Karin Böllert, Martin Wazlawik (Hrsg.): Sexualisierte Gewalt
Rezensiert von Dr. Miriam Damrow, 13.08.2015

Karin Böllert, Martin Wazlawik (Hrsg.): Sexualisierte Gewalt. Institutionelle und professionelle Herausforderungen. Springer VS (Wiesbaden) 2014. 167 Seiten. ISBN 978-3-531-18529-3. 29,95 EUR.
Thema
Der vorliegende Sammelband richtet sich an sozial- und schulpädagogische Fachkräfte sowie WissenschaftlerInnen aus den entsprechenden Bezugsdisziplinen und beschreibt Herausforderungen im Umgang mit sexueller und sexualisierter Gewalt in pädagogischen Einrichtungen.
Aufbau
Das Buch ist nach der Einleitung (S. 1-3) in vierTeile gegliedert.
Im ersten Teil, betitelt Grundlegungen, versammeln sich folgende Beiträge verschiedener Autoren:
- Manfred Kappeler: Anvertraut und ausgeliefert – Sexuelle Gewalt in pädagogischen Institutionen (S. 7-19).
- Wolfgang Nieke: Pädagogischer Eros – wider die Instrumentalisierung pädagogischer Beziehungen (S. 21-32).
Im 2. Teil mit dem Titel Reaktionen und Herausforderungen in Institutionen und Handlungsfeldern sind Beiträge folgender Autoren versammelt:
- Sabine Andresen: Kritik und Immunisierung (S. 35-43)
- Martin Wazlawik: Sexualisierte Gewalt und die katholische Kirche in Deutschland – Diskurse, Reaktionen und Perspektiven (S. 45-58)
- Renate-Berenike Schmidt: Sexualisierte und sexuelle Gewalt – Herausforderungen in schulischen Kontexten (S. 59-74).
Der 3. Teil des Sammelbands fokussiert auf Herausforderungen und Erfahrungen in Prävention und Opferschutz. Darin finden sich Beiträge folgender Autoren:
- Heinz Kindler: Wirkungen, Nebenwirkungen und ungelöste Probleme bei der Prävention von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche (S. 77-94)
- Mechthild Wolff: Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Professionelle in Institutionen. Perspektiven der Prävention durch Schutzkonzepte (S. 95-109)
- Uwe Sielert: Sexuelle Bildung statt Gewaltprävention (S. 111-123).
Im letzten Teil des Sammelbandes sind unter dem Titel Professionelle Herausforderungen drei Beiträge versammelt.
- Christine Bergmann: Sexualisierte Gewalt – Politische Reaktionen (S. 127-138)
- Karin Böllert: Sexualisierte Gewalt – Professionelle Herausforderungen (S. 139-150)
- Werner Thole: Vom Schock zur Reflexion – Macht und Sexualität in pädagogischen Einrichtungen: Erziehungswissenschaftliche Reaktionen auf as erneute Bekanntwerden sexualisierter Gewaltpraxen durch PädagogInnen (S. 151-167).
Ausgewählte Inhalte
Wie bei Sammelbänden üblich, wird der erste Teil des Bandes (und damit die Beiträge von Kappeler und Nieke) komplett rezensiert, aus den Teilen 2-4 wird je ein Beitrag randomisiert rezensiert.
In der Einleitung stellen Karin Böllert und Martin Wazlawik das Anliegen des Buches dar. Neben professionsbezogener Aufarbeitung der Sprachlosigkeit (von Böllert und Wazlawik verstanden als begrenzte Reaktionen disziplinärer Reaktionen) werden heterogene Forschungsdesiderata identifiziert: „Der vorliegende Band soll damit einen Beitrag zur Systematisierung der Debatte in disziplinärer und institutioneller Hinsicht leisten. Er versucht, die institutionellen und professionellen Herausforderungen herauszuarbeiten und gleichzeitig die unterschiedlichen Reaktionsweisen auf sexualisierte Gewalt einzuordnen und die Herausforderungen für einen angemessenen institutionellen Umgang mit sexualisierter Gewalt in pädagogischen Einrichtungen zu skizzieren“ (S. 3).
Im ersten Teil des Sammelbandes sind dazu zwei Beiträge versammelt, die Strukturen und Verantwortungen skizzieren und den pädagogischen Eros thematisieren.
Manfred Kappeler beschreibt in seinem Beitrag unter dem Titel „Anvertraut und ausgeliefert – Sexuelle Gewalt in pädagogischen Institutionen“ Tabuisierungstendenzen pädagogischer Reflexionen. Der Beitrag beginnt mit einer sprachlogischen Erklärung zur Abgrenzung und Abklärung von Begrifflichkeiten (etwas die Abgrenzung sexueller Missbrauch – sexuelle Gewalt). Begründet wird die Abgrenzung von Kappeler mit der Bemühung um Schadensbegrenzung von der Institution für die Institution, was die Opfer aus dem Blickfeld geraten lässt. Er diskutiert daran anschließend drei Ebenen der Verantwortung für den Schutz von Minderjährigen vor sexueller Gewalt in pädagogischen Einrichtungen. Kappeler identifiziert diese als potentielle TäterInnen, die in pädagogischen Einrichtungen arbeiten, eine zweite Ebene als Ebene der Institution mit struktureller Verantwortung und als dritte Ebene die der behördlichen Verantwortung. Bezogen auf die dritte Ebene der Verantwortung konturiert Kappeler an einigen Beispielen das aus seiner Sicht (strukturelle) Versagen des Kinder- und Jugendschutzes.
Wolfgang Nieke thematisiert in seinem gleichnamigen Beitrag den pädagogischen Eros und bezieht damit – in seinen Worten- Stellung „wider die Instrumentalisierung pädagogischer Beziehungen“ (S. 21). Knapp skizziert er die historische Konnotation des Begriffs nach, die er im Wesentlichen in der Hauslehrerstellung (nicht als Anstellung, sondern als gesellschaftlicher Status aufgefasst) verankert sieht, um daraus ableitend zur Figur der pädagogischen Liebe überzugehen, der jedoch die Gefahr sexueller Gefahr inhärent ist, wie Nieke im Zitat von Nohl (S. 23) anführt. Nieke beschreibt schlussfolgernd, dass Leibkompetenz und Konzepte für Eigen- und Fremdkontrolle nötig sind, um eine pädagogische Beziehung so aufzubauen und auszugestalten, dass sie affektiv, aber ohne Machtmissbrauch wirksam ist.
Renate Berenike Schmidt beschreibt in ihrem gleichnamigen Beitrag sexualisierte und sexuelle Gewalt als Herausforderungen in schulischen Kontexten. Beginnend mit der Frage, ob und wenn ja welche Bedeutung Körperkontakten in der Schule heute zukommt, charakterisiert sie Sexualität und Schule als problembehaftete Liaison, der auch die KMK-Handlungsempfehlungen zur Missbrauchsprävention unterliegt. Eine weitere Herausforderung sieht Schmidt in der Verunsicherung pädagogischer Fachkräfte, wenn die Nähe-Distanz-Balance aktualisiert wird: nicht nur taktile Kommunikation wird beschwiegen, auch die Empathie, auf Nöte angemessen einzugehen und die implizite Heteronormativität solcher Institutionen wie die (unzureichend adressierte) Genderfrage: „Weit verbreitet ist ein Deutungsmuster, demzufolge Lehrerinnen qua Geschlecht (und auch Alter) von der diskutierten Problematik von Körperkontakten nicht so sehr tangiert wären … Offenbar werden Berührungen unter Frauen und Mädchen nicht so leicht als potenziell sexuell konnotiert angesehen, wohl auch weil die gesehenen Risiken primär in einem heterosexuellen Bezugsrahmen verortet werden…“ (S. 67).
Heinz Kindler fokussiert in seinem Beitrag auf Wirkungen, Nebenwirkungen und ungelöste Probleme bei der Prävention von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Nach einer kurzen Einleitung, in der Begrifflichkeiten definiert und abgegrenzt werden, konturiert Kindler die Prävention sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche und differenziert vier Herangehensweisen, die einander nicht ausschließen. Alle vier Ansätze werden sodann knapp skizziert und vorgestellt und von Kindler diskutiert. Der strukturellen Prävention sexueller Gewalt in pädagogischen Einrichtungen ist ein weiterer Abschnitt in seinem Beitrag gewidmet. Darin werden zu folgenden Fragen Literaturbezüge aufgeführt: Wie kommen Menschen dazu, in pädagogischen Einrichtungen sexuelle Übergriffe zu begehen? Welche Merkmale von Einrichtungen machen sexuelle Gewalt in der Einrichtung wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher? Im letzten Abschnitt wird (und damit eher der sekundären Prävention zugehörig, wenn dem Ansatz nach Caplan gefolgt wird) das Phänomen der Aufdeckung von (weiteren) Fällen nach Präventionsangeboten unter Fokussierung auf die Handlungsfähigkeit diskutiert.
Karin Böllert rekurriert in ihrem gleichnamigen Beitrag auf sexualisierte Gewalt – professionelle Herausforderungen. Nach einer kurzen einleitenden Hinführung zum Thema werden Leitlinien zu Prävention und Intervention dargestellt, die differenziert werden nach allgemeinen Präventionsmaßnahmen, spezifischen Präventionsmaßnahmen und der Abgrenzung zur Intervention. In einem weiteren Abschnitt fokussiert Böllert auf pädagogische Professionalität im Umgang mit sexualisierter Gewalt und nimmt Voraussetzungen wie Schlussfolgerungen in den Blick. Zu beiden zählt sie Wissen, Balance zwischen Nähe und Distanz, Orte der Reflexion und Haltungen. Ein perspektivischer Ausblick rundet den Beitrag ab.
Diskussion
In der Einleitung verweisen die HerausgeberInnen des Sammelbandes auf einen Beitrag, der sich im ersten Teil des Buches befinden sollte, es aber nicht tut. Stattdessen ist der Beitrag (von Sabine Andresen) in den 2. Teil des Bandes „gerutscht“ (das wiederum ist geraten) – aber sinnvoll ist die Einordnung eines Diskurses um Reformpädagogik eher im ersten Teil des Bandes zu verorten.
Im ersten Beitrag, Kappelers „Anvertraut und ausgeliefert…“ verweist Kappeler auf die u. U. gängige Praxis, Kinder den pädagogischen Institutionen (mitunter ohne Not) nicht nur anzuvertrauen, sondern sie damit gleichzeitig auch auszuliefern. Diese Praxis kritisiert Kappeler scharf: „Wenn die Eltern/Familien und die Jugendämter/Vormünder mit der Unterbringung eines Kindes in einer pädagogischen Einrichtung ihre Verantwortung für das Wohlergehen des Kindes an die Einrichtung abgeben, liefern sie das Kind aus, auch wenn sie in der Überzeugung handeln, es professionellen PädagogInnen anvertraut zu haben“ (S. 12). Die von ihm identifizierten drei Ebenen der Verantwortung lassen sich charakterisieren als personale, organisationale und behördlich-institutionelle Prävention. Gerade letztere sieht Kappeler in der Verantwortung für das erneut auftretende Versagen des Systems: „Zur Erosion der Heimaufsicht trägt gegenwärtig die bundesweit laufende Kommunalisierung der Trägeranerkennung, der Betriebserlaubnis und der Aufsicht und Beratung von Jugendhilfeeinrichtungen bei …In … Gremien wurden die wesentlichen Forderungen der ehemaligen Heimkinder und der ehemaligen InternatsschülerInnen abgelehnt. Die substanzielle gleichberechtigte Mitarbeit der OpfervertreterInnen wurde durch die Asymmetrie der Macht an diesen „Tischen“, die eben nicht „rund“ sondern „eckig“ waren, verhindert. Die sich einem Prozess der Aufklärung mit dem Ziel von Rehabilitation und Entschädigung anvertrauen wollten, sind wieder zu Ausgelieferten geworden, die gegen Resignation und Ohnmacht kämpfen müssen, um nicht wieder zu verstummen und in das Schweigen zurückzugehen, das sie mit einem so großen Einsatz endlich durchbrochen haben. Einen Beitrag zum „gesellschaftlichen Frieden“ haben die „Runden Tische“ nicht geleistet und es ist nicht erkennbar, dass die Kinder- und Jugendhilfe aus der Aufklärung des Kindern und Jugendlichen in ihren Einrichtungen zugefügten Leids für ihre heutige und zukünftige Praxis die notwendigen Konsequenzen gezogen hat“ (S. 18, Hervorhebungen im Original).
Wolfgang Nieke rekurriert in seinem Beitrag auf den pädagogischen Eros, dessen durchaus ambivalente Begriffsgeschichte sowie auf das bislang ungenutzte Potential. Er greift zudem in seinem Beitrag den Diskurs um die Verschränkung von Macht, Gewalt und Sexualität wieder auf, wenn er sexuellem Missbrauch als Machtmissbrauch kennzeichnet. Dem ist so nicht zuzustimmen: Macht kann in verschiedenen Settings missbraucht und benutzt werden, in keinem davon wäre Sexualität notwendig: Zwang zum Aufessen erbrochener Speisen ist aus der Literatur zur Kindesmisshandlung bekannt, kann klar als Machtmissbrauch definiert werden und beinhaltet in dieser Form keine sexuell konnotierte Einbeziehung. Dem kann entgegengehalten werden, dass viele von sexueller Gewalt Erfasste gerade die erlebte Ohnmacht als traumatisierend charakterisier(t)en. Was also im individuellen Erleben der sexuellen Gewalt in Rangfolgen (der Traumatisierung) eingeordnet wird, muss nicht zwangsläufig der analytischen Differenzierung entsprechen – wird es vermutlich auch nicht. Dennoch ist die analytische Differenzierung berechtigt und wird in Niekes Beitrag zu Unrecht unterschlagen. Das – ohne Zweifel existente – Machtungleichgewicht stellt nur einen Teil wirksamer Bedingungen dar, die in der Ausübung sexueller Gewalt kulminieren.
Renate Berenike Schmidt zeigt in ihrem Beitrag Herausforderungen in schulischen Kontexten in Bezug auf sexualisierte und sexuelle Gewalt auf. Sie kennzeichnet Sexualität und Schule als problembehaftete Liaison, rekurriert in ihrem Beitrag auf die AIDS-Kampagnen und macht deutlich, dass die Tendenz vieler Lehrkräfte (auf der praktischen wie PraktikerInnen-Ebene), Nähe und Körperkontakt zu vermeiden, nicht notwendigerweise den ihnen anvertrauten SchülerInnen gerecht wird. Unverständlich bleibt hier die Exklusion internationaler Literatur: der Beitrag „On teachers as risky subjects“ zeigte schon vor Jahren diese und weitere von Schmidt benannten Gefahrenstellen auf. Da hätte eine gründlichere Literaturrecherche sicher gut getan. Ebenfalls unverständlich bleibt die Exklusion der Moralpaniken – diese kennzeichnen den Diskurs letztlich in zuschärfender Weise.
Kindler diskutiert Wirkungen, Nebenwirkungen und ungelöste Probleme bei der Prävention sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Er differenziert in den Präventionsbemühungen 4 Ansätze, die auf unterschiedliche Strategien rekurrieren und diskutiert diese Ansätze. Neben einer kritischen Würdigung kommt er zu dem Schluss, „… dass qualitativ gute, d. h. ausführliche und zu aktiver Beteiligung einladende Präventionsangebote, die sexuellen Missbrauch bzw. sexuelle Gewalt thematisieren, zwar nicht alle formulierten Ziele erreichen, jedoch einige positive Wirkungen belegbar oder möglich erscheinen“ (S. 81). Grundsätzlich ist hier (nicht Kindler, jedoch diesem Strang der Präventionsarbeit) entgegenzuhalten, dass es fraglich erscheint, ob „einige positive Wirkungen“ erstens überhaupt ausreichen und zweitens und basaler, ob Präventionsarbeit (und/oder Präventionsanstrengungen) nicht generell vorrangig bzw. ausschließlich positive Wirkungen haben sollten. Die zugrundeliegende prinzipielle Frage, ob sexuelle Gewalt in diesem Strang (der Thematisierung sexueller Gewalt mit Kindern und Jugendlichen) überhaupt zuvorzukommen ist (also der wortgetreuen Bedeutung nach), bleibt freilich eher ungestellt und unbeantwortet. Im Bereich der strukturellen Prävention ist Kindler in der Aussage zuzustimmen: „Solange empirische Befunde fehlen, können Ansatzpunkt[e] für institutionelle Prävention nur als mehr oder weniger plausibel eingeschätzt werden, ihre relative Bedeutung ist aber kaum zu beurteilen“ (S. 89). Auffällig bleibt die Nichtbeachtung der analytischen Differenzierung von Präventionsbemühungen. Weder Caplans Modell noch das von Mrazek und Haggerty wird in Bezug gesetzt – Gründe dafür werden nicht geliefert.
Böllert zeigt in ihrem Beitrag professionelle Herausforderungen auf, die sie in Voraussetzungen und Schlussfolgerungen verankert. Dazu zählen Wissen, die Balance von Nähe und Distanz, Orte der Reflexion und Haltungen. Böllert kritisiert den bislang unzureichenden Stand der curricular verankerten Wissensvermittlung scharf. Neben dieser berechtigten Kritik ist ihr indes entgegenzuhalten, dass von einer (flächendeckenden) Nichtabdeckung nicht die Rede sein kann – es sind Ausbildungsgänge zu verzeichnen, die sich explizit diesem Thema widmen – die Hochschule Merseburg kann hier als Beispiel dienen.
Fazit
Ein lesens- wie wissenswerter Band für die angesprochenen Zielgruppen der ((HIER FEHLT OFFENBAR DER REST))
Rezension von
Dr. Miriam Damrow
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