Wolfgang Melzer, Dieter Hermann (Hrsg.): Handbuch Aggression, Gewalt und Kriminalität bei Kindern und Jugendlichen
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Klug, 20.04.2015
Wolfgang Melzer, Dieter Hermann (Hrsg.): Handbuch Aggression, Gewalt und Kriminalität bei Kindern und Jugendlichen. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2015. 637 Seiten. ISBN 978-3-8252-8580-7. D: 39,99 EUR, A: 41,20 EUR, CH: 52,00 sFr.
Thema
„Aggression, Gewalt und Kriminalität sind als historische und
gesellschaftliche Tatsachen sowie als Aspekte menschlichen Handelns
allgegenwärtig. Sie betreffen alle Lebensbereiche und alle
Lebensphasen.
In der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen
sind sie besonders bedeutsam, wenn Rollen ausgetestet werden und
Normverstöße vielfach noch nicht als gravierend gewertet werden
müssen, wohl aber eine nachhaltige Störung der Sozialbiografie der
Täter hervorbringen oder vor allem die Opfer nachhaltig schädigen
können.
Das Handbuch stellt den aktuellen Diskussions- und
Forschungsstand der Theorie und Praxis von Aggression, Gewalt und
Kriminalität mit Fokus auf die Kindheits- und Jugendphase dar.
Analyse, Prävention und Intervention werden gleichermaßen bedacht.
Die Schwerpunkte liegen jeweils in den Bereichen Familie, Schule,
Kita, Peers, Jugendhilfe und Justiz.
Der Komplexität der
angesprochenen Phänomene und ihrer Ursachen entspricht eine
interdisziplinäre Zusammenarbeit von Erziehungs- und
Sozialwissenschaften, Psychologie, Kriminologie und
Rechtswissenschaft.
Das Handbuch ist in interdisziplinärer
Zusammenarbeit von etwa 150 Fachleuten aus Erziehungs- und
Sozialwissenschaften, Psychologie, Kriminologie und
Rechtswissenschaft entstanden.“ (Verlagsinformationen)
Herausgeber
Wolfgang Melzer (lehrt Schulpädagogik in Dresden), Dieter Hermann (lehrt Soziologie in Heidelberg), Uwe Sandfuchs (lehrte Grundschulpädagogik in Dresden), Mechthild Schäfer (lehrt Psychologie in München), Wilfried Schubarth (lehrt Erziehungs- und Sozialisationstheorie in Potsdam), Peter Daschner (ehem. Direktor des Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung in Hamburg).
Hinweis auf weitere Rezension
Es liegt bereits eine Rezension zu diesem Titel vor.
Auswahl von vorgestellten Inhalten
Da in der erwähnten Rezension bereits ein sehr guter Überblick über den Inhalt der insgesamt 125 Artikel von fast 150 Autoren vermittelt wurde, werden an dieser Stelle nurmehr einige ausgewählte Artikel kurz charakterisiert:
Zu 1.: Grundlagen und Diskurse
Einen sehr schönen Einleitungsartikel, betitelt „Kriminalität“, bietet Dieter Hermann (S. 30-37) an. Er setzt sich mit Definitionen von zentralen Begriffen wie „abweichendes Verhalten“, „Norm“, „Devianz“, „Delinquenz“ auseinander und liefert, wie man sich das für einführende Artikel wünscht, einerseits brauchbare Definitionen, andererseits nötige Differenzierungen. Die Theorien zur Erklärung von Kriminalität und abweichendem Verhalten fassen wichtige wissenschaftliche Zugänge zum Thema auf wenigen Seiten zusammen. Das Thema „Kriminalitätsfurcht“ schließt den lesenswerten Artikel ab.
Bemerkenswert ist der Artikel „Kriminalität im Lebenslauf“ von Jürgen Thomas (S. 47-50). Er entfaltet die in der Kriminologie bekannte These, dass „Kriminalität im Lebenslauf nicht gleich verteilt ist. Kriminalität beginnt im frühen Erwachsenenalter, um dann im zunehmenden Alter langsam wieder rückläufig zu werden.“ (S. 47) Thomas befasst sich außerdem mit Personen, die „life-course persistent antisocial behavior“ zeigen, und liefert nötige Differenzierungen dieser Taxonomie.
Die interessante Fragestellung des Wirkungszusammenhangs zwischen „Medien und Gewalt“ behandelt Ralf Vollbrecht (S. 72-76). Sein ernüchterndes Ergebnis: „Die Wirkungsfrage wird wohl nicht abschließend beantwortet werden können.“ (S. 73) So viel steht jedenfalls fest: „In der Medienpädagogik wird heute überwiegend der Standpunkt vertreten, dass die in der Bevölkerung weitverbreiteten Wirkungsannahmen falsch sind. Man kann nicht von Medieninhalten (oder die Zahl der gesehenen Gewaltakte) auf Wirkungen schließen“ (S. 74). Es kommt vielmehr auf die Lebensgeschichte des Jugendlichen und die korrespondierende Form des Mediums an.
Dieter Hermann stellt die Frage nach dem Zusammenhang von „Werten und Gewalt“ (S. 76-80). Auch dieser Artikel des schon oben zitierten Autors ist begrifflich und inhaltlich gut strukturiert. Interessant ist insbesondere der Zusammenhang zwischen traditionellen Werten und Normakzeptanz. „Je ausgeprägter die Orientierung an traditionellen Werten ist, desto höher ist die Normakzeptanz“ (S. 78) und: „Je ausgeprägter die Orientierung an modernen materialistischen Werten ist, desto geringer die Normakzeptanz“ (S. 78). Dieser und auch der folgende Zusammenhang sind umso bemerkenswerter, als in der Öffentlichkeit manchmal der Eindruck erweckt wird, Religiosität sei per se Gewalt fördernd und eine (post-)moderne, postreligiös-materialistische Werteorientierung per se toleranter und sozial verträglicher. Vielmehr gilt: „Je wichtiger religiöse Werte für die Eltern sind, desto wichtiger sind sie auch für ihre Kinder, und je ausgeprägter die Gewaltbereitschaft bei den Eltern ist, desto größer ist sie auch bei den Kindern.“ (S. 79) Ein lesens- und bedenkenswerter Artikel!
In die Kategorie „lesenswerte Artikel“ gehört auch der von Dietrich Oberwittler „Situative und interaktive Bedingungen“ (S. 88-92), in dem es um die sozialräumliche Dimension und situative Bedingungen von Gewalt und Delinquenz geht. Da jedoch Jugendliche sehr unterschiedlich auf gleiche sozialräumliche Gegebenheiten reagieren, bleibt auch hier nur der für die Wissenschaft etwas betrübliche Schluss: „…, dass viele bisherige Erklärungsansätze der Jugenddelinquenz der Komplexität der Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Einflussfaktoren nicht gerecht geworden sind.“ (S. 91)
Mit „Sanktionen und Sanktionswirkungen“ beschäftigt sich Thomas Bliesener (S. 92-95). Er setzt sich mit Lehrmeinungen zur Wirksamkeit von Strafe auseinander und referiert die empirischen Befunde der Sanktionsforschung. Ein Kernsatz: „Die Wirksamkeit der Bestrafung ist abhängig von der Verfügbarkeit erwünschter Verhaltensalternativen, die die gleichen Motive bedienen.“ (S. 95) Dies sollte gerade für die Befürworter eines harten Strafvollzugs – sofern sie sich denn von empirischen Ergebnissen überhaupt beeindrucken lassen – Stoff zum Nachdenken geben.
Mit einem weiteren Vorurteil räumt Nicole Bögelein in ihrem Artikel „Junge Migranten als Täter und Opfer von Gewalt“ (S. 108-111) auf, nämlich der weit verbreiteten Meinung, Migranten seien per se gewalttätig. Es müssen, so das Ergebnis empirischer Untersuchungen, „strukturelle, sozioökonomische und familiäre Faktoren – v. a. elterliche Gewalt und emotionale Wärme – einbezogen werden.“ (S. 109) Insofern wenig überraschend, aber doch immer wieder wichtig zu betonen: „Der Einfluss der Herkunft auf Gewalttäterschaft reduziert sich umso mehr, je besser die Jugendlichen integriert waren.“ (ebd.)
Zu 2.: Aggression, Gewalt und Kriminalität als Gegenstand der Wissenschaften
In diesem Kapitel stellen einige Wissenschaften ihre disziplinäre Perspektive auf das Buchthema vor.
Zu 3.: Formen, Ursachen und Akteure
Es fällt schwer, hier einen Artikel auszuwählen, denn das, was in kurzen und gehaltvollen Artikeln über physische und psychische Gewalt (Helmut Kury), verbale und nonverbale Gewalt(Peter Sitzer) oder (hervorragend!) Alkohol- und Drogenkonsum (Alexander Rommel, Benjamin Kuntz und Thomas Lampert), um nur einige der Beiträge zu nennen, versammelt ist, ist für den Leser pures Gold.
Es sei ein Aspekt herausgegriffen, der gemeinhin nicht im Fokus der Öffentlichkeit steht: Jochen Wittenberg greift das Thema „Eigentumsdelikte“ (S. 194-197) auf, beschreibt auf den wenigen Seiten Hellfeld- und Dunkelfeldbefunde und fügt ein (leider sehr kurzes) Erklärungsmodell an, das auf Befunde anderer in diesem Band vorfindliche Autoren (z. B. Eifler 2009) verweist. Seine Feststellung, dass es gerade zur Erklärung der Alltagskriminalität (Ladendiebstahl) kaum theoretische Modelle (S. 194) gibt, sollte zu denken geben.
Ob in diesen Kontext die Themen „Autoaggression“ (S. 206-210) von Peter Subkowski und „Suizid“ (S. 210-214) von Heidrun Bründel hineinpassen, ist wahrscheinlich Ansichtssache, beides sind zwar Formen von Aggression, aber sie unterscheiden sich doch nicht nur in ihrer strafrechtlichen Relevanz deutlich von Themen wie „Sachbeschädigung“ (Katrin Höffler) oder „Fremdenfeindliche Gewalt“ (Peter Rieker).
Hervorzuheben ist noch der Beitrag von John Litau zum Thema „Jugendliches Risikoverhalten“ (S. 215-218). Er referiert neben der Phänomenologie auch Erklärungsansätze, die zwar nicht allzu neu sind, aber in die Diskussion um jugendliche Kriminalität unbedingt gehören.
Das Unterkapitel über Familien beginnt damit, dass Christin R. Müller und Angela Ittel „Häufigkeiten, Ursachen und Entwicklungstendenzen von Gewalt in Familien“ (S. 219-225) referieren. Sie unterscheiden psychologische, soziologische und integrative Ansätze und geben damit einen guten Einstieg in das Thema „Gewalt und Familie“.
Während das Thema „Elterliche Erziehung und ADHS“ von Urs Fuhrer auch bei weitester Auslegung des Buchthemas weder mit Aggression noch Kriminalität etwas zu tun haben, ist das von Dirk Baier und Christian Pfeiffer bearbeitete „Gewalterfahrungen und Gewaltverhalten“ (S. 238-243) mittendrin in diesem Thema. Auch hier sind die Erklärungsansätze (mit Ausnahme der angedeuteten hirnphysiologischen Zusammenhänge) nicht gerade revolutionär neu, müssen sie aber auch nicht sein. Sie beschreiben den Wissensstand recht gut.
Auch das Unterkapitel „Schule und Kita“ beginnt mit einem Beitrag über die Phänomenologie: „Häufigkeiten, Ursachen und Entwicklungstendenzen von Aggression und Gewalt in Kitas“ (S. 250-255) ist verfasst von Gabriele Haug-Schnabel und Joachim Bensel, „Häufigkeiten, Ursachen und Entwicklungstendenzen von Aggression und Gewalt in Schulen“ (S. 256-263) von Lars Oertel, Jessica Bilz und Wolfgang Melzer.
Ein vielleicht nicht unbedingt wissenschaftlich, aber immens wichtiger Beitrag ist geschrieben von Heidrun Bründel und betitelt mit „Sexueller Missbrauch in pädagogischen Einrichtungen“ (S. 271-274). Die Brisanz des Themas braucht man wohl kaum zu begründen, die Autorin hält sich auch nicht lange mit Phänomenologie oder Erklärungen auf, sondern zeigt konkrete praxisorientierte Wege gegen sexuellen Missbrauch in pädagogischen Einrichtungen auf. Für Leiter/innen solcher Einrichtungen: sehr lesenswert!
Das Unterkapitel Peers beginnt mit einem sehr relevanten Aspekt jugendlicher Kriminalität: „Jugendkulturen und Gewalt“ von Kurt Möller (S. 286-291). Nach der definitorischen Grundlegung, was Gewalt ist, wird „Jugendsubkultur“ definiert. In Subkulturen werden Gemeinsamkeiten „über relevante symbolische Kerne“ (S. 287) hergestellt, die an typischen Orten und zu typischen Zeiten interaktiv stabilisiert werden. Bemerkenswert sind die empirischen Befunde: „Auch Jugendliche sind aktiv Realität produzierende Subjekte (…). Infolgedessen ist Gewalt als eine Option der Verarbeitung von Erfahrung aufzufassen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie gewählt wird, ist dann hoch, wenn zentrale Lebensgestaltungsbedürfnisse, insbesondere Kontrolle der eigenen Lebensgeschicke, Integration, sinnliches Erleben positiver Valenz, Sinnerfahrung und -stiftung, durch sozial akzeptierte Befriedigungsformen als nicht oder nur unzureichend erfüllbar gesehen werden und zugleich gewaltförmige Deutungs- und Aktionsangebote im Umfeld vorhanden sind und dort als (relativ) ‚normal‘ gelten“ (S. 289).
Es folgt ein „Lieblingsthema“ des Buches: Cybermobbing, hier verfasst von Peter Sitzer (S. 295-298). Bereits Catherine Hormann und Manuel Stoiber haben sich einige Seiten zuvor mit dem gleichen Thema beschäftigt (S. 179-182). Definition und Prävalenz dieses Phänomens werden von Donna Cross und Amy Barnes im Kapitel „Prävention von Cybermobbing“ (S. 415-421) noch einmal behandelt.
Einen interessanten Aspekt beleuchtet Rainer Kilb: „Jugendgewalt im städtischen Raum“ (S. 306-313). Nach einer historischen Einführung folgen kriminologisch-stadtsoziologische Ansätze zur Erklärung räumlicher Ausprägung von Gewalt. Ein Ergebnis: „Ein direkter kausaler Zusammenhang zwischen räumlichen Strukturen und Gewaltkriminalität gilt in der kriminologisch-stadtsoziologischen Forschung als schwer nachweisbar, weil zwischen der morphologischen Struktur einerseits und gewalttätigem Handeln andererseits in einer komplexen Bezugskette gleichermaßen ortstypische Gelegenheiten, soziale Strukturen und soziale Kontrollmechanismen, die soziale Lage der Bewohner oder Besucher, deren biografische Ausgangssituationen, deren soziale Beziehungen untereinander und deren manchmal ganz spontane Interessen und Bedürfnisse eingelagert sind. Die ungleiche Verteilung von Bevölkerungsgruppen nach Einkommen, nach sozialem Status sowie nach Milieu- bzw. Schichtzugehörigkeit kann zur polarisierten Stadt führen.“ (S. 308)
Eine wahrscheinlich in der Forschung unterbelichtete Facette des Gewaltthemas (wenngleich vielleicht im Unterkapitel Jugendhilfe und Justiz nicht optimal platziert) wird von Steffen Zdun eingebracht: „Gewalterfahrungen Jugendlicher mit der Polizei“ (S. 324-327). Er stellt zunächst fest, dass es keine belastbaren Daten aus dem Dunkelfeld zur unverhältnismäßigen Polizeigewalt gibt. Als Ursachen für unverhältnismäßige Polizeigewalt macht er aus: „Neben individueller Veranlagung, von der eher in Einzelfällen auszugehen ist, dürfte unverhältnismäßige Polizeigewalt v. a. auf beruflich strukturellen Problemen basieren: speziell Überlastung, Stress und unzureichendes Konfliktmanagement, die Eskalationsdynamik fördern können.“ (S. 326)
Zu 4.: Prävention und Intervention
Eingeleitet wird das Unterkapitel von Andreas Beelmann mit dem Artikel „Konstruktion und Entwicklung von Interventionsmaßnahmen“ (S. 340-346). Sein Plädoyer für die Evidenzbasierung ist ebenso überzeugend dargestellt wie programmatisch anspruchsvoll. Seinem Entwicklungskonzept evidenzbasierter Interventionen wünscht man sich viele Leser aus Wissenschaft und Praxis. Dies ist eindeutig einer meiner Lieblingsartikel in diesem Buch.
Ebenfalls sehr lesenswert ist das, was Frits Goossens und Carolijn Ouwehand über „Die Halbwertzeit von Interventionen“ (S. 353-359) schreiben. Es gilt, ein in der Wirkungsforschung auftretendes Faktum zu bewerten: Das Olweus-Bullying-Prevention-Programm hatte messbare Erfolge (Olweus 2004), bis sechs Jahre später das gleiche Programm deutlich schlechter evaluiert wird. Der Titel des Aufsatzes zeigt auf, warum das so sein kann, und warum es uns nicht überraschen sollte. Und er zeigt, woran gut gemeinte wissenschaftliche Ansätze in der Praxis scheitern. Auch diesem Artikel wünscht man viele Leser, besonders solche in pädagogischen Berufen.
Daniela Runkel und Friedrich Lösel beginnen ein recht buntes Unterkapitel mit ihrem Beitrag: „Prävention in Familien – Modelle, Ansätze und Programme“ (S. 364-368). Sie stellen ausgewählte Konzepte und Programme vor und können dabei auf eigene umfangreiche und erfolgversprechende Forschung verweisen. Einige Seiten später stellt derselbe Autor, Friedrich Lösel, mit einer anderen Koautorin (Maren Weiss) „Elternprogramme“ vor (S. 376-380) vor. Für Lösel et al. ist die Evidenzbasierung selbstverständlich.
Gleiches hätte man sich auch in dem Artikel von Sabrina Hoops und Bernd Holthusen, betitelt „Kinder- und Jugendhilfe für Familien“ (S. 373-376), gewünscht, die Autoren beschränken sich aber auf programmatisch-normative Aspekte (Selbstverständnis der Kinder- und Jugendhilfe, Dienstleistungsverständnis, Wunsch- und Wahlrecht, Ressourcenblick auf Jugendliche, „ganzheitliche“ Praxis der Kinder- und Jugendhilfe im Umgang mit Aggression, Bilanz und aktuelle Herausforderungen). Etwas mehr Methodik und weniger Prinzipielles hätte man sich erhoffen dürfen.
Das weitaus größte Unterkapitel des Buches wird eingeleitet von Jacqueline Kempfer mit dem Artikel „Präventions- und Interventionsprogramme in Kita und Vorschule“ (S. 391-397). Sie referiert erfolgreiche Programme. Die gute Nachricht auch hier: „Präventionsprogramme in Kindergarten und Vorschule (können) einen sinnvollen Beitrag zur Gewalt und Kriminalprävention leisten“ (S. 396).
Wer die folgenden Artikel nacheinander liest, sei es „Prävention und Intervention bei Gewalt an Schulen“ von Christian Böhm und Peer Kaeding (S. 404-410), die ein „Integriertes Gesamtkonzept für Schulstandorte“ in Bezug auf Gewaltprävention fordern, sei es „Internationale Perspektive am Beispiel des Mehrebenenprogramms KiVa“ von Manuel Stoiber, Mechthild Schäfer und Tamara Bramböck (S. 411-415), wo es um Mobbing geht, sei es Peer Kaedings „Von der Peer-Mediation zum Konfliktmanagement an Schulen“ (S. 426-430), fragt sich, wie die Schule das alles bewältigen soll, was hier an Konzeptideen an sie herangetragen wird. Man ist geneigt, sich eine Diskussion mancher universitärer Vorstellungen mit den oben genannten Frits Goossens und Carolijn Ouwehand und deren Theorie-Praxis-Vermittlungstheorem zu wünschen.
Auch diesem Kapitel hätte eine thematische Konzentration gutgetan, denn eine Reihe der Artikel ist, wiewohl durchaus nicht uninteressant, nur mit Mühe unter dem Titel des Buches unterzubringen. Dies gilt ausdrücklich nicht für die folgenden:
Mit der „Prävention von (rechts-)extremistischer Gewalt“ setzt sich Andreas Beelmann (S. 467-473) auseinander. Er sieht den Grund für eine soziale Identität in rechtsradikalen Milieus in Entwicklungsverläufen, wenn vielfältige Negativfaktoren zusammenwirken: „Der ausgeprägte Wunsch Jugendlicher nach Akzeptanz und Anerkennung bei Gleichaltrigen in Verbindung mit geringem Zugang zu normativen Gruppen scheinen daher wichtige Bestandteile für den Eintritt in rechtsextreme Gruppierungen zu sein.“ (S. 469) Als Präventionsmaßnahme gegen Vorurteile zugunsten der Förderung von Toleranz schlägt Beelmann eine integrative Beschulung, kooperatives Lernen und spezielle Kontaktprogramme vor. Ein spezielles Programm genannt PARTS (Programm zur Förderung von Akzeptanz, Respekt Toleranz und sozialer Kompetenz) umfasst 15 Sitzungen, die über acht Wochen im Klassenverband durchgeführt werden.
Barbara Krahé referiert über „Programme zur Konsumreduktion und kritischen Rezeption von Mediengewalt“ (S. 474-477). Ihr geht es um Prävention von medialen Gewaltdarstellungen und gewalttätige Computerspiele. Sie schlägt ein fokussiertes Training vor, das darauf abzielt, den Konsum gewalttätiger Medieninhalte zu reduzieren und die kritische Auseinandersetzung mit diesen Inhalten zu fördern, um so den Einfluss auf aggressionsbegünstigende Einstellungen und aggressives Verhalten zu reduzieren (S. 475).
„Schulsozialarbeit und Ganztagsschule“ beschreiben Karsten Speck und Thomas Olk (S. 491-494). Ihr Befund: „Die internationale und nationale Forschung weist Erfolge der Schulsozialarbeit bei der Prävention und Intervention bei Aggression, Gewalt und Kriminalität nach. Berichtet wird in Studien in Deutschland bspw. von einer Gewaltabnahme, einem Rückgang von Aggression und Dachbeschädigungen sowie einer Verringerung der Fehlzeiten und Unterrichtsausschlüssen durch Schulsozialarbeit“ (S. 492).
Der Artikel „Prävention von Delinquenz in der Handlungsperspektive der Kinder- und Jugendhilfe“ (S. 495-502) von Bernd Holthusen und Sabrina Hoops ist einer der wenigen, der sich explizit mit Möglichkeiten der Sozialen Arbeit hätte auseinandersetzen können, leider kommt er über das Referieren von normativen Grundprinzipien der Kinder- und Jugendhilfe, gesetzlichem Auftrag (SGB VIII), nicht näher ausgeführten Angeboten der „Regelpraxis“ und einigen „Herausforderungen“ nicht hinaus, was angesichts der Fülle der Literatur in der Kinder- und Jugendhilfe bedauerlich ist.
Einen ganz anderen Weg geht Ralf Bongartz. Lt. Autorenverzeichnis ist er Verwaltungsfachwirt und tätig in einem Institut für Konfliktlösung in Unkel (das leider nicht im Internet zu finden ist). In seinem Artikel „Intervention in konkreten Gewaltsituationen“ (S. 502-506) gibt er ganz konkrete Ratschläge für Konflikte in der U-Bahn. Diese passen zwar nicht ganz in ein wissenschaftliches Werk, sind aber trotzdem sehr empfehlenswert. Jedenfalls sind sie dazu geeignet, über die eigenen Verhaltensmuster im Konfliktfall intensiv nachzudenken.
Mit einem ebenfalls interessanten Aspekt der Prävention beschäftigt sich Helmolt Rademacher und sein Thema: „Mediationsverfahren und Täter-Opfer-Ausgleich“ (S. 506-510). Es wird deutlich, wie sehr die Möglichkeiten der in anderen Ländern mit Erfolg praktizierten „restorative justice“ bei uns unterschätzt werden.
Zwei juristische Artikel von zwei ausgewiesenen und kompetenten Juristen, Franz Streng mit dem Artikel „Rechtliche Rahmenbedingungen“ (S. 535-538) und „Interventionsmöglichkeiten nach dem Jugendstrafrecht“ (S. 538-541) von Dieter Dölling, sind sich sehr ähnlich, wozu die beiden Experten nichts können, was aber angesichts der Kompetenzen beider schade ist.
Ein weiterer kriminologischer Experte, Wolfgang Heinz, kann aus dem reichen Wissensschatz seines „Konstanzer Inventars der Sanktionsforschung“ schöpfen, eine schier unversiegbare Quelle von über Jahrzehnten zusammengetragenen Daten. Hier referiert er zur „Praxis des Jugendstrafrechts“ (S. 542-547). Seine Forschungsergebnisse lassen kaum einen anderen Schluss zu als den, den er zieht: Das Jugendstrafrecht ist kein „Kuschelstrafrecht“, ist. z. T. härter als das Erwachsenenstrafrecht.
Ebenso überzeugend ist der Beitrag von Bernd-Dieter Meier, den er „Die präventive Wirkung jugendstrafrechtlicher Maßnahmen“ (S. 547-550) überschreibt. Er untersucht evidenzgestützt die Wirksamkeit von Maßnahmen, die im Zusammenhang mit Gewaltkriminalität von Jugendlichen eingesetzt werden. Sein ernüchterndes Fazit: „Die Ergebnisse der dargestellten Maßnahmen und der dazu durchgeführten Untersuchungen (…) geben kaum zu übergroßem Optimismus Anlass. Die Auswirkungen auf die Rückfallrate sind gering, sofern sich überhaupt Auswirkungen nachweisen lassen.“ (S. 549)
Schließlich sei hier noch Denis Köhler mit seinem Artikel „Forensische Begutachtung von Kindern und Jugendlichen“ (S. 554-558) erwähnt. Er berührt ein Problem, das in den letzten Jahren auch im Zusammenhang mit Kindesschutz-Gutachten immer wieder aktuell wurde. Welchen Qualitätskriterien müssen Gutachten genügen? Köhler referiert den Aufbau und Struktur von schriftlichen Stellungnahmen, Grundsätze der forensisch-psychologischen Diagnostik und die Methodik sowie Probleme und Qualitätsanforderungen an forensisch-psychologische Gutachten.
Zu 5.: Bilanz, Reflexionen und Perspektiven
In seinem dritten Beitrag fasst Andreas Beelmann, diesmal mit Koautorin Judith Hercher, Aspekte der „Wirksamkeit und Qualitätskriterien von Prävention und Intervention“ (S. 573-578) zusammen. Das erfreuliche Fazit: „Die grundsätzlichen Potentiale einer entwicklungsorientierten Perspektive in der Gewalt- und Kriminalprävention werden heute nicht mehr ernsthaft in Zweifel gezogen.“ (S. 573) Beelmann kann auf eigene Metastudien verweisen, die aber auch zeigen, welch große Variationsbreite bei der Erfolgsmessung verschiedener Programme zu verzeichnen ist. Insbesondere „Programme (, die) auf Veränderung bestätigter Risiko- und Schutzfaktoren und auf ätiologische Theorien in der Entwicklung dissozialer Verhaltensprobleme ausgerichtet sind“ (S. 575), sind als wirksam im Sinne einer Kriminalprävention zu bezeichnen. Auch dieser Beelmann-Beitrag ist informativ und sehr lesenswert.
Richtungsweisend ist auch der letzte Artikel im Sammelband, den Heinz Schöch mit dem Titel „Konsequenzen für polizeiliche und strafrechtliche Reaktionen auf Jugendkriminalität“ (S. 614-620) verfasst hat. Er widmet sich u. a. dem Thema der Intensivstraftäter: „Etwa 5 bis 10 % der jungen Rechtsbrecher können als Intensivtäter betrachtet werden, die mehrfach pro Jahr registriert werden und auf die ca. 50 % aller Jugendstrafen entfallen (Walter & Neubacher 2011 Rn. 461, 485f). Sie fallen oft schon im Kindesalter durch Straftaten auf und setzen zu einem beachtlichen Anteil ihrer kriminellen Karriere auch nach dem Erreichen des 30. Lebensjahres fort. Diesen unterschiedlichen Gegebenheiten muss die polizeiliche und strafrechtliche Reaktion auf Jugenddelinquenz Rechnung tragen.“ (S. 615) Einige der aus seiner Sicht nötigen Reaktionen zeigt Schöch nachvollziehbar auf.
Diskussion
Es ist fast unmöglich, einem Herausgeberband mit 125 Artikeln und fast 150 Autoren gerecht zu werden. Es bleibt zunächst, den Herausgebern Respekt für das Mammutwerk zu zollen. Das Unterfangen, in kurzen Artikeln von ausgewiesenen Experten das ganze Kaleidoskop des Themas Jugendkriminalität aufleuchten zu lassen, ist ebenso ambitioniert wie verdienstvoll. Diese Vorgehensweise beinhaltet die große Chance, einerseits viele Facetten des Themas zu beleuchten, andererseits dem Leser bei Interesse durch die Fülle von Literaturhinweisen eine Weiterarbeit zu ermöglichen. Es ist den Herausgebern gelungen, Autoren zu verpflichten, die z. T. die besten ihres Faches sind. Die erkennbare Vorgabe, möglichst evidenzbasierte Beiträge zu verfassen, wurde von den meisten Autoren durchgehalten, bisweilen ist sie wohl von der Intention des Autors/der Autorin auch nicht sinnvoll gewesen (z. B. bei ausgesprochen praxisorientierten Artikeln). Prinzipiell haben die Vorgaben der Herausgeber an die Autoren dem Buch sehr gutgetan.
Dagegen wirkt die Kritik vielleicht ein wenig „beckmesserisch“, sie soll jedoch keinesfalls das große Verdienst der Herausgeber infrage stellen:
- Da ist zum einen die schon angesprochene Redundanz mancher Beiträge, manche Artikel haben erkennbar keinen Bezug zum Generalthema, das zweite Kapitel passt von der Systematik her wenig zum Rest und steht quer zu den fachlich spezialisierten Ansätzen.
- Größter Kritikpunkt ist zum anderen ein fachlich-professioneller: Der Schwerpunkt der Beiträge liegt auf dem Thema (Vor-)Schule, was einerseits aus der fachlichen Herkunft der Herausgeber verständlich sein mag, andererseits die fachliche Breite der Interventionsmöglichkeiten doch sehr verkürzt, weil die Soziale Arbeit in diesem Buch als Disziplin kaum, als Profession nur sehr rudimentär angefragt ist. Die wenigen einschlägig mit sozialarbeiterischen Konzepten befassten Beiträge orientieren sich stark an normativen Prinzipien und gesetzlichen Rahmenbedingungen und lassen kaum die methodischen Qualitäten Sozialer Arbeit erkennen. Der Artikel zur Schulsozialarbeit und Rainer Kilbs kriminologisch-stadtsoziologische Untersuchung sind leider die Schwalbe, die noch keinen Sommer macht.
- Dass in einem Handbuch zum Thema Jugendgewalt die Bewährungshilfe und die Sozialarbeit in der JVA gar nicht und die Jugendgerichtshilfe und Jugendhilfe kaum thematisiert werden, wird der Bedeutung dieser Professionen nicht gerecht, verkennt v. a. aber die Potenziale, die dort zu finden sind, wo Sozialarbeiter/innen mehr und intensiver mit (gefährdeten) Jugendlichen zu tun haben als Lehrer/innen in der Schule. Insofern wäre zu überlegen, ob die Schule wirklich der Ort für die Erfüllung der vielen Ansprüche sein kann, die in dem Band an sie herangetragen werden, oder ob nicht Kooperation und interdisziplinäre Zusammenarbeit das Gebot der Stunde sind. Dies wird in vielen Artikeln angemahnt, aber dazu gehört eben auch, relevante Akteure zur Kenntnis zu nehmen.
Fazit
Trotz der genannten Kritik bleibt es dabei: Es ist ein Gewinn, dieses Buch zu lesen, und mit der o. g. Einschränkung ist es auch Studierenden und Lehrenden der Sozialen Arbeit zu empfehlen. Sie finden dort Koryphäen der Bezugswissenschaften (Kriminologie, Recht, Psychologie, Soziologie), wenn auch nicht ihr eigenes Fach.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Klug
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Fakultät Soziale Arbeit
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Zitiervorschlag
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(Bad Heilbrunn) 2015.
ISBN 978-3-8252-8580-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18355.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.
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