Ursula Müller: Frauen in Führungspositionen der Sozialwirtschaft
Rezensiert von Dr. Günther Vedder, Dipl.-Päd. Ella Korinth, 27.02.2015

Ursula Müller: Frauen in Führungspositionen der Sozialwirtschaft. Eine Untersuchung zu förderlichen Maßnahmen und entscheidenden Faktoren im Berufsverlauf für den Aufstieg in Spitzenpositionen. Rainer Hampp Verlag (Mering) 2014. 266 Seiten. ISBN 978-3-95710-011-5. D: 29,80 EUR, A: 30,70 EUR, CH: 52,10 sFr.
Thema
Dr. Ursula Müller hat sich im vorliegenden Buch mit den individuellen Aufstiegserfahrungen von weiblichen Führungskräften in Spitzenpositionen der Sozialwirtschaft beschäftigt. Es handelt sich um eine qualitative Studie mit acht Interviewpartnerinnen und zwei zentralen Forschungsfragen: (1) Wie setzen die Frauen den beruflichen Aufstieg im Lebenslauf um? (2) Was motiviert sie zum erfolgreichen beruflichen Aufstieg? Eine umfangreiche Ausarbeitung (163 Seiten) zur Theorie der Konstruktion von Geschlecht, zum Aufstieg von Frauen in Führungspositionen und zur Karriere in Organisationen der Sozialwirtschaft bildet die Grundlage des empirischen Teils.
Autorin
Dr. Ursula Müller arbeitete nach dem Studium Sozialwesen zunächst im sozialpädagogischen Fachdienst und anschließend als Bereichsleiterin verschiedener Wohnformen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Berufsbegleitend qualifizierte sie sich zum Master of Social Work. Ihre hier besprochene Arbeit wurde 2014 als Dissertation an der Pädagogischen Hochschule Weingarten eingereicht. Sie hat inzwischen eine Professur an der Hochschule Kempten inne.
Aufbau und Inhalt
Zu Beginn des Buches geht die Autorin im Kapitel Problemstellung und Ausgangspunkt auf die Zielsetzung, Methodik und den Aufbau der Arbeit ein. Sie strebt an, sowohl die Bedeutung geschlechtsbezogener Erfahrungen, die Frauen in Führungspositionen als handelnde Subjekte im Aufstieg haben, als auch die Sinnkonstruktionen, auf deren Basis das Handeln zu Entscheidungen im beruflichen Lebenslauf führt zu dokumentieren. Im Kapitel 2 Begriffliche Grundlegungen definiert Ursula Müller unter anderem „Karriere“ und „Aufstieg im Berufsverlauf“. Diese Begriffe werden häufig gleichgesetzt, allerdings sind Karrieren im Sozialbereich auch ohne das Erreichen von Spitzenpositionen möglich. Danach geht sie umfassend auf die Sozialwirtschaft, den sogenannten dritten Sektor und die dortige Rolle der Wohlfahrtsverbände ein.
Die beiden folgenden Kapitel Theorie der Konstruktion von Geschlecht als Bezugstheorie sowie Forschungsstand zum Aufstieg von Frauen in Führungspositionen stellen das Fundament der Arbeit dar. Ursula Müller verweist darauf, dass historische Entwicklungen zur Entstehung der Geschlechterverhältnisse führten und dass Geschlecht in der Arbeitsteilung permanent reproduziert wird. Die Art und Weise der Arbeitsorganisation wirkt dabei als struktureller Rahmen, zu dessen Erhalt die Individuen täglich beitragen. Sie greift in der Arbeit die Sicht des akteurinnenbezogenen, interaktiven und von der sozialen Infrastruktur determinierten Geschlechts auf und möchte dazu beitragen, Momente der (De-)Konstruktion zu identifizieren. Zu Frauen in Führungspositionen gibt es bereits umfangreiche Forschungsergebnisse, die auf 50 Seiten dargestellt werden, allerdings wurde der Bereich Sozialwirtschaft bisher eher vernachlässigt.
Im Kapitel Erklärungsansätze zum Aufstieg in Organisationen der Sozialwirtschaft stellt Ursula Müller fest, dass Führungskräfte in den dortigen Organisationskulturen mit besonderen strukturellen und normativen Anforderungen konfrontiert werden. Sie sind einerseits politisch Handelnde in unklaren Situationen, die mit multiplen Anspruchsgruppen und widerstreitenden Interessen konfrontiert werden. In sozialen Zusammenhängen erfordert das transparente und moralische Handeln besondere Kompetenzen. Für den Aufstieg ist andererseits der kompetente Umgang mit den positiven und negativen Facetten der Macht und Mikropolitik von Bedeutung.
Kapitel 6 Empirische Untersuchung und Kapitel 7 Darstellung der Untersuchungsergebnisse dokumentieren das Vorgehen und die Befunde im empirischen Teil der Arbeit. Ursula Müller beschreibt detailliert ihr Forschungsdesign, die Datenerhebung und die qualitative Inhaltsanalyse zu den acht episodischen Interviews. Folgende Details kennzeichnen die Interviewpartnerinnen unter anderem: sieben der acht Frauen haben eine Spitzenposition inne, sind Vorständin oder Geschäftsführerin; fünf der acht Frauen haben Kinder; vier der acht Frauen sind über 50 Jahre alt; fünf der acht Frauen haben die Spitzenposition in einem Alter jünger als 40 Jahren erreicht; sieben der acht Frauen leben in einer Lebenspartnerschaft oder sind verheiratet. Die förderlichen Maßnahmen für den Aufstieg werden unter sprechenden Überschriften wie „Eigenen Arbeitsstil entwickeln“ oder „Organisationszugehörigkeit halten“ analysiert. Als entscheidende Faktoren für den Aufstieg werden Themen wie „Haltung leben“ oder „Innere Prozesse verfolgen“ oder „Distanz zu Funktion und Rolle einnehmen“ identifiziert.
Eine Zusammenfassung und Diskussion zentraler Ergebnisse (15 Seiten) sowie ein Ausblick runden die Arbeit ab.
Diskussion
Der aktuelle Forschungsstand zu Frauen in Führungspositionen wird in der Dissertation von Ursula Müller umfangreich dargestellt. Die Frauenanteile gehen insbesondere auf der Schlussetappe, hin zu Positionen mit umfassenden Führungsaufgaben, deutlich zurück. Positiv für einen Aufstieg erweist sich eine partnerschaftliche familiäre Arbeitsteilung mit relativ ausgeglichenen Einkommens- und Machtverhältnissen. In der Sozialwirtschaft scheint es für eine Karriere von besonderer Bedeutung zu sein, in welchem Umfang die Frauen eigene Interessen im Berufsverlauf verfolgen und bereit sind, Initiative für Veränderungen zu ergreifen. Die Autorin identifiziert insgesamt 7 förderliche Maßnahmen und 10 entscheidende Faktoren für den Aufstieg. Sie werden in einer Abbildung auf S. 229 zusammengefasst. Einige davon spielen wahrscheinlich bei jedem beruflichen Aufstieg eine besondere Rolle, unabhängig davon, ob Frauen oder Männer inner- oder außerhalb des Sozialbereichs handeln. Andere sind eher frauenspezifisch oder typisch für die Sozialwirtschaft. Unter der Überschrift „Arbeiten gegen die Wand identifizieren“ wird zum Beispiel mit Originalaussagen belegt, wie problematisch das Aufeinandertreffen von Beziehungsarbeit und Macht in Fraueneinrichtungen sein können. Der Umgang von Frauen untereinander wird in hierarchischen Strukturen als durchaus schwierig beschrieben. Und bei der Zusammenarbeit mit Männern kommt es häufig zu einem Kampf gegen etablierte Rituale. Weibliche Führungskräfte erweitern auf diesem Weg aber auch wesentlich die Bandbreite der Handlungsalternativen in Organisationen und setzen ein Zeichen sozialer Gerechtigkeit.
Fazit
Das Buch von Ursula Müller ist sehr empfehlenswert für Personen, die sich wissenschaftlich mit dem beruflichen Aufstieg von Frauen in unterschiedlichen Organisationen beschäftigen wollen. Der umfangreiche Theorie- und Grundlagenteil gibt den Forschungsstand angemessen wieder. Die Zusammenfassungen am Ende der Kapitel tragen sehr zur Lesefreundlichkeit des Bandes bei. Mit den Fallstudien im empirischen Teil bietet die Autorin einen tiefen Einblick in die besondere Situation erfolgreicher Frauen im Feld der Sozialwirtschaft. Insbesondere die beiden Schlusskapitel sind sehr kompakt geschrieben und bieten einen guten Überblick über die Gesamtthematik.
Leider wird sowohl im Inhaltsverzeichnis als auch im Einleitungsteil (S.19) und an diversen Stellen mitten im Text (zum Beispiel auf S.226/227) ein umfangreicher Anhang angekündigt, der dann letztendlich nur aus einer Seite mit Stichwörtern besteht. Schade, denn ein Blick auf die Erhebungsinstrumente und das Codesystem wäre sicherlich interessant gewesen.
Rezension von
Dr. Günther Vedder
Institut für interdisziplinäre Arbeitswissenschaft der Leibniz Universität Hannover
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Dipl.-Päd. Ella Korinth
Institut für interdisziplinäre Arbeitswissenschaft der Leibniz Universität Hannover
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Zitiervorschlag
Günther Vedder, Ella Korinth. Rezension vom 27.02.2015 zu:
Ursula Müller: Frauen in Führungspositionen der Sozialwirtschaft. Eine Untersuchung zu förderlichen Maßnahmen und entscheidenden Faktoren im Berufsverlauf für den Aufstieg in Spitzenpositionen. Rainer Hampp Verlag
(Mering) 2014.
ISBN 978-3-95710-011-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18331.php, Datum des Zugriffs 31.03.2023.
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