigen Welt zugänglich gemacht werden soll.
Weiter geht es Valsiner um die Beschreibung der Tragik einer engagierten Wissenschaftlerin, die sich viel zu früh das Leben nahm.
Dann beschreibt der Autor den Einfluss von Edmund Husserl und Theodor Lipps auf die philosophische Ausrichtung des Denkens M. Muchows und den Wandel, den sie in ihrer Forschung zur praktischen Beobachtung vollzog.
Nun ist das Buch dank deutscher Wissenschaftlern, allen voran Jürgen Zinnecker wieder aktuell – sowohl, was die Forschungsmethoden angeht, als auch, was die Ergebnisse der Forschung anbelangt. Es geht um die Beobachtung des Alltags, was uns weiter inspirieren kann. Und es geht um einen Transfer der Phänomenologie in die Beobachtung alltäglichen Handelns und Interagierens, den M. Muchow hier vollzieht.
Weiter geht es um die Verbindung zur Umwelttheorie eines William Stern, M. Muchows großem Lehrer, und eines Johann J. von Uexküll, was dieses Werk auch heute noch interessant erscheinen lässt.
Zu: Muchow´s Marks – An Introduction (Günter Mey und Hartmut Günther)
Warum machen wir ein Buch auf Englisch, das vor nahezu 80 Jahren in Deutschland erschien? fragen die Herausgeber. Weil dieses Buch ein Meilenstein in der Erforschung städtischer Kindheit ist.
Kinder sind Akteure und Entdecker ihrer eigenen Umwelt – das ist es, was Martha Muchow abhob von den bis dahin geltenden Vorstellungen von Kindern als „defizitäre Erwachsene“, die man in diese Welt hineinführen muss – Kinder ohne ihre eigene Welt!
M. Muchows Bruder Hans Heinrich Muchow veröffentlichte die Ergebnisse der Forschung 1935 nach ihrem Suizid 1933; deshalb erscheint dieses Buch auch in Deutschland als das Buch der beiden Muchows. Und Jürgen Zinnecker entdeckte dieses Buch in den 1970er Jahren und publizierte es erneut.
Die Autoren beschreiben dann die neue Aufmerksamkeit in Deutschland und im internationalen Kontext – und nicht nur das: sie konstatieren auch eine erneutes Interesse an der Person Martha Muchows im Kontext des aufkommenden Nationalsozialismus.
Es ist der deutschsprachigen Ausgabe geschuldet, dass die internationale zur Kenntnisnahme lange auf sich warten ließ. Und es war der eingeschränkte Blickwinkel auf die Psychologie, die andere wissenschaftlichen Perspektiven und theoretischen Ansätze nicht zur Geltung kommen ließen.
Anschließend werden von den Herausgebern das Konzept des Buches erläutert und zu den einzelnen Kapiteln Stellung genommen.
Zu: Teil I
Zu: Martha Muchow and Hand Heinrich Muchow: The Life Space of the Urban Child – The Loss and Discovery, Connections and Requisites (Imke Behnken und Jürgen Zinnecker)
I. Behnken und J. Zinnecker beschäftigen sich in diesem Kapitel einerseits mit der Entstehung und Entwicklung der Studie mit dem Titel „Der Lebensraum des Großstadtkindes“. Andererseits wird der Lebenslauf und der wissenschaftliche Werdegang M. Muchows nachgezeichnet.
M. Muchows Studie erschien in einer Schriftenreihe „Der Ertrag der Hamburger Erziehungsbewegung“; ihr Bruder H. H. Muchow veröffentlichte sie nach ihrem Tode.
Erst 43 Jahre später (1978) erschien die Studie als Reprint, herausgegeben von Jürgen Zinnecker. Die Einleitung von J. Zinnecker trug den programmatischen Titel: „Der Lebensraum des Großstadtkindes. Eine Reise zu unterdrückten Lebensräumen und wissenschaftlichen Traditionen“.
Dieser Prozess der Wiederentdeckung der Studie im Kontext der gesellschaftlichen Veränderungen in Deutschland durch J. Zinnecker wird ausführlich beschrieben. Auch die Situation in Hamburg während und nach dem Krieg wird anschaulich dargelegt und mit Bildern unterlegt – Hamburg ist ja der Ort, an dem M. Muchows Studie verankert war.
Weiter beschreiben die Autorin und der Autor ausführlich den Weg dieser Studie bis zur Ausgabe 2012 und ihre Rezeption im Lichte neuerer Ansätze und Perspektiven.
Zu: Martha Muchow – A Life Devoted to Educational Enlightment and to the Scientific Foundation of Understanding Children´s Worlds (Kurt Kreppner)
Der Autor ordnet Martha Muchow als eine politisch engagierte Persönlichkeit und eine brillante Wissenschaftlerin in die damalige Zeit ein, in die Zeit des Umbruchs von der Weimarer Republik nach dem ersten Weltkrieg bis zum beginnenden Nationalsozialismus.
Dazu gehörten auch die Entdeckung der Jugend als soziale Erscheinungsform im frühen 20. Jahrhundert, die Reform der öffentlichen Erziehung und die Rolle, die William Stern dabei spielte. Weiter beschreibt der Autor die Situation der Forschung zu Entwicklung und Erziehung in Hamburg und Wien, wo Charlotte Bühler und Hildegard Hetzer wirkten.
Im weiteren Verlauf geht der Autor auf den persönlichen und akademischen Hintergrund von M. Muchow ein, auf ihren wissenschaftlichen Weg und ihre Engagement am Institut in Hamburg. Vor allem ging es Martha Muchow um den sozialökologischen Blick auf Lern- und Entwicklungsprozesse bei Kindern und auf die Beziehung zwischen Subjekt und objektiver Umgebung, um das Aufwachsen von Kindern im Kontext ihrer natürlichen Umgebung.
Zu: Martha Muchow´s Life Space Study in the Context of Contempory Childhood and Adolescent Research (Elfriede Billmann-Mahecha)
Zunächst beschreibt die Autorin die Situation der Psychologie während der Zeit der Weimarer Republik als eine Phase, in dem es um den Konflikt zwischen wissenschaftlichen und humanistischen Orientierungen in der Psychologie ging. Insbesondere die Entwicklungspsychologie hat mit Namen wie W. Stern, Karl und Charlotte Bühler und Eduard Spranger einen Bedeutungsaufschwung erfahren.
Im weiteren Verlauf werden ausführlich Studien vorgestellt, die sich mit der Frage beschäftigen, wie die Umwelt des Kindes und des Jugendlichen auf seine Entwicklung Einfluss nimmt: Kurt Lewin, Das Kind und die Welt; Hildegard Jüngst, Die jugendliche Fabrikarbeiterin und Siegfried Bernfeld, Ein Freundeskreis.
Zu Teil II
Zu: The Life Space of The Urban Child (Martha Muchow und Hans Heinrich Muchow 1935/1978)
In diesem material umfangreichsten Kapitel des Buches beschäftigen sich die beiden Muchows mit ihrer Studie „Der Lebensraum des Großstadtkindes“ und stellen sie von Anbeginn ihrer Entstehung ausführlich vor. In den Jahren 1927/28 fand ein Seminar statt, das sich mit dem Einfluss der Großstadt als eine spezifische Umwelt auf die Entwicklung des Kindes beschäftigte. Dies war die Geburt der Studie. Zunächst stellen die beiden Muchows die Methode vor. 109 Mädchen und Jungen wurden mit Landkarten ausgestattet und gebeten, die von ihnen meist aufgesuchten und bevorzugten Plätze zu markieren. Außerdem wurden Studenten befragt.
In einem zweiten Kapitel nehmen sie zur Struktur des Lebensraums Stellung und analysieren den Lebensraum, der zum Erfahrungsraum der Jugendlichen und der Studenten geworden ist und stellen Vergleiche an. Dies wird auch an Hand der Darstellung der örtlichen Gegebenheit ausführlich erörtert.
Drittens wird die Gestalt des Lebensraum analysiert, der sich nicht unbedingt mit dem alten ländlichen Dorf Barmbeck deckt – einem heutigen Stadtteil von Hamburg.
In einem weiteren Kapitel erörtern die beiden Muchows den Lebensraum als Erfahrungsraum des Kindes, stellen die Methode und das Material vor und setzen sich mit Spielplätzen und Spielen des Großstadtkindes und seiner Freizeit auseinander.
Im weiteren Kapitel beschäftigen sich M. und H. Muchow mit des Lebensraum als Raum, in dem und durch ihn das Kind lebt. Sie diskutieren zunächst methodologische Aspekte, um dann auf den Platz und seinen besonderen Zweck oder seine Bedeutung in der Welt des Kindes einzugehen, wie: als realer Platz, als Platz mit seinen zweckvollen Gebäuden oder als Platz des Handelns für Jugendliche.
In einem dritten Kapitel geht es um Brachen, um leere Plätze und um Plätze, die als Spielplätze besetzt werden. Sie alle sind Bestandteile der Welt des Großstadtkindes. Dies wird an Hand der Örtlichkeiten ausführlich geschildert und begründet. Weiter gehen sie auf die Straße als Spielplatz ein, der von den Großstadtkindern bevorzugt benutzt wird, aber auch quasi-öffentliche Räume wie das Kaufhaus zählen zu Spielorten der Kinder und Jugendlichen. Überhaupt wird das Kaufhaus als Inbegriff der großen Welt betrachtet.
Zu: An Environmental Pychologist as Translator: Some Personal Comments on The Life Space of the Urban Child (Hartmut Günther)
Der Übersetzer von M. und H. Muchows Werk, der sich zugleich auch als Umweltpsychologe präsentiert, setzt sich auf diese Weise mit dem Werk Martha Muchows auseinander. Zunächst stellt er den Gegenstand einer (Umwelt-) Psychologie vor, um dann auf Theorien und Methoden einzugehen. Dabei werden eine Reihe von Autoren und Protagonisten einer Umweltpsychologie zitiert und diskutiert. Mit Cognitive Maps werden Beziehungen von Person und Umwelt vorgestellt und erörtert; weiter geht es um den Aufforderungscharakter (Valence), wie ihn Lewin beschreibt und um Affordance (J. Gibson) als das, was M. Muchow mit der Interaktion von Person und Umwelt umschrieben hat. Weiter geht es um den Platz als Ort, der mit einer Bedeutung versehen ist, der seine Geschichte hat und diese mit denen teilt, die ihn besetzen oder sich aneignen.
Zu Teil III Theoretical Foudations
Zu: Personalistic Undertones in The Life Space of the Urban Child (James T. Lamiell)
Der Autor beschäftigt sich in seinem Beitrag mit dem von M. Muchow hochgeschätzten Lehrer William Stern und den zentralen Themen seines Instituts, das nach Gründung der Universität Hamburg in die Universität integriert wurde. Eines der zentralen Linien des Laboratoriums war die Hinführung zu einer Individualpsychologie oder besser: Persönlichkeitspsychologie.
Lamiell setzt sich mit der Korrespondenz auseinander, die W. Stern mit Kollegen und Freunden führte.
Der Weg W. Stern wird nachgezeichnet, Stationen benannt und ausführlich beschreiben: Breslau 1896-1916, Hamburg 1916-1934. Der Autor zeichnet persönlichkeitspsychologische Aspekte in Muchows „Der Lebensraum den Großstadtkindes“ nach; etwas, was auch Stern dachte: die Beziehung von Person und Umwelt, die Person-Welt-Konvergenz.
Zu: Applying Jakob von Uexküll´s Concept of Umwelt to Human Experience and Development (Lauri Linask, Riin Magnus und Kalevi Kull)
Das Autorenteam leitet zunächst mit der Situation der Wissenschaft in den 1920er Jahren ein, die in Hamburg mit J. v. Uexküll, W. Stern, H. Werner und M. Muchow eine besondere Entwicklung nahm. Weiter beschäftigen sich die Autoren mit dem Konzept der Umwelt. Umwelt wird als selbstbezogene Welt verstanden, die bekannt ist oder durch den Organismus geformt wird (Kull). Die Auseinandersetzung mit dem Umweltbegriff wird ausführlich und differenziert erörtert, unterschiedliche Umwelten werden diskutiert wie sie J. v. Uexküll entwirft. Weiter setzen sich die Autoren mit den Wahrnehmungsstrukturen und die operationalen Strukturen einer Human World auseinander, um dann der Dynamik und der Variation der Beziehungen des Organismus zu seiner Umwelt ausführlich und differenziert nachzuspüren.
Zu: Beyond Methodological Dichotomy – Martha Muchow´s Methodological Foundations und Their Relation to Phenomenology (Peter Faulstich und Hannelore Faulstich-Wieland)
In diesem Beitrag geht es der Autorin und dem Autor um die Beziehung der methodologischen Grundlage in Martha Muchows Werk und ihre Beziehungen zur Phänomenologie.
Zunächst verstehen die beiden Autoren Martha Muchows Werk als ein Beitrag zu einem methodischen Pluralismus. Von der Kritik narrativer Methoden präferiert M. Muchow auch biographische Methoden und bringt sie auch zusammen. Dies gilt vor allem für die Kindheits- und Jugendforschung. Und hier lehnt sich M. Muchow stark an ihren Lehrer und Förderer W. Stern an. Dies wird bereits auch in ihrer Dissertation „Studien zu Psychologie des Erziehers“ deutlich, wo sie sich stark an die Phänomenologie anlehnt.
Die Frage nach Universellem, Typischem und Individuellem beschäftigt M. Muchow in der Festschrift für W. Stern. Was unterscheidet Menschen als Typen und als Individuen und was ist ihnen quasi universell gleich?
Ausführlich gehen die Autorin und der Autor noch auf das Raumverständnis ein, das der Studie M. Muchows zugrunde liegt. Unterschiedliche Raumbegriffe werden eruiert wie der phänomenologische Raum, der analytischen Raum, der Raum, der Beziehungen konstituiert und das Individuum in seiner Beziehung zum Raum versteht (relationaler Raum).
Zum Schluss wird dann noch einmal zusammenfassend die methodologische Weiterentwicklung in M. Muchows Werk herausgearbeitet.
Zu: Teil IV Perspectives
Zu: Martha Muchow´s Contribution to Developmental and Ecological Psychology – Children´s Places as Contexts for Behaviour and Development (Urs Fuhrer)
Was bedeuten Plätze in der Entwicklung von Kindern? Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dieser Frage bezogen auf die Studie Martha Muchows. Es geht um die Verbindung von Entwicklungspsychologie und Umweltpsychologie und es geht um die Bedeutung des sozialräumlichen Kontexts, in den die Persönlichkeitsentwicklung eingebettet ist. Natürlich beschäftigt den Autor die Tradition W. Sterns und seine Persönlichkeitspsychologie und die Verbindung, die M. Muchow dazu hat. Und in ihrer Studie geht M. Muchow auch vor allem auf die aushäusigen Beziehungen der Kinder, auf Verhaltensweisen und auf die Art der Besetzung von Räumen ein und diese Räume sind in der Stadt Straßen und Plätze. Der Autor zitiert eine Reihe anderer Studien, die solche Aktivitäten thematisieren und geht dann ausführlich auf die konzeptionellen und methodologischen Ansätze ein, die die räumliche Umwelt als Einflussfaktor auf die Entwicklung von Kindern erklären.
Weiter spielt in einer Reihe von Studien die Distanz zur Wohnung eine entscheidende Rolle in der Erklärung der alltäglichen Raumerfahrung von Kindern. Dies wird ausführlich diskutiert, bevor dann der Behaviour-Setting-Ansatz differenziert und ausführlich diskutiert wird.
Zu: Martha Muchow´s Methodological Heritage – Pioneering Qualitative Research (Günter Mey)
Auch in diesem Beitrag geht es um die methodologische Verbindung von Persönlichkeits- und Umweltpsychologie im Werk von M. Muchow. Der Autor identifiziert bei Muchow drei von ihr unterschiedene Lebenswelten des Kindes:
- der Lebensraum als Raum, in dem das Kind lebt;
- der Lebensraum als Raum, den das Kinder erlebt;
- der Lebensraum als Raum, den das Kind lebt.
Weiter beschäftigt den Autor die Hinwendung M. Muchows zu qualitativen Forschungsmethoden, die theoretische Positionen aus der Sicht des Individuums zu entwickeln vermögen, die jenseits der Laborsituation das wirkliche Leben der Individuen zu erfassen vermögen und die schließlich den Prozess zu reflektieren vermögen, der sich durch die Beziehung des Forschers zu den Erforschten entwickelt.
Diese Diskussion wird ausführlich geführt und thematisch vielfältig ausgebreitet. Kartographie, Interviews, Essays und eine differenzierte Beobachtung werden zunächst von Mey ausführlich dargestellt und dann in ihrer Kombination bei Muchow als Innovation identifiziert und beschreiben.
Zu: Children as Actors – Muchow´s Liefe Space Studie and Its Implications for „New“ Childhood Studies (Beatrice Hungerland)
Hier handelt es sich um eine weitere Bemühung, das Werk Martha Muchows und ihren innovativen und couragierten Methodenansatz zu würdigen. Die Kinder in ihren Perspektiven als Forschungsgegenstand einzubeziehen und sie nicht länger als zu formende Wesen zu sehen, war in der Tat ein Paradigmenwechsel in der Betrachtung der Kinder. Kinder als Akteure, die ihre eigene Weltsicht und eigene Deutungsmuster haben, die sich soziale Räume anderes aneignen als Erwachsene – das würdigt die Autorin und begründet diese Würdigung inhaltsvoll. Damit verändert sich nämlich auch die sozialisationstheoretische Perspektive: das Kind auch als jemand, der sich „selbst“ entwickelt und nicht nur entwickelt werden muss.
Moderne Gesellschaften kennen das Phänomen der Kindheit als das Ensemble aller Bedingungen, unter denen Kinder leben und aufwachsen; das Ensemble aller Erwartungen, die die Gesellschaft an sie hat, werden damit auch verknüpft. Diese soziologische Sicht arbeitet die Autorin bei M. Muchow gründlich und ausführlich heraus. Und es kommt heraus, dass Alterskategorien gesellschaftlich erzeugt und geformt werden und nicht nur natürlich-biologisch bestimmt sind.
Zu: Children in the Classroom (Gerold Scholz)
Der Klassenraum als sozialer Raum oder als Erziehungsraum? Die Frage führt weiter zur Unterscheidung von Kind und Schüler oder besser: das Kind in der Rolle des Schülers, konfrontiert mit den normativen Erwartungen an eine bestimmte Position. Und man lernt nicht nur in einem Raum, sondern auch durch ihn oder von ihm. Darauf geht der Autor ausführlich ein wie auch auf die Unterscheidung von Räumen, die M. Muchow bei Kindern identifiziert hat.
Weiter geht es dem Autor um die Frage der Körperwahrnehmung im Raum und durch ihn, was auch darauf hindeutet, dass man sich eine andere Situation nicht vorstellen kann, als Menschen im Raum – eine Mensch ohne Raum – unvorstellbar!
Der Autor geht sehr sorgfältig und differenziert mit dieser Frage um, wenn er auch deutlich macht, dass Kinder immer schon in – von Erwachsenen – gemachte Räume, in fertige Räume hineinwachsen. Eine Stadt steht schon, wenn das Kind geboren wird, somit ist der Raum auch immer historisch geprägt und geformt. Und dazu gehört auch die Schule, die wir ja als selbstverständlichen Sozialisationspartner wahrnehmen und uns ins Verhältnis zu ihr setzen – psychisch wie physisch.
Zu: Media. City. Spaces – Children´s Lifeworld (Kristin Westphal)
Es geht um das Verhältnis der Medien zum Raum. Was hat sich im Verhalten und im Denken verändert, nehmen Kinder den öffentlichen Raum angesichts der medialen Vernetzung und Präsentation anders wahr als zu Zeiten Martha Muchows? Wie eignen sich heute Kinder in der Stadt den Raum an, welche Bedeutung geben sie ihm und hat sich das auf Grund der Mediennutzung seit der Studie M. Muchows verändert. Diesen Fragen geht die Autorin nach, wobei sie sich auf die inhaltlichen und methodologischen Aspekte M. Muchows einlässt: die phänomenologische Perspektive und das Denken vom Standpunkt des Kindes aus. In der Tat beschäftigt die Autorin die Frage, welchen Stellenwert die Phänomenologie in der Rekonstruktion von Räumen hat. Die Lebenswelt ist erfahrene und gelebte Räumlichkeit.
Und was kann man über Medien sagen, vom Standpunkt der Räumlichkeit gesehen? Wie werden Räume wahrgenommen? Ging es früher mehr um Nähe und Distanz in der räumlichen Wahrnehmung, geht es heute vielmehr um reale und virtuelle Räume. Beides wird – so die Autorin – noch getrennt gedacht. Und die Kinderwelt und die Erwachsenenwelt, die M. Muchows noch getrennt identifizieren konnte, verschwimmen zusehends. Zum Schluss stellt die Autorin noch methodologische Betrachtungen an.
Diskussion
Sicher gehört Martha Muchows Studie „Der Lebensraum des Großstadtkindes“ zu den in vielerlei Hinsicht klassischen Studien. Ihre Öffnung für die die Beziehung von Person und Umwelt hat die Psychologie bereichert, ihre Sicht auf Kinder als Akteure und Gestalter ihrer eignen Lebenswelt, die sich von der der Erwachsenen unterscheidet, war ein entscheidender Impuls für die Sozialisationsforschung; ihr Blick auf das „urban child“ hat deutlich gemacht, wie sehr die gestaltete Umwelt des Kindes seine Entwicklung beeinflusst und diese Argumentation hat inzwischen auch die Stadtsoziologie erreicht. Die facettenreiche Beschäftigung mit der Studie M. Muchows in diesem Buch macht diese Impulse alle deutlich – und deshalb ist das vorgelegte Buch auch eine Bereicherung der interdisziplinären Diskussion.
Insofern ist die Wiederentdeckung der Studie einerseits ein Segen, andererseits ist es unverständlich, dass sie für eine lange Zeit verloren ging. Das Verdienst des vorgelegten Buches besteht in ihrer englischen Fassung, so dass jetzt auch die Welt außerhalb des deutschen Sprachraums die Möglichkeit hat, die Studie zu rezipieren. Dass sie so nicht verbreitet war, war auch für den Rezensenten neu!
Das Dorfkind hat sich ja schon immer vom Stadtkind unterschieden, sowohl was die Art der Aneignung sozialer Räume betrifft, als auch was das Verhältnis des Kindes zu seiner belebten und unbelebten Umwelt angeht. Aber nicht nur das. Mit der Studie wird einmal mehr verdeutlicht, wie sehr der Raum, seine bauliche Gestalt, seine Möglichkeiten seiner Aneignung seine Wahrnehmungs- und Erkundungsmöglichkeiten die Entwicklung von Kindern befördern oder auch behindern – auch in einem urbanen Kontext Stadt.
Insoweit ist die vorgelegten Perspektiven auf M. Muchows Studie wichtig und hilfreich für die Frage, warum ein benachteiligtes Quartier zu einem benachteiligenden Quartier werden kann, ein privilegiertes hingeben zu einem privilegierenden Quartier wird.
Fazit
Das Buch ist insgesamt eine gute Begründung, warum man sich mit den beiden Muchows und ihrer Studie intensiv auseinandersetzen sollte, bevor man sich mit der Frage beschäftigt, warum Stadtkindheit einerseits heute immer noch eine Bereicherung für die Entwicklung des Kindes ist, andererseits auch die Deprivation von städtischen Räumen die Entwicklung behindert.
Rezension von
Prof. Dr. Detlef Baum
Professor em.
Arbeits- u. Praxisschwerpunkte: Gemeinwesenarbeit, stadtteilorientierte Sozialarbeit, Soziale Stadt, Armut in der Stadt
Forschungsgebiete: Stadtsoziologie, Stadt- und Gemeindeforschung, soziale Probleme und soziale Ungleichheit in der Stadt
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