Günter Mey, Günter Wallbrecht: Auf den Spuren von Martha Muchow
Rezensiert von Prof. em. Dr. Helmut E. Lück, 03.08.2016

Günter Mey, Günter Wallbrecht: Auf den Spuren von Martha Muchow.
Pabst Science Publishers
(Lengerich) 2016.
ISBN 978-3-95853-157-4.
20,00 EUR.
Film. Dolby Digital 2.0, Untertitel englisch, Laufzeit 46 min., Bonusmaterial 37 min., Bildformat 16:9, O Pal. Weitere Angaben:
Regie: Günter Mey, Günter Wallbrecht
Wissenschaftliche Leitung: Günter Mey
Kamera/Schnitt: Günter Wallbrecht
Ton: Timo Selengia
Interviewte: Gertrud Beck-Schlegel, Imbke Behnken, Hannelore Faulstich-Wieland, Mauri Fries, Beatrice Hungerland, Eckart Krause, Rudolf Miller, Rainer Nicolaysen, Gerold Scholz, Kristin Westphal.
Thema
Der dreiviertelstündige Film behandelt den Forschungsansatz von Martha Muchow, die in den 20er- und 30er-Jahren am Hamburger Psychologischen Institut unter der Leitung ihres Doktorvaters William Stern (1871-1938) gearbeitet hat. Mit ihren Studentinnen und Studenten hat sie Kinder im Arbeiterviertel Barmbeck (heute: Barmbek) beobachtet und befragt. Muchows Buch „Der Lebensraum des Großstadtkindes“ gilt inzwischen als Klassiker der Kinder- und Jugendforschung.
Der Film zeigt vor allem Interviews mit heutigen Expertinnen und Experten der Erziehungs-, Sozial- und Geschichtswissenschaften. Drei Themenbereiche stehen hierbei im Mittelpunkt:
- Muchows innovativer und wegweisender Forschungsansatz,
- die Biographie Muchows und
- die Rezeptionsgeschichte des Buches.
Autoren
Günter Mey, der Initiator dieses Films, ist bekannt durch sein Engagement im Bereich der qualitativen Forschung. Er ist Professor für Entwicklungspsychologie an der Hochschule Magdeburg Stendal. Außerdem ist er wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Qualitative Forschung in der Internationalen Akademie Berlin. Zu Martha Muchow hat Mey im Jahr 2015 eine englischsprachige Aufsatzsammlung mitherausgegeben. Dieses Buch hat das Werk von Muchow international bekannt gemacht: Günter Mey, Hartmut Günter (Hrsg.), The Life Space of the Urban Child. Perspectives on Martha Muchow´s Classic Study. Eine Rezenion dieses Buches findet sich in socialnet unter: www.socialnet.de/rezensionen/18307.php.
Günter Wallbrecht hat in Bremen Kulturwissenschaft, Sprach- und Literaturwissenschaft studiert und ist freiberuflich tätiger Filmautor, Regisseur und Kameramann in Hamburg.
Entstehungshintergrund
Der Film ist ein Gemeinschaftsprojekt der Hochschule Magdeburg-Stendal, dem Institut für Qualitative Forschung/Internationale Akademie Berlin und ww-media Hamburg. Er wurde u.a. gefördert von der Marha Muchow-Stiftung.
Gelegentlich wurde Martha Muchow als weitgehend vergessene Entwicklungspsychologin bezeichnet. Doch stimmt das nur bedingt, denn es gab glücklicherweise Personen, die die Erinnerung an sie wach gehalten und über ihre Arbeiten geforscht haben. Da war zunächst ihr Bruder Hans Heinrich Muchow, ein engagierter und angesehener Lehrer in Hamburg, der sich nach dem Suizid von Martha Muchow um die Veröffentlichung ihres Hauptwerks „Der Lebensraum des Großstadtkindes“ (1935) bemühte. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat der 2011 verstorbene Erziehungswissenschaftler Jürgen Zinnecker in Hamburg recherchiert und 1978 und 1998 im Kontext einer kritischen Sozialwissenschaft dieses Buch mit Hintergrundinformationen in Neuauflage herausgegeben. Nun wird mit diesem erfreulich umfassenden Film eine weitere Dimension erschlossen.
Martha Marie Muchow wurde 1892 als Kind des Zollinspektors Johannes Muchow in Hamburg-Altona geboren. Ihr jüngerer Bruder Hans Heinrich Muchow kam 1900 zur Welt. Martha wurde Lehrerin und besuchte Lehrveranstaltungen des Hamburger Vorlesungswesens. (Hamburg hatte zu diesem Zeitpunkt noch keine Universität.) Nach Gründung der Universität wurde Muchow 1920 aus dem Schuldienst als Lehrerin an die Universität abgeordnet. Sie konnte dann 1923 bei William Stern mit einer Arbeit über „Studien zur Psychologie des Erziehers. Methodologische Grundlegung einer Untersuchung der erzieherischen Begabung“ promovieren.
Muchow übernahm verschiedene Aufgaben und war besonders an angewandten Fragestellungen interessiert. So reiste sie mit einer Kindergruppe nach Wyk auf Föhr, um dort die Wirkungen des Seeklimas auf die Psyche der Kinder zu untersuchen. Beachtung fanden Untersuchungen von Martha Muchow und Heinz Werner über magische Verhaltensweisen bei Kindern und Arbeiten von ihr über Auslese von begabten Schülerinnen und Schülern in Hamburg. Martha Muchow rezensierte Fachliteratur, sie hielt Vorträge über psychologische Probleme der frühen Erziehung und sie besuchte durch Kontakt zum „Bund zur Erneuerung der Erziehung“ internationale Kongresse in Dänemark, Schweden, Finnland, Frankreich und in der Schweiz. Hier lernte sie Personen wie Maria Montessori und viele weitere Kolleginnen und Kollegen kennen. Sie trat kämpferisch für eine Zeugnisreform ein, indem sie sich gegen die „Wesensbeurteilung“ der Kinder wandte. Obwohl die DVD den Titel „Auf den Spuren von Martha Muchow“ hat, findet dies alles kaum Erwähnung; es geht den Machern eindeutig um Muchows Hauptwerk, die Lebensraumstudie. Dies ist natürlich berechtigt. Obwohl es sich hierbei nur um eine 80seitige Schrift handelt, ist diese Arbeit ein Meilenstein der Kinderkulturforschung, mit dem auch heute noch eine Auseinandersetzung lohnt.
Als 1933 William Stern aus rassistischen Gründen sein Institut verlassen musste, wurde Martha Muchow, die als „Arierin“ zunächst Leitungsaufgaben bekam, Opfer von NS-Repressalien durch Studenten. Beteiligt waren aber auch Professoren, die an den Ressourcen des Instituts interessiert waren. Muchow sollte wieder zurück in den Schuldienst. Sie war offenbar verzweifelt und schied noch im gleichen Jahr freiwillig aus dem Leben.
Aufbau
Der Film zeigt das Anliegen von Muchow in einer Mischung aus verschiedenen Quellen: Kurze Statements der zehn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden illustriert durch alte Fotos und passende Szenen aus dem Film „Das Kind und die Welt“ (1931) von Kurt Lewin. Zitate aus dem Buch von Muchow und aus ihrem Lebenslauf werden von jungen Schauspielern vorgetragen, ebenso sind überlieferte Äußerungen von Zeitzeugen über Muchows Persönlichkeit und Erinnerungen an die Kindheit in Barmbeck zu hören.
Der Film zeigt dann eine Gruppe der befragten Experten, die sich „auf die Spur“ begeben und einen der Handlungsorte aufsuchen, an dem die Kinder damals spielten: den Löschplatz am Osterbekkanal. Dieser Lebensraum der Kinder unterschied sich deutlich von dem der Erwachsenen. Ein Holzgitter, das den Gehweg von einer Böschung trennte, war für Erwachsene eher eine optische Trennung, für Kinder hatte es jedoch Aufforderungscharakter: Mal wurde mit einem Stock dagegen geschlagen, kleinere Kinder kletterten hindurch und kamen so wieder zurück; das wurde gern auch mehrfach gemacht; Jugendliche klettern darüber; kaum ein Kind konnte ohne irgendeine Berührung daran vorbeigehen. Die Lebenswelt der Kinder umfasst oft gerade jene Bereiche, die für Erwachsene nicht zur Lebenswelt zählen. Im Film wird natürlich auch anschaulich, wie sehr sich dieser Stadtteil und das Leben der Kinder verändert haben. Gruppen von spielenden Kindern, die sich wie früher ohne Verabredung einfach zum Spielen treffen, sieht man hier nicht mehr.
Etwa von der Mitte des Filmes an wird der Lebensweg Muchows nachgezeichnet und auf die Universität Hamburg in der Nazizeit eingegangen. Darüber informieren sachkundig Eckart Krause und Rainer Nicolaysen (Hamburg).
Das „Bonusmaterial“ der DVD bringt neun Statements von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu verschiedenen Fragen im Zusammenhang mit Muchow (je ca. 2-9 min. Länge), zur Person Muchow, zur Psychologie in Hamburg im 20. Jahrhundert, zur Kindheitsforschung in den 70er Jahren und heute sowie zu Lebensraum und Lebenswelt.
Die Einschätzung der Lebensraumstudie von Muchow durch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist ausgesprochen positiv. Hervorgehoben wird die Nähe zu den beforschten Kindern und die bemerkenswerte Methodenvielfalt. Muchow war wohl die erste Wissenschaftlerin, die die enge Verzahnung von Raum und sozialer Situation für Kinder zum Forschungsgegenstand gemacht und mit unterschiedlichen Untersuchungsmethoden erforscht hat. In dieser Hinsicht kann man die Lebensraumstudie vielleicht mit der Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ vergleichen, die in gleicher Zeit in Österreich entstand.
Inhalt und Diskussion
Als Einfluss auf Muchows Denken ist zum einen Kurt Lewin mit seinem Konzept des Lebensraumes und der damals im Entstehen befindlichen Feldtheorie zu nennen. Außerdem bezog sich Muchow auf Jakob von Uexkülls biologische Umweltlehre (in dem Film – soweit ich erkennen kann – nicht besonders herausgestellt). Natürlich ist auch William Sterns Kritischer Personalismus zu nennen, der Martha Muchow vertraut war. Kristin Westphal stellt in einem Statement überzeugend Bezüge von Muchow zur Phänomenologie her, Rudolf Miller vergleicht anhand des erwähnten wiederentdeckten Lewin-Films den feldtheoretischen Ansatz von Kurt Lewin mit der sehr ähnlichen Lebensweltforschung von Martha Muchow.
Es gibt im Film nur drei oder vier Fotos, auf denen Martha Muchow zu sehen ist. Filmsequenzen, in denen Martha Muchow zu sehen wäre, gibt es nicht. Trotzdem ist der Film zu einem sehenswerten Dokument der Muchow-Forschung geworden. Der Film hat dazu einen gewissen Unterhaltungswert, was zum Teil an den Szenen des Lewin-Films liegt, der in gleicher Zeit in Berlin mit spielenden Hinterhofkindern gedreht wurde, als Martha Muchow in Hamburg ihre Lebensraum-Studien durchführte. Reizvoll ist der Film auch durch den Vergleich Barmbek damals und heute.
Vielleicht ist dieser Film durch die zehn Expertinnen und Experten ein wenig „Statement-lastig“, doch werden verschiedene Perspektiven eingebracht, wenn auch nicht miteinander diskutiert. Bei genauem Vergleich kann man Unterschiede in der Einschätzung Muchows erkennen. Insgesamt wird deutlich, warum Muchow uns gerade heute so interessiert: Es ist die Biographie als frühe Wissenschaftlerin, ihre Rolle als Pionierin der Kinderforschung und ihr tragisches Ende als NS-Opfer; es ist aber besonders ihr Vorgehen, mit verschiedenen einfallsreichen Methoden die Welt der Kinder zu erforschen, ohne deren Verhalten zu deuten, zu bewerten oder in eine der damals gängigen Entwicklungstheorien (Großtypologie oder Phasenlehre) zu zwängen. Muchows Vorgehen wirkt daher sehr modern und steht so der weit später entwickelten Ethnomethodologie nahe.
Das Bonusmaterial vertieft diese Einschätzung. Hier geben die Fachleute etwas ausführlichere und differenziertere Einschätzungen ab. Diese Statements sind eine Bereicherung des Filmprojekts und m.E. für Lehrzwecke gut geeignet.
Wenn man einen Eindruck von dem Film bekommen will: Unter www.qualitative-forschung.de/institut/trailer-muchow ist ein knapp dreiminütiger Trailer des Films zu sehen.
Fazit
„Auf den Spuren von Martha Muchow“ ist eine Filmproduktion, die mit erkennbarer Begeisterung für die Sache gestaltet wurde. Die Darstellung ist ausgewogen, eröffnet neue Aspekte der klassischen Lebensraumstudie von Muchow; in jedem Fall ist sie sehenswert und für Lehrzwecke in Erziehungs-, Sozial- und Geschichtswissenschaften geeignet. Last but not least: Die DVD ist durch Sponsoren vergleichsweise preiswert zu haben.
Literatur
Muchow, M. & Muchow, H. H. (1935). Der Lebensraum des Großstadtkindes. Hamburg: Martin Riegel. – Nachdruck, Bensheim: päd extra, 1978. – Neuausgabe herausgegeben von Jürgen Zinnecker. Weinheim und München: Juventa, 1998. – Neuausgabe von Imbke Behnken und Michael-Sebastian Honig. Weinheim und Basel: Beltz Juventa, 2012.
Rezension von
Prof. em. Dr. Helmut E. Lück
FernUniversität in Hagen, Fakultät für Psychologie
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