Ralph Grossmann, Günther Bauer et al.: Einführung in die systemische Organisationsentwicklung
Rezensiert von Prof. Dr. rer. pol. habil. Andreas Bergknapp, 27.08.2015

Ralph Grossmann, Günther Bauer, Klaus Scala: Einführung in die systemische Organisationsentwicklung. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2015. 128 Seiten. ISBN 978-3-8497-0056-0. D: 13,95 EUR, A: 14,40 EUR, CH: 20,50 sFr.
Thema
Gestaltung und Begleitung organisationaler Veränderungsprozesse werden aus einer systemischen Perspektive diskutiert. Damit erscheint im Carl-Auer-Verlag der dritte Band in der compact-Reihe mit einem ähnlichen Fokus (Königswieser, R. & Hillebrand, M., 2015: Einführung in die systemische Organisationsberatung, 8. Auflage, und Krizanits, J., 2015: Einführung in die Methoden der systemischen Organisationsberatung, 2. überarb. Auflage) Da systemische Perspektiven in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen haben und die systemischen Ansätze unterschiedliche Schwerpunkte setzen, kann es durchaus sinnvoll sein, mehrere Bände zu diesem Thema auf den Markt zu bringen.
Autoren
Das Autorenteam besteht aus zwei emeritierten Professoren (für die Fachgebiete Organisationsentwicklung, Gruppendynamik und Supervision) mit Beratungserfahrung und einem promovierten Praktiker. Diese Kombination lässt eine theoretisch fundierte und anwendungsorientierte Herangehensweise an das Thema systemische Organisationsentwicklung erwarten.
Entstehungshintergrund
Den empirischen Erfahrungshintergrund bilden zum einen die jahrzehntelange Beratungs- und Führungserfahrungen der Autoren in unterschiedlichsten Organisationen, 200 Masterarbeiten und 40 Dissertationen an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.
Aufbau und Inhalt
Das kurze erste Kapitel (Aktualität und Tradition der Organisationsentwicklung) besteht neben den üblichen Bemerkungen zur Allgegenwärtigkeit von Veränderungsprozessen aus zwei thematischen Abschnitten. Zunächst wird OE von anderen Methoden der Veränderung (z.B. Gewalt/Konsens, Top down/ bottom up) abgegrenzt. Anschließend erfolgt eine kurze Skizzierung der Geschichte der OE.
Systemtheoretische Grundbegriffe werden im zweiten Kapitel (Grundbegriffe der systemischen Organisationsentwicklung) erläutert. Dabei rekurrieren die Autoren primär auf die Systemtheorie von Luhmann. Ausgehend von der grundlegenden System-Umwelt-Differenz, die von Beobachtern erster und zweiter Ordnung beobachtet wird und der kategorialen Unterscheidung von psychischen und sozialen Systemen, wird die prinzipielle Nicht-Steuerbarkeit lebender Systeme durch das Konzept der trivialen Maschine eingeführt. Mit der Einführung der systemischen Schleife (Königswieser & Exner) wird die luhmannsche Systemtheorie vorübergehend verlassen. Kurze Überlegungen zu operationaler Geschlossenheit und funktionaler Differenzierung schließen das Kapitel ab.
Grundlegende Themen und Konzepte, die stärker auf der Praxisebene angesiedelt sind, werden in Kapitel drei (Der Prozess macht den Unterschied) eingeführt. Beispielsweise werden die Relevanz von Emotionen in Veränderungsprozessen und das Spannungsfeld zwischen der führungsgetriebener Veränderung und selektiver Partizipation kurz diskutiert. Der Fokus in diesem Kapitel ist auf die beiden Konzepte Veränderungsarchitektur und -design, die auf Königswieser zurückgehen und mittlerweile in der systemischen OE etabliert sind, gerichtet. Architektur und Design werden anhand eines komplexen Praxisprojekts erläutert.
Nach der strukturellen Betrachtung im dritten Kapitel, liegt der Fokus im vierten Kapitel (Veränderung organisieren: Phasen und Rollen in Veränderungsprozessen) stärker auf der Prozessebene. Dabei werden die unterschiedlichen Rollen (Führungskräfte, interne und externe Beratung) an einem Praxisbeispiel (Erweiterung der OE-Kompetenz in einem Krankenhausverbund mit 10 000 Mitarbeitern) für die folgenden Phasen des Prozesses systematisch durchdekliniert:
- Diagnose erstellen
- Ziele formulieren
- Lösungen entwickeln
- Ergebnisse implementieren
- Nachhaltigkeit sichern
Das systemische Grundprinzip der Hilfe zu Selbsthilfe zeigt sich bereits in der Diagnosephase bei der System-Umwelt-Analyse (wobei auch die innere Umwelt der Organisation, beispielsweise Mitarbeiter, Managementebene) sehr deutlich wird. Eine zentrale Rolle kommt hier den Führungskräften zu, die den Diagnoseprozess strukturieren und vorantreiben sollen. Die Führungskräfte und Mitarbeiter sollen befähigt werden, selbst die Erhebungsphase (Klausuren, Interviews) durchzuführen. Die externen Berater bleiben im Hintergrund, in dem sie das Aufsetzen des Prozesses beratend begleiten und die Führungskräfte coachen. Wichtige Faktoren für das Initiieren von Veränderungsprozessen ist ein gewisser, transparent, aber nicht überdramatisierend kommunizierter Problemdruck, eine lösungsorientierte Grundhaltung und ein attraktives Ziel bzw. ein Weg, der zur Zielerreichung eingeschlagen wird. Die Ziele und der Handlungsbedarf werden aus den Ergebnissen der Diagnosephase entwickelt. Um das Angstniveau der Betroffenen zu senken, empfiehlt es sich auch, Nicht-Ziele zu formulieren (Worum geht es nicht? Was soll nicht angetastet werden? Was muss nicht erreicht werden?). Für das Erarbeiten von Lösungen in den Entwicklungsteams in der nächsten Phase empfehlen die Autoren, dass die Führungskräfte die Rolle des Schirmherrns und Unterstützer übernehmen, nicht aber Mitglieder in den Projektgruppen sind. Damit würde die Hierarchie ins Team getragen und die Kreativität entsprechend eingeschränkt werden. Die Aufteilung muss klar sein: Das Entwicklungsteam erarbeitet Lösungsvorschläge. Die Entscheidung über die praktizierten Lösungen wird von den Entscheidungsträgern getroffen. In dieser Phase ist besonders auf die Arbeitsfähigkeit der Teams zu achten, d.h. macht es Sinn hier zu investieren, um mit einem externen Berater primär auf der Beziehungs- und Teamebene zu arbeiten. Ansonsten halten sich die externen Berater im Hintergrund auf und reduzieren auf diese Weise die Gefahr, zu sehr in Konkurrenz mit den internen Beratern und/oder Führungskräften zu gehen. Die Phase der Umsetzung der Ergebnisse erfordert insbesondere von den Führungskräften eine hohe Energie und die aktive Rückendeckung des Topmanagements. Denn die notwendigen Verlernprozesse sind meist schwieriger zu bewältigen als Lernprozesse. Nicht selten meinen Führungskräfte in dieser Phase, dass es genügt, die Änderungen anzuordnen. Zudem ist zu beachten, dass der Implementierungsprozess von Anfang an im Auge zu behalten ist. Hier sind auch die internen Berater gefordert. Weil die Implementierung die schwierigste Phase im Veränderungsprozess darstellt, macht auch der Einbezug externer Berater – beispielsweise zur Moderation eines Implementierungsworkshops mit unterschiedlichen Stakeholdern – Sinn, weil interne Berater oder Führungskräfte in diesem Geflecht interdependenter Interesse nicht selten überfordert sind. Dennoch gilt: Implementierung ist Führungsaufgabe. Die Auswertung der Implementierungsphase kann dazu führen, dass an einigen Stellen Nachbesserungen vorgenommen werden müssen. Insgesamt geht es hier auch um ein Lernen für die Zukunft. Das Kapitel schließt mit dem Fazit: „Führungskräfte steuern den Prozess, beauftragen Beobachtungs- und Reflexionsteams, richten – gemeinsam – geeignete Settings ein und stimmen sich mit den anderen Führungskräften in den beschriebenen Interventionen ab. Interne und externe Berater helfen bei der Entwicklung der dazu geeigneten Architekturen und Instrumente“ (S.95).
Im fünften Kapitel werden förderliche Haltungen von Führungskräften im Veränderungsprozess diskutiert. Dabei wird deutlich, welche Herausforderungen die in Kapitel vier beschriebene Rolle der Führungskraft in Veränderungsprozessen bereit hält:
- Vertrauen aufbauen
- Offenheit für Veränderungen und Kultur des Ermöglichens
- Wertschätzung des Bestehenden
- Ergebnisoffenheit und Prozesssteuerung
- Kontrollverlust zulassen
- Mut zur Auseinandersetzung
- Emotionen zulassen
- Containment von Angst
- Zuversicht verbreiten
Das kurze sechste Kapitel (Durch Veränderung führen) weist gewisse Redundanzen zum fünften Kapitel auf, setzt aber mit einer eher organisationstheoretischen Perspektive (Weick) nochmal etwas andere Akzentsetzungen. Deutlich wird hier, dass Führungskräfte nicht alles im Griff haben können, und dass es letztendlich darauf ankommt, wie gut es gelingt, in turbulenten Veränderungsprozessen Sinn zu vermitteln, Halt zu geben, auch mal Druck zu reduzieren, Emotionen zuzulassen und mit diesen konstruktiv umgehen zu können.
Ein kurzes Nachwort zu den beruflichen Kontexten der Autoren in Beratung und Wissenschaft schließt den Band ab.
Diskussion
In Abschnitt 1.3 wird etwas überraschend die (noch junge Disziplin) systemische Organisationswicklung als ein Strang, der zur Entstehung der OE geführt hat, dargestellt. Zudem wird nicht klar, auf welchen Ansatz unter der Bezeichnung systemische OE rekurriert wird, da außer Trist (der eher dem soziotechnischen Ansatz zuzurechnen ist) keine anderen Autoren angegeben werden. Korrekter wäre es gewesen, die traditionelle OE als eine wichtige Wurzel der systemischen OE (die im Fokus des Buches steht) eizuführen. Diese begriffliche Unschärfe fällt aber nicht besonders ins Gewicht, weil das erste Kapitel für den interessierten Praktiker eine gute Hinführung zum Thema darstellt.
Positiv hervorzuheben ist die Explikation systemtheoretischer Grundbegriffe in Kapitel zwei. Auch wenn die Begriffe etwas willkürlich angeordnet scheinen, wird hier eine theoretische Basis für die weiteren Ausführungen gelegt. Allerdings hätten die Begriffe stärker aufeinander bezogen und mit einem stärkeren Bezug zur systemischen Organisationsentwicklung eingeführt werden können. Das Ende des Kapitels erfolgt mit der Abbildung zu den unterschiedlichen Funktionssystemen etwas unvermittelt. Die Abbildung steht für sich und wird nicht weiter erläutert. Der optische Eindruck der Abbildungen in diesem Buch ist insgesamt schwach.
Auch die Argumentationslogik der in Kapitel drei erörterten Begriffe erschließt sich nicht unmittelbar. Die Auswahl der ersten fünf Themen (Status Quo und Veränderung, Organisation und Emotion, Führungsgetriebene Veränderung und selektive Partizipation, Optimierung oder Musterwechsel, Linie oder Projekt) wirkt auf den ersten Blick etwas willkürlich. Auf den zweiten Blick könnte man den Autoren zu Gute halten, dass sie zentrale Spannungsfelder organisationaler Veränderungsprozesse diskutieren und im zweiten Abschnitt mit der Architektur und dem Design von Veränderungsprozessen eine Antwort auf das Management dieser Spannungsfelder geben (hier hätte aber durchaus auf die Publikation von Königswieser und Exner hingewiesen werden können). Diese Antwort ist insofern gelungen, als dass die beiden Konzepte durch ein Praxisbeispiel mit Leben gefüllt werden. Die Diskussion des Designs hätte allerdings noch etwas differenzierter mit den entsprechenden Hintergrundüberlegungen erfolgen können. Sehr hilfreich sind die Überlegungen zu den allgemeinen Erfolgskriterien und Hinweise für die Architekturgestaltung (S. 52), weil sich daraus die zugrunde liegende Logik für den Leser erschließt.
Das vierte Kapitel stellt das Herzstück des Buches dar. Während die ersten Kapitel eher eine kursorische und unsystematische Hinführung zum Thema darstellen, besticht das Kapitel vier durch eine sehr gelungene Theorie-Praxis-Integration und eine differenzierte, systematische Argumentation mit Tiefgang, welche deutlich von der systemischen Beratungshaltung und der fundierten Praxiserfahrung der Autoren zeugt. Das systemische Prinzip, das Klientensystem zu befähigen, die Lösungen selbst zu entwickeln wird stringent umgesetzt. Es ist – auch in der systemischen Literatur – selten, dass sich Berater in ihrer Rolle so konsequent auf die rahmensetzende und begleitende Funktion zurückziehen und die hauptsächliche Arbeit durch die Mitglieder des Klientensystems erledigt wird.
Die förderlichen Haltungselemente für Führungskräfte im fünften und sechsten Kapitel sind im Prinzip eine Spezifizierung der systemischen Grundhaltung für das Management von Veränderung. Diese beiden Kapitel hätten durchaus integriert werden können, um Redundanzen zu vermeiden. Positiv ist wiederum, dass die Autoren Emotionen und dem Umgang damit eine entscheidende Bedeutung für das Gelingen von Veränderungsprozessen zuschreiben. Dies tun sie, ohne in die bekannte Sozialromantik der Humanisierungsbewegungen zu verfallen. Denn klar ist, dass Organisationen keine basisdemokratischen Veranstaltungen sind, sondern dass hierarchisch entschieden werden muss. Die Frage ist nur, ob die Entscheidung diskursiv vorbereitet oder auch nachbereitet wird oder ob das Management – aufgrund der eigenen Angst – die Dinge einfach durchdrückt oder die Mitarbeiter überrumpelt. So wichtig die Rolle der Führungskräfte bei Veränderungsprozessen auch ist, soll an dieser Stelle dennoch auf die Gefahr hingewiesen werden, den Führungskräften zu viel zuzumuten bzw. zu viel Verantwortung zuzuschreiben. Diese Dynamik einer zu sehr personalisierenden Attribution ist zuweilen bei mittleren Führungskräften zu beobachten, die für Dinge verantwortlich gemacht werden, die gar nicht in ihrem direkten Einflussbereich liegen. Hier wiederum ist der externe Berater als Beobachter zweiter Ordnung gefordert, um den Fokus von der Person weg und hin zu den Strukturen und Prozessen der Organisation zu lenken. Die Mitglieder des Systems sind an dieser Stelle meist überfordert.
Fazit
Insbesondere für Führungskräfte, die es mit organisationalen Veränderungsprozessen zu tun haben (und das dürften nicht wenige sein), ist das Buch lesenswert, weil es die Herausforderungen an die Rolle der Führungskraft klar herausabreitet, aber auch Lösungen anbietet. Während andere Bücher mit ähnlichen Titeln eher für Berater geschrieben sind, ist dies ein Buch für Führungskräfte. Sollten diese den Change-Management-Klassiker von Doppler & Lauterburg schon gelesen haben, bietet dieses Buch eine gute Ergänzung bzw. Erweiterung an manchen Stellen. Berater könnten durch dieses Buch ermutigt werden, noch mehr auf die Selbstorganisationsprozesse des Klientensystems zu vertrauen und sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen.
Rezension von
Prof. Dr. rer. pol. habil. Andreas Bergknapp
Professor für Sozialwissenschaften, insbesondere Organisationsentwicklung und Personalmanagement an der HS Nordhausen und Leiter den Masterstudiengangs Systemische Beratung. Senior Coach (DBVC), Supervisor (DGSv) und Leiter des Instituts für Coaching und Organisationsberatung (ICO) in Augsburg.
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