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Wilhelm Rotthaus: Ängste von Kindern und Jugendlichen

Rezensiert von Dr. Kirsten Oleimeulen, 14.08.2015

Cover Wilhelm Rotthaus: Ängste von Kindern und Jugendlichen ISBN 978-3-8497-0069-0

Wilhelm Rotthaus: Ängste von Kindern und Jugendlichen. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2015. 192 Seiten. ISBN 978-3-8497-0069-0. D: 24,95 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 35,50 sFr.

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Epidemiologie

Studien zufolge gehören Angststörungen zu den häufigsten psychischen Störungen des Kindes- und Jugendalters. Ungefähr 10% der Kinder und Jugendlichen erfüllten irgendwann in ihrem Leben die Kriterien für eine Angststörung. Es zeigte sich, dass die Phobie, wozu auch die Soziale Phobie zählt, die häufigste Angststörung ist und das zwischen 3 und 11% der Kinder und 4 Jugendlichen irgendwann an dieser Störung litten. Die 6-Monats-Prävalenzen der Störung mit Trennungsangst wurden bei 8-jährigen mit 2,8% geschätzt. Die Generalisierte Angststörung gehört laut Studien mit einer Häufigkeit von 1% zu den selteneren Angststörungen. Insgesamt scheinen Mädchen häufiger unter einer Angststörung zu leiden als Jungen. Sie wiesen in den meisten Studien zwei- bis viermal höhere Raten von Angststörungen auf als Jungen. Retrospektiven Studien zufolge haben schon sechsjährige Mädchen ein doppelt so hohes Risiko als Jungen, eine Angststörung zu entwickeln.

Setting der Angst

Klienten mit Angststörungen brauchen häufig lange Zeit, bis sie sich entschließen, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dies ist Teil des problemaufrechterhaltenden Musters, innerhalb dessen die Klienten durch die genannten Kontrollstrategien oft jahrelang versucht haben, selbst der Angst Herr zu werden. Dabei beträgt der Durchschnitt bei meinen Klienten etwa sechs Jahre, wobei aber in Einzelfällen auch acht bis fünfzehn Jahre vorkommen können. Der Entschluss, sich in Therapie zu begeben, stellt angesichts der bisherigen Überlegungen bereits eine erste relevante Veränderung dar, da der Klient sich sozusagen selbst eingestehen muss, dass seine Kontrollstrategien letztlich erfolglos waren, er also kapituliert. Im Kontext von Kindern und Jugendlichen liegen das Eingeständnis der Kapitulation und die oft jahrelangen Bemühungen um Kontrolle der Angst gewöhnlich auch in den Eltern. Die Angst dagegen haben die Kinder und Jugendlichen alleine.

Autor

Wilhelm Rotthaus, Dr. med., hat neben dem Studium der Medizin in Freiburg, Paris und Bonn und dem der Musik in Köln Ausbildungen in klientenzentrierter Gesprächstherapie, klientenzentrierter Spieltherapie und in Systemtherapie absolviert. 1983 bis 2004 war er Fachbereichsarzt in den Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Rheinischen Kliniken Viersen. Seit Herbst 2000 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie und Familientherapie (DGSF). Zahlreiche Veröffentlichungen u.a. zum systemischen Arbeiten im stationären Kontext, zur Systemtherapie psychotischen Verhaltens Jugendlicher, zur Psychotherapie Jugendlicher, zur Psychotherapie Geistig Behinderter, zur Therapie mit jugendlichen Sexualstraftätern, zur Erziehung unter systemischer Perspektive und zum Verhältnis von Erziehung und Therapie. Langjähriger Veranstalter der Viersener Therapietage.

Aufbau und Inhalt

Das Buch „Ängste von Kindern und Jugendlichen. Störungen systemisch behandeln“ setzt sich aus zehn Kapiteln zusammen.

1. Einleitung

2. Klinisches Erscheinungsbild. Die Kindheit ist eine Zeit der lebhaften Entwicklung. In ihrem Verlauf muss das Kind Vertrautes und Sicherheiten immer wieder aufgeben, um Neues kennenzulernen und zu bewältigen. Zumindest während der Kindheit ist Angst vor dem Verlust der Geborgenheit das zentrale, sozusagen „durchlaufende“ Thema. Die Fähigkeit Angst zu produzieren, ist eine wichtige Leistung von Menschen. Sie tritt auf bei neuen Aufgaben (Entwicklungsaufgaben), die das Fähigkeitsprofil der oder des Betroffenen herausfordern oder aber die Weiterentwicklung vorhandener Fähigkeiten verlangen.

3. Neurobiologie der Angst. Neurobiologisch sind die Prozesse, die mit dem Erleben von Angst in Zusammenhang stehen, relativ umfassend erforscht, allerdings ohne dass mögliche Unterschiede zwischen Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern thematisiert wären. Diese Lücke in der Neurowissenschaft schließt auch dieses Buch nicht. Der Weg der Angstreduzierung ist seine Hemmung durch Neulernen im bewussten Funktionsmodus. Bloße Appelle an die Einsicht des/der Klienten/-in oder aber die Erarbeitung von Einsicht bleiben weitgehend wirkungslos, weil sie nur die Netzwerke des bewusstseinsfähigen kortikohippocampalen Systems aktivieren, auf die verhaltensrelevanten limbischen Systeme aber keinen wesentlichen oder nur indirekten Einfluss haben.

4. Evolutionsbiologie der Angst. Angst ist ein Signalsystem, dass sich in unserer biologischen Evolution über zigtausend Jahre entwickelt hat mit dem Ziel, vor potenziellen Gefahren in der Umwelt zu warnen und den Organismus in die Lage versetzen, geeignete Abwehrmaßnahen zu treffen. Bowlby hat knapp 100 Jahre nach Darwin dessen Idee aufgegriffen, dass die scheinbar irrationalen Ängste der Kindheit ihre reale Grundlage in der menschlichen Vergangenheit haben könnten.

5. Risikofaktoren für Angststörungen von Kindern und Jugendlichen. In einer gezielten Studie konnte gezeigt werden, dass Kinder ein neunmal erhöhtes Risiko einer Angststörung tragen, wenn die Eltern selbst Angststörungen aufweisen. Weitere Faktoren, die das Risiko einer Angststörung erhöhen sind:

  • Geschlecht
  • verhaltensgehemmtes Temperament
  • Angstsensitivität
  • Verzerrung der Informationsverarbeitung
  • Kontrollerfahrung in der Kindheit
  • elterlicher Erziehungsstil sowie
  • Schwierigkeiten bei der Emotionsregulation

6. Störungsverständnis und Therapieansätze der verschiedenen Psychotherapieverfahren. Rotthaus stellt in diesem Kapitel verschiedene Psychotherapieverfahren im Rahmen ihrer unterschiedlichen Störungsverständnisse mit ihren Therapieansätzen dar:

  • Störungsverständnis und Therapieansätze der psychodynamischen Therapie
  • Störungsverständnis und Therapieansätze der Gestalttherapie
  • Störungsverständnis und Therapieansätze der personenzentrierten Psychotherapie
  • Störungsverständnis und Therapieansätze der Verhaltenstherapie
  • Bindungstheoretisches Störungsverständnis
  • Schematheoretisches Störungsverständnis

7. Systemtherapeutisches Störungsverständnis der Angststörungen von Kindern und Jugendlichen. Systemische Erklärungsmodelle von auffälligem, abweichendem Verhalten folgen dem Prinzip, die Störungen oder das Symptom in den Beziehungen und nicht im Individuum zu verorten. Der Ansatz geht von der Prämisse aus, dass kein Symptom überflüssig ist, so wie in einem Ökosystem grundsätzlich nichts überflüssig ist. Das Verständnis von Ausdruck des Symptoms einer Interaktionsaussage, macht Veränderungen leichter beobachtbar, eröffnet eine Vielzahl an therapeutischen Ansatzpunkten und eröffnet neue Perspektiven, da Beziehungsmuster einfacherer zu verändern sind, als Persönlichkeitsstrukturen. Vor diesem Hintergrund wird Angst als Signal für anstehende Entwicklungsprozesse, als Tetralemma oder als Ausdruck des „Noch-nicht-Wissens“ angesehen.

8. Systemische Therapie der Angststörungen von Kindern und Jugendlichen. Eine wichtige Fähigkeit der Therapeutin besteht aus systemischer Sicht darin, mit Unsicherheit umzugehen und sie nicht nur ertragen zu können, sondern sie zu begrüßen. Die Neugierde der Therapeutin, ihr neugieriges Forschen einerseits und andererseits die Unsicherheit bezüglich dessen, wie dieses einzigartige Klientensystem auf ihre therapeutischen Handlungen reagiert, stehen mit einander in engem Zusammenhang. Wenn in systemisch-konstruktivistischem Zusammenhang Psychotherapie verstanden wird als ein Miteinander von Klient und Therapeutin, bei dem die Therapeutin als Teil eines sinnstiftenden Kontextes begreift und anbietet, dann ist es für die Therapeutin bedeutsam, über einen möglichst breiten Sinnhorizont zu verfügen. Dabei ist die Frage, wie man das Unplanbare trotzdem planen kann und sollte, von hoher Relevanz. Systemische Hilfsmittel dabei sind:

  • systemische Hypothesen
  • Kenntnisse über physiologische Prozesse der Angst
  • Lösungen 2. Ordnung
  • Die guten Seiten der Angst
  • Angst als aktives Tun
  • Die Wahl des Settings als Intervention und Thema der Kommunikation
  • Ziel- und Auftragsklärung
  • Das Vermeiden vermeiden – sich der Angst aussetzen
  • Ablenkung
  • Energie folgt der Aufmerksamkeit
  • Musterunterbrechung
  • Paradoxe Handlungsvorschläge
  • Positive Konnotation und Refraiming
  • Externalisierung der Angst
  • Teilearbeit
  • Geschichten
  • Symptomdarstellung und -veränderung
  • Imaginäre Helfer
  • Rituelle Handlungen
  • Angsten und Entangsten
  • Zutrauen – Zumuten – Zulassen
  • Unterstützer gewinnen
  • Lebensgeschichtliche Sequenz von Familienbrettskulpturen

9. Medikamentöse Therapie. Die pharmakologische Behandlung von Angststörungen ist als zweitrangig nach Psychotherapie im Einzel- und im Mehrpersonensetting anzusehen. Für einen großen Teil der Psychopharmaka liegen keine oder nur wenige empirische Studien für das Kindes- und Jugendalter vor.

10. Rückfallprophylaxe

Zielgruppe

Das Buch richtet sich an therapeutisch arbeitende Berufsgruppen mit der Zielgruppe und deren Auszubildende.

Fazit

Das Buch „Ängste von Kindern und Jugendlichen“ von Wilhelm Rotthaus ist eine schöne Überblicksdarstellung systemischer Therapie im Kontext verschiedener Psychotherapieverfahren. Der hier weit geöffnete Blick auf den Menschen in seinem System hilft dabei zu erkennen, dass die symptomorientierte Behandlung der Angst nur ein Teilaspekt des Vorgehens sein kann, denn in vielen Fällen hat die Angst auch beziehungsregulierende Funktion. Die Bewältigung der Angst ist demnach auch eine Entwicklungsaufgabe für das ganze System. Vertieft wird auf das systemisches Störungsverständnis eingegangen. Methodisch wird ein breites Spektrum angeboten, sodass einzelfallorientierte die passendste Methode ausgewählt werden kann.

Eine gute Auffrischung für ausgebildete Systemiker/-innen und gleichzeitige eine gute Einführung für interessierte Anfänger/-innen in der systemischen Denkwelt.

Rezension von
Dr. Kirsten Oleimeulen
Psychologin – Familienberaterin, akkreditierte Psychologin für Gesundheitspsychologie und Prävention (BDP), systemische Familientherapeutin und Supervisorin, online-Beraterin
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Es gibt 96 Rezensionen von Kirsten Oleimeulen.

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ISSN 2190-9245